Seit Beginn der russischen Invasion sind 2 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Die meisten von ihnen in die direkten Nachbarländer, aber auch in Deutschland kommen immer mehr Menschen an. In Zügen, Bussen, Flugzeugen und Privatwagen schaffen es die Menschen aus den Kriegsgebieten und werden von zahlreichen Helfer:innen erwartet. Gerade die grenznahen Regionen bereiten sich auf Neuankömmlinge vor: Die Hilfsbereitschaft ist enorm und erinnert an 2015.
Mein Kollege Christian Gesellmann arbeitet seit einiger Zeit bei dem Krautreporter-Projekt „Der Bus“ in Cottbus mit, das ihr hier kostenlos abonnieren könnt. Er hat erlebt, wie groß die Hilfsbereitschaft vor Ort ist und wie die Stadt und freiwillige Helfer:innen zusammenarbeiten, um einen möglichst reibungslosen Ablauf zu ermöglichen. Christians Text zeigt eindrücklich, dass Engagement nicht nur in Berlin stattfindet und warum selbst ein Becher Schmand manchmal ein Zeichen von Nächstenliebe sein kann. Ich „leihe“ Christian heute meinen Newsletter für seinen Text.
Vorfreude wäre das falsche Wort, um die Stimmung am Bahnsteig zu beschreiben an diesem sonnigen Samstagvormittag in Cottbus. Aber es ist so etwas Ähnliches. Etwa 100 Menschen warten hier, viele junge Gesichter, gelbe Westen, orangefarbene Westen, strahlende Augen über den Masken. „Alle Helfenden mal kurz herhören“, ruft ein Mann mit Bart und langen Haaren. Der Zug, erklärt er, kommt auf Gleis 10 an, er bitte alle Anwesenden auf die linke Seite des Bahnsteigs zu gehen, „damit die Leute Platz zum Aussteigen haben. „Die Bundespolizisten, die Journalist:innen, die Übersetzer:innen, die Sanitäter:innen, die Bahnangestellten, die Notfallseelsorgerinnen, der alte Mann mit dem Einkaufswagen voller Schokowaffeln und Seife, alle wuseln sie nach links, ein schöner Trick, „die wollen uns wohl auf Trab halten“, scherzt eine Helferin an der Raucherinsel, „wer in die Zeitung kommt, muss einen Kasten Bier ausgeben“, feixt ein Sanitäter.
Viele hier sind schon seit 7 Uhr da, und gestern Abend waren sie auch schon da, der Koffeinspiegel ist hoch, die Temperaturen sind niedrig. Die, auf die wir hier alle warten, sind seit Tagen auf der Flucht, verzweifelt, erschöpft, sie kommen aus einem Grauen, das sich niemand vorstellen kann, das wir aber alle quasi live auf unseren Smartphones verfolgen konnten in den letzten Tagen: die Bilder der zerstörten Häuser, die Bomben, Bunker, Panzer, die Toten. Zu diesem Zeitpunkt sind etwa 1,3 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, zwei Tage später werden es schon 1,7 Millionen gewesen sein, rund 50.000 davon sind laut Innenministerium nach Deutschland gekommen. Es soll enden, das Flüchten, wenigstens kurz, hier in Cottbus. Aber die Anzeige am Gleis 10 sagt: DS 5942 aus Przemysl Glowny: 150 Minuten Verspätung.
Das Wichtigste für die Geflüchteten: zur Ruhe kommen
Im Gedränge steht auch der Oberbürgermeister, Holger Kelch, in einer Feuerwehrjacke. Er fragt den Einsatzleiter der Bundespolizei wie der Stand der Dinge ist. Bestens vorbereitet sind wir, sagt dieser. Der erste Sonderzug mit Flüchtlingen war schon gestern Abend angekommen. Es stiegen jedoch nur 18 Passagiere aus, der Rest fuhr weiter nach Berlin. Eine gute Generalprobe sei das gewesen, für heute habe man hier und da noch etwas angepasst.
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So steigen die Beamten zum Beispiel diesmal nicht in den Zug ein, um Papiere zu kontrollieren, sondern lassen die Menschen erstmal aussteigen. „Das Wichtigste“, sagt der Bundespolizist, „ist, dass die Menschen erstmal ankommen, dass sie zur Ruhe kommen können. „Der OB nickt. Bei der Pressekonferenz am Tag zuvor hatte er erklärt, „im Nebel zu stochern“ beim Thema, wie viele kommen, oder wann, oder was diese dann brauchen. „Wir werden Lernende sein“, sagte der OB, grauer Mantel, grauer Schal, konzentriert, kompetent. Zwei Stunden, bevor der Sonderzug ankommt, erfahren es die Verantwortlichen vor Ort direkt von der Deutschen Bahn und aktivieren dann die Helfer. „Wir werden uns melden“, sagt der OB.
Die Pressekonferenz fand im „Prima Wetter“ statt, eigentlich ein Nachtclub, der in einem ehemaligen Güterbahnhof liegt. Dort haben ehrenamtliche Helfer ein Ankunftszentrum errichtet, Sandwiches liegen auf dem Tresen, Polster auf den Stühlen, eine Wickelecke ist eingerichtet, Spielzeug liegt auf Tischen, eine Auswahl gespendeter Klamotten hängt auf Kleiderbügeln, das Licht ist gedämpft: eine liebevolle Höhle für die, die am meisten Schutz brauchen werden.
Selbst an eingelegte Gurken haben die Helfer:innen gedacht
Gegenüber hat das Rote Kreuz ein weißes Zelt aufgebaut, hier sollen schnell sehr viele Menschen versorgt werden können, denn bis zu 500 Flüchtende können in den Sonderzügen sein, die nun zweimal täglich in Cottbus Endstation haben. Allein an diesem Wochenende, rechnet der OB vor, könnten 3500 Ukrainer ankommen. Proviantbeutel stehen auf Biertischen bereit, in den Wärmebecken schwimmt schon die Gemüsesuppe, für die der Koch extra noch Schmand besorgt hat, weil die Ukrainer ihre Suppe so am liebsten essen. Selbst an die eingelegten Gurken haben sie gedacht.
So furchteinflößend die Situation in der Ukraine ist, so überwältigend ist das, was die Cottbuser seit Ausbruch des Krieges gerockt haben: 206 Helfer und 19 Übersetzer haben sich registrieren lassen, ein Netzwerk an Fahrern für Hilfstransporte wurde aufgebaut, 80 Personen haben Schlafplätze in ihren Wohnungen angeboten, Hunderte Initiativen – von Privatpersonen über das Klinikum, von Sportartikelgeschäften über Seniorenheime, die Freunde der Parkeisenbahn, Handelskammer, Malteser, Johanniter, Caritas, Junge Union, Lokalmedien, Lehrerinnen…es ist kaum möglich alles zu erfassen – haben Spenden gesammelt und in die Kriegsgebiete gebracht, nahmen auf dem Rückweg Flüchtende mit und gingen am nächsten Tag wieder auf Arbeit.
Ehrenamtliche haben geholfen, eine Notunterkunft mit 1000 Feldbetten in den Messehallen aufzubauen, weitere Liegen sind schon aus dem Katastrophenschutzzentrallager in Beeskow geliefert worden, und während wir an Gleis 10 noch auf den Zug warten, gehen Cottbuser Mütter schon mit ukrainischen Kindern in den Tierpark, „damit die auf andere Gedanken kommen“, wird eine Frau am Sonntag bei der Ukraine-Demo am Altmarkt sagen; probt gleichzeitig das Ballett des Staatstheaters öffentlich vor vollem Haus, um Spenden zu sammeln, „eine Herzensangelegenheit meines Ensembles“, wie der Intendant dem Publikum erklärte.
Wir sind so gut vorbereitet, wie es nur irgendwie geht
„Der Zug ist jetzt in Forst losgefahren“, sagt ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn im Vorbeilaufen. „Vor sechs Minuten ist er über die Grenze gekommen“, bestätigt ein Bundespolizist. Die weitere Verspätung bedeutet, dass der Zug nun doch an Gleis 9 ankommt. Der schöne Trick von vorhin wiederholt sich, wie auf Knopfdruck wuseln die bunten Wartenden auf die rechte Seite des Bahnsteigs. „Ich bin sehr froh und überrascht, wie positiv hier in der Stadt alles zusammenrückt, das hätte ich mir in der Form für 2015/16 auch so gewünscht“, hatte der OB gestern gesagt. Warum läuft das eigentlich so viel besser diesmal?
Ein Grund: Die Hilfsbereitschaft war auch damals groß in der Bevölkerung. Aber die zivilen Netzwerke, die sich während der letzten Flüchtlingskrise erst bilden mussten, sind diesmal schon startklar, man konnte auf Erfahrungen, persönliche Kontakte und Kommunikationswege zurückgreifen, die es vor einigen Jahren schlichtweg nicht gab. Ein weiterer Grund: In der letzten Krise wirkte es teilweise so, als liefen das Krisenmanagement der öffentlichen Hand und die Hilfsbereitschaft der Bürger nebeneinander her, wenn sie nicht gar konkurrierten. Diesmal wirkt alles wie aus einer Hand, die einzelnen Akteure kennen ihre Grenzen und Kompetenzen. Diesmal sind es die Bürger:innen, die die Initiative ergreifen und sich ihrem Rathaus als Unterstützung anbieten. Und es ist der OB, der nun bittet: „Lassen Sie uns diese Hilfe koordinieren.“ Das, was man hier am Bahnsteig beinah als Vorfreude wahrnehmen könnte, ist ein gemeinsames Gefühl: Wir sind so gut vorbereitet, wie es nur irgendwie geht.
