Er schreit sie an. Sie scheint ihn zu belehren. Er hebt die Hand. Sie duckt sich leicht weg. Er dreht sich um. Sie ruft etwas hinterher. Er kommt zurück und haut ihr eine runter. Sie sinkt zu Boden.
Diese Szene hat sich an einer Autobahnzufahrt in Berlin abgespielt und wurde auf Video festgehalten halten.
Sie ist eine Klimaaktivistin von „Aufstand Letzte Generation“ und blockiert die Autobahn. Eine Protestaktion, um die Regierung Scholz zu zwei neuen klimafreundlichen Gesetzen zu zwingen. Er ist Fahrer eines Berliner Lieferdienstes, der Schulessen ausfährt, und es augenscheinlich nicht fassen kann, dass er gerade daran gehindert wird. Während sie sich wegduckt, ruft er hinterher: „Wir müssen hier arbeiten. Wir verdienen Geld, ihr Pisser!“
Mitten in dieser nervenfragilen Zeit, in Jahr drei der Corona-Pandemie, rollt eine neue Welle zivilen Klima-Unghorsams durch die Republik. Dass es so kommen würde, war bekannt. Die Aktivist:innen hatten es lange im Voraus angekündigt.
Die Aktionen bestimmen zwar noch nicht die Schlagzeilen der Republik, werden aber extrem kontrovers diskutiert. Dürfen die das? Darf man eine Autobahn blockieren, um Druck auszuüben?
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Diese Frage zielt nicht auf Gesetze ab. Nur denkfaule Paragrafen-Fetischist:innen würden sich bei dieser Frage demütig Jura-Sentenzen unterordnen. Hier ist der freie Bürger, die freie Bürgerin selbst gefragt: Wie weit darf man im Kampf gegen die Klimakrise gehen?
Wer glaubt, dass alles nicht so schlimm kommen werde, sieht die Autobahnabsperrung als Nötigung, als etwas Illegitimes (nicht im rechtlichen Sinne, das hat das Bundesverfassungsgericht längst geklärt, sondern im Sinne von anstandslos). Wer glaubt, dass die Welt immer noch nicht verstanden hat, wie nah die Klimakatastrophe wirklich ist, sieht in der Aktion gewaltlose Notwehr, eine legitime Verteidigungsmaßnahme.
Denn darum geht es bei der Bewertung im Kern: wie man die Bedrohung durch die Klimakrise einschätzt.
Es ist ein Kampf um Narrative, die Diskurshoheit, die Agenda eines Landes, das sich entweder ins Private zurückgