Portrait-Foto von Hendrik Bolz.

© Greta Baumann

Politik und Macht

Interview: „Ostdeutsche Identität ist jetzt schon Popkultur“

Als Kind hielt Hendrik Bolz von Zugezogen Maskulin Nazis für die „coolen Typen“, hatte selbst aber keinen Bock auf den „politischen Scheiß“. Heute denkt der Rapper darüber ganz anders.

Profilbild von Interview von Tarek Barkouni

Hendrik Bolz ist 1988 geboren und gehört damit zur Generation der Nachwendekinder. Jenen, die kurz vor oder nach der Wende geboren sind und die als Gesamtdeutsche aufwachsen sollten – eigentlich. Doch Bolz erlebte in einem Stralsunder Plattenbauviertel die unschönen Nachwirkungen der Wiedervereinigung: Gewalt und rechtsfreie Räume.
Heute, 30 Jahre später, ist er eine Hälfte des Rap-Duos Zugezogen Maskulin. Sein Künstlername: Testo. Er spielte sogar schon vor Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. In seinen Songs und seinem neuen Buch „Nullerjahre“ beschreibt Bolz eine Jugend in Ostdeutschland, die in vielen Punkten anders ist als die Jugend jener, die den Fall der Mauer als Teenager miterlebt haben. Aber wo genau liegt der Unterschied? Und wie unterscheiden sich seine Erlebnisse und die seines Bandkollegen Moritz, einem Westdeutschen?


Was unterscheidet dich von den Jugendlichen, die wie du im Osten groß geworden sind, aber etwa 16 waren, als die Mauer fiel?

Das ist ja die Generation, die noch in der DDR sozialisiert wurde. Die waren noch Pioniere, die wurden von der Wende selbst überrascht und für viele von denen wurde Neonazi zu sein in den Neunzigern eine richtige Mode. Ich war da noch ein kleines Kind und habe alles, was um mich herum passiert ist, als normal und beständig wahrgenommen. Also so, als ob alles schon immer so war, wie es ist und auch immer so bleiben wird. Diese Generation mit ihren eigenen Themen der Älteren hat dann wiederum uns beeinflusst.

Wie das?

Ich dachte immer, es ist normal, dass der große Bruder von dem einen oder der Cousin von der anderen rechts ist. Ein Neonazi. Das waren die coolen Typen. Deren Vokabular und Weltsicht haben wir teilweise übernommen: das Gewaltbereite, das Sozialdarwinistische, das Wissen, Dinge mit Gewalt regeln zu können, ohne, dass jemand intervenieren könnte.

Gleichzeitig war die Jugend der Nullerjahre viel weniger politisch als die in der direkten Zeit nach dem Mauerfall. Wir hatten größtenteils keinen Bock auf diesen politischen Scheiß und haben einfach nicht mehr darüber geredet, was jetzt links oder rechts ist. Nach den Neunzigern gab es nur noch Enttäuschung und eine Politikverdrossenheit über diesen Niedergang, der einen – entgegen der Versprechen der Bundesrepublik – in den Nullerjahren umgeben hat.

Hendrik Bolz ist 1988 geboren und gehört damit zur Generation der Nachwendekinder. Jenen, die kurz vor oder nach der Wende geboren sind und die als Gesamtdeutsche aufwachsen sollten – eigentlich. Doch Bolz erlebte in einem Stralsunder Plattenbauviertel die unschönen Nachwirkungen.

Wie hat sich die Politikverdrossenheit in deinem Leben gezeigt?

Ich habe viel verdrängt und mich an den Erinnerungen festgehalten, die schön waren. Mecklenburg-Vorpommern, das Urlaubsland: jeden Tag zum Strand fahren, schöne Altstädte, die tolle Landschaft und was weiß ich noch alles. Die unangenehmen Erinnerungen habe ich einfach weggepackt. Schon in den Nullerjahren hab ich das Thema Rechtsextremismus im Osten immer als Geschichte der Vergangenheit wahrgenommen und war dann überrascht, als es ab 2015 wieder Thema wurde. Bei der Arbeit am Buch wurde klar: So ein Grundrauschen gab es die ganze Zeit.

Im Buch, aber auch in Songtexten, beschreibst du eine Jugend der Nullerjahre, die von Gewalt, aber auch viel Neuem geprägt ist: Der Media-Markt in der Stadt, in dem ihr nach der Schule abgehangen habt, die Nachmittagsshows im Fernsehen, den EMP-Katalog. Was war daran spezifisch ostdeutsch?

Ich wusste lange nichts über die DDR oder die Wende. Als ich Plattenbau O.S.T. geschrieben habe, dachte ich noch, ich erzähle einfach eine Geschichte aus meiner Jugend. Natürlich sind wir Nachwendekinder vergleichbarer zu den westdeutschen Altersgenossen aufgewachsen. Uns wurde immer gesagt: „Ihr habt jetzt das große Glück, in einer Demokratie und im Kapitalismus und im ewigen Frieden aufzuwachsen. Und ihr seid jetzt eigentlich keine Ostdeutschen mehr – ihr seid jetzt so wie die Westdeutschen“. Das stimmt natürlich nicht ganz. Die Wende war in vollem Gange und jeder in meinem Umfeld irgendwie davon betroffen. Die Betriebe machten dicht. Die Arbeitslosenzahlen stiegen immer weiter an. Die Diktatur steckte allen noch in den Knochen, die neuen Eliten wurden von Westdeutschen gebildet, die Polizei war nicht wirkmächtig, Linkssein war out, Neonazi-Gruppen waren normal. Im Westen war man umgeben von Menschen deren Biografien linearer verlaufen sind. Ohne diesen riesigen Bruch.

Warum tauchen in deinem Buch eigentlich kaum Eltern auf?

In der Welt, die ich beschreibe, fanden Eltern nicht statt. Erstens waren sie viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Damit, in dem neuen System nicht unterzugehen. Zum anderen aber auch, weil wir sie nicht reingelassen haben. Es ging uns um Männlichkeitsbilder und darum, sich keine Blöße zu geben. Es wäre eine Schwäche gewesen, noch am Rockzipfel der Mutter zu hängen. Außerdem hat sich in der DDR der Staat um die Kinder gekümmert. Dort wurde ihnen beigebracht, sich in der Gruppe zu bewegen. Die Eltern sollten arbeiten. Nach der Wende mussten die Erwachsenen erst lernen, dass der Staat das so nicht mehr macht.

Du und ich, wir sind beide im selben Jahr geboren: 1988. Die Adidas-Samba-Schuhe, die ersten Computerspiele oder die Kika-Sendung „Die Kinder vom Alstertal“ waren genauso Teil meiner Jugend wie deiner. Sind wir uns doch näher, als oft beschrieben wird?

Ich glaube, beide Extreme sind falsch: Dass es keine Unterschiede gab, aber auch, dass wir komplett unterschiedlich aufgewachsen sind. Es ist schwierig zu verallgemeinern. Es gab auch damals im Osten wie im Westen schon ganz unterschiedliche Milieus. Was ich im Buch beschreibe, ist meine persönliche Geschichte, die kann man nicht auf sämtliche Ostdeutsche anwenden. Ich musste vor dem Abitur auf ein anderes Gymnasium in der Altstadt von Stralsund wechseln, weil meines geschlossen wurde. Dort habe ich Mitschüler gehabt, die komplett anders waren als ich. Ich habe mich damals gewundert, wie die so aussehen können: Jungs, die wie Mädchen rumgelaufen sind, keinen Deutsch-Rap hörten und gar keinen Bock hatten, sich zu prügeln. Die fanden das asozial. Ich hingegen habe damals gedacht, dass nur meine gewaltvolle Realität die echte sei. Und dass diese Mitschüler schon noch ein schmerzhaftes Erwachen erleben werden – eines, das ich schon hinter mir hatte.

Das „Asoziale“ war für dich Normalität?

Das Plattenbauviertel war für mich das eigentlich Gute, das Edle, das Moderne. Hier ist alles modern und die Altstadt ist hässlich, dachte ich, eigentlich ein Museum, in dem niemand leben will, weil es lange so gammelig war und scheiße aussah. Selbst als wir aus dem Plattenbau auszogen, habe ich trotzdem weiter da rumgehangen. Es hat mir da einfach besser gefallen.

Ist das bis heute so?

Während der Arbeit am Buch habe ich in Gesprächen festgestellt, dass es in der Stralsunder Altstadt wohl schon in den Neunzigern eine aktive linke Szene gab. Ich kannte nur die Spielplätze, die von Neonazis besetzt waren. Das war anscheinend aber plattenbauspezifisch und wurde von jungen Menschen aus anderen Stadtteilen mehr oder weniger scherzhaft schon damals als Ghetto bezeichnet. Nach dem Motto: „Da muss man nicht hin, das ist eh am Arsch der Welt.“ Aber für mich war das nicht der Arsch der Welt, sondern der Mittelpunkt. Die Altstadt war für mich der Arsch der Welt. In Wahrheit hat aber eine Entmischung dieser Plattenbaugebiete stattgefunden. Diese soziale Komponente habe ich erst vor Kurzem verstanden. Jeder, der es sich leisten konnte, ist weggezogen. Und zurückgeblieben sind die, die es mussten.

Also, Ungleichheit auch innerhalb von Ostdeutschland?

Es ist Blödsinn zu sagen, alle Ostdeutschen wären jetzt unterprivilegiert und im Westen gäbe es nur privilegierte Menschen. Das sind viel zu einfache Schablonen. Ich würde auch nie auf die Idee kommen zu sagen: „Das ist ein Buch über die Ostdeutschen!“ Dazu sind die Perspektiven und Lebensrealitäten viel zu zahlreich.

Im Westen ist das nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung gewesen.

Es gab nach der Wende eine Stimmung, in der alles, was nicht westdeutsch, wohlhabend, hetero, weiß und männlich war, irgendwie direkt als Witzfigur galt. Und in dieses Gefühl, dass sich ständig über einen lustig gemacht wird, kommen die Ostdeutschen mit der Hoffnung nach einem Systemwechsel. Und dann merken sie: Hier wird alles plattgemacht, es gibt keine Arbeitsplätze mehr, alle hauen ab und Kinder kommen auch keine nach. Und in den Medien wird dann mit dem Finger auf dich gezeigt und gesagt: „Du bist ein Opfer“ und alle lachen über dich, anstatt zu helfen.

Mehr zum Thema

Aber anstatt sich mit anderen marginalisierten Gruppen zu solidarisieren, gab es Ausgrenzung – zum Beispiel gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte.

Ja, das ist eine große Tragik. Es passt aber in die beschriebene gesellschaftliche Stimmung. Da wird jemand arbeitslos und kann überhaupt nichts dafür, weil einfach in dem Land alle arbeitslos werden. Und dann wird einem gesagt, dass man daran selbst schuld sei. Wenn Arbeitslosigkeit aber nur als Ausdruck einer persönlichen Schwäche begriffen wird, springt schnell eine Scham an, die es unmöglich macht, dass man sich austauscht oder solidarisiert. Dann liest man in der Bild-Zeitung über die asozialen Ausländer und kann sich mal schön aufregen und checkt gar nicht, dass es vor der eigenen Haustür ganz ähnliche Probleme gibt. Vielleicht in einer anderen Schattierung und etwas anders geartet. Aber es sind Probleme, in denen man sich gegenseitig wiedererkennen könnte. Die Ausländerfeindlichkeit im Osten ist aber nicht allein darauf zurückzuführen.

Warum bist du nicht so geworden, wie manche deiner alten Freunde, die im Knast saßen oder heute noch rechtsextrem sind?

Ich hatte immer das Glück, Lehrer zu haben, die sich um mich bemüht haben. Außerdem hatte ich Erwachsene um mich herum, durch die ich auch eine andere Welt gesehen habe, ohne Drogen und Gewalt. Und vielleicht war ich auch nicht ganz so gut darin, meine Gefühle so abzuspalten. Ich war eigentlich gar nicht hart genug.

Was meinst du damit, wenn du sagst, du warst „nicht hart genug“?

Ich hatte in dieser Zeit Panikattacken und Depressionen. Damals hat mich das abgefuckt. Ich dachte: „So eine Scheiße, jetzt kann ich gar nicht mehr einfach kiffen und cool sein.“ Da hat mein persönlicher Wandel aus heutiger Perspektive angefangen. Als ich nach dem Abitur nach Berlin gezogen bin, kam ich in ein ganz anderes Milieu.

Ist das eine individuelle Entwicklung oder gibt es Strukturen, die helfen, dass junge Menschen nicht abzudriften?

Beides. Es ist wichtig, dass es Strukturen und Hilfsangebote gibt. Und dass wir hinschauen, was gebraucht wird. Zum Beispiel, wenn es um Therapieangebote geht. Gleichzeitig kann man nicht alles auf Strukturen und Institutionen schieben, sonst ist immer nur die Gesellschaft schuld. Ich habe mich damals auch selbst entschieden zu prügeln, also ist es auch meine Verantwortung.

Angela Merkel unterhält sich mit zwei rechtsextremen Jugendlichen.

In den Neunzigern versuchte man es mit der sogenannten “akzeptierenden Jugendarbeit”, bei der dann solche Bilder entstanden: Merkel im Kreis von rechtsextremen Jugendlichen. © picture-alliance / ZB | Bernd Wüstneck

Glaubst du, du wärst anders geworden, wenn du im Westen aufgewachsen wärst?

Ich weiß es nicht. Ich finde, das ist eine interessante Frage: Hätte man mein gesamtes Umfeld in den Westen verfrachtet und mich in genau der Zeit dort aufwachsen lassen, wie wäre ich dann geworden?

Dein Band-Kollege Grim104 ist ja im Westen geboren. Habt ihr über eure Jugenden gesprochen?

Moritz und ich sind uns dann doch – obwohl wir unterschiedlich aufgewachsen sind, in unterschiedlichen Regionen Deutschlands – in ganz vielen Aspekten ähnlich. Wir schauen ähnlich auf die Welt. Aber es gab natürlich Unterschiede: Bei ihm in Niedersachsen gab es auch Nazis, aber das war eine kleine Truppe, ein Dorf weiter. Außerdem war es vollkommen normal, links zu sein. In weiten Teilen des Ostens herrschten lange gesetzlose Zustände, in denen sich letztlich der Stärkere durchgesetzt hat. Und das war im Westen nicht so. Da gab es eine funktionierende Gesellschaft. Aber wir haben nichtsdestotrotz eine breite gemeinsame Grundlage. Ich glaube, Ost und West werden über die Jahre und Jahrzehnte zwangsläufig final zusammenwachsen.

Und dann? Wird ostdeutsche Identität einfach Popkultur?

Das ist es ja jetzt schon. Als ich jung war, war es irgendwie peinlich, über Ostdeutschland und Trabbis zu rappen – obwohl das teilweise schon passiert ist. Inzwischen habe ich das Gefühl, dieses Stigma ist weg, wenn man sich so Bands anguckt wie Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet oder Einzelkünstler wie Marteria. Die verstecken das nicht und überhöhen es nicht, sondern haben einen natürlichen, lockeren Umgang damit, dass Menschen, die aus Ostdeutschland kommen, andere Erfahrungen gemacht haben. Vielen jungen Menschen bedeutet es viel, jemanden zu haben, in dem sie sich wiedererkennen.

Weil ostdeutsche Jugendliche noch immer Abwertung erfahren und weniger privilegiert aufwachsen?

Meinen Beobachtungen nach – und dazu gibt es ja auch Studien – ist das so, ja. Im Osten identifizieren sich viele gerade junge Menschen noch mehr als Ostdeutsche statt als Deutsche und nehmen Unterschiede sehr genau wahr. Das kann man in anderen Teilen der Gesellschaft ja auch beobachten. Wenn Identitäten so unter Beschuss stehen und immer wieder abgewertet werden, kann das dazu führen, dass sie sich erst recht verhärten. Dass Menschen, denen man wiederholt die Tür vor der Nase zuschlägt, sich in ihren eigenen Gruppen einkapseln.

Der Song „Plattenbau O.S.T“ und dein Buch spielen vor 20 Jahren, du erzählst die Vergangenheit. Für wen machst du eigentlich heute Musik?

Zuerst: Der Hendrik damals ist nicht der Hendrik heute. Die Zustände und die Person, die ich im Song und dem Buch beschreibe, sind 15 bis 20 Jahre her. Es ist eine spannende Frage, was von den Zuständen, die ich beschreibe, heute so überhaupt noch existiert. Es wäre falsch, diese Geschichte zu nehmen und als Beschreibung des heutigen Ostens zu nehmen. Fahrt lieber mal hin und fragt die jungen Leute, wie das heute so ist.

Trotzdem seid ihr sehr erfolgreich in der Generation, die diese Zeit nie miterlebt hat.

Das Lebensgefühl, das ich beschreibe, existiert scheinbar auch 20 Jahre später noch irgendwie. Ich bekomme immer wieder Nachrichten von Leuten, die an ostdeutschen Jugendlichen vorbeifahren und erzählen, wie dort „Plattenbau O.S.T.“ gehört wird. Offenbar teilen junge Leute die Erfahrungen und verbinden etwas damit. Ein Lebensgefühl, das in der Popkultur und den Büchern selten stattfindet, abgekoppelt vom Konsum und vielen Hilfsstrukturen. Das gilt übrigens auch für den Westen. Diese Realitäten gab und gibt es ja auch dort.

Was würde den jungen Menschen im heutigen Ostdeutschland helfen?

Es ist auf jeden Fall nicht damit getan, Geld rüberzuschaufeln und einen neuen Spielplatz dahinzustellen. Nach dem Motto: „Jetzt habt ihr einen Spielplatz, jetzt haltet euer Maul.“ Das wird sonst als unecht empfunden, im Gefühl etwa so: „Mir geht es doch schlecht und irgendwas stimmt hier doch nicht und ihr könnt das jetzt hier nicht einfach bunt anstreichen. Das macht mich aggressiv. Das macht mich wütend, dass ihr jetzt einfach hier so tut, als wäre nix.“ Die Gesellschaft muss sich richtig kümmern.


Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Ostdeutsche Identität ist jetzt schon Popkultur“

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App