Als der Zug endlich einfährt und die Türen sich öffnen, dehnt sich plötzlich die Zeit. Das Schlimmste, was Menschen einander antun können und das Schönste, was Menschen füreinander tun können – beide Erfahrungswelten gehen auf Bahnsteig 9 zaghaft aufeinander zu.
Es ist nicht alles besser in Berlin
Es folgen erste Gesten: Hier müsst ihr lang. Ausgestreckte Hände: Gib mir dein Gepäck. Dolmetscher, die auf die Schilder vor ihrer Brust tippen: Ich spreche deine Sprache. Keine halbe Stunde später spielen kleine Flüchtlinge in gelben Westen Fangen, buddelt eine ukrainische Katze ihr erstes Klo in den Cottbuser Boden, werden nervige Reporter weggeschickt, Suppen, Tee, Toilettenartikel und immer wieder auch Trost ausgeteilt, die nächsten Schritte geplant.
Wer einen biometrischen Pass besitzt, kann sich praktisch sofort wieder auf den Weg machen, und viele der Geflüchteten tun dies auch. Sie wollen zu Verwandten oder Bekannten. Die Stadt hat Reisebusse organisiert, die sie nach Berlin, Leipzig, Frankfurt oder Hamburg fahren können, das zuständige Bundesamt hat die Busfahrer angeblich sogar extra von den Lenkzeiten befreit. Wer mit dem Zug woanders hin weiterreisen will, kann sich sofort kostenlose Tickets bei der Bahn holen. Einige werden auch abgeholt. Es wird auch viel geweint. Diese 201 Menschen haben Schreckliches erlebt, und man sieht es vielen auch an. „Bumm Bumm Bumm, Katastrofe“, sagt einer der wenigen Männer, die mit dem Zug kamen, mit einem blauen Plastikbeutel in der Hand. Ja, wir haben es gesehen: Kharkiv, Mariupol, Odessa, Kyjiw, Irpin, Cherson, Saporischschja - Katastrofe. Sie ist mit dem Regionalzug hierhergekommen. Mehr braucht man nicht dazu zu sagen, wie nah dieser Krieg ist.
Diesmal hat die deutsche Politik an die Geflüchteten als Menschen gedacht
„Die Leute denken, es ist alles besser in Berlin“, sagt eine Übersetzerin im DRK-Zelt, „aber das stimmt nicht. In den kleinen Städten ist es besser organisiert.„ Mit einem Mikrofon richtet sie sich an die Geflüchteten: „In Berlin ist Chaos. Wenn ihr erstmal ausruhen wollt, dann bleibt hier. Ihr könnt auch in 24 oder 48 Stunden weiterfahren.“ So manche Mutter atmet aus und wird bleiben.
Im Zelt sitzt eine gehbehinderte alte Frau, mit einem noch älteren Pass. Sie müsste eigentlich in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Eisenhüttenstadt zur Registrierung, auch dafür steht ein extra Bus bereit, aber nach einigen Telefonaten am Biertisch im DRK-Zelt bringt ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde die alte Dame zu einem anderen Bus: er fährt nach Forst, dort werde sie in einer Seniorenwohnung „mit Küche und Bad“, wie er ihrer Verwandtschaft am Telefon erklärt, erwartet. Zwei junge Frauen, die sich spontan entschieden haben, zu bleiben, bekommen ihr Gepäck in einen Bus nach Spremberg getragen. Die Plätze in Cottbus sollen so gut wie möglich frei gehalten werden, für das, was noch kommt. Migrationsexperten rechnen mittlerweile mit bis zu zehn Millionen Flüchtlingen, die die Ukraine verlassen. Bisher kommen die meisten in Polen unter, aber das wird nicht so bleiben. „Diesmal haben wir auch Hilfsangebote der anderen Landkreise bekommen, und die Kommunikation mit den Landesbehörden klappt besser“, hatte der OB am Tag zuvor angekündigt.
Es gibt noch einen Grund, der wichtigste vielleicht, warum in kaum einer Stunde der Kreischef des DRK im Lokalfernsehen sagen können wird, dass alles ganz hervorragend gelaufen ist: Die deutsche Politik hat an die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, von vornherein als Menschen gedacht. Menschen, die bleiben und arbeiten dürfen, die sich frei bewegen und kostenlos reisen dürfen. Menschen, die ihr Zuhause und noch viel mehr verloren haben, aber nicht ihre Würde. So viel gerade menschlich und organisatorisch richtig gemacht wird, soviel konnte nie gelingen, als Flüchtlinge zu uns kamen, die die deutsche Politik zu Kontingenten von Personen umdefiniert hat, die registriert, transportiert, gedemütigt und eingesperrt werden müssen.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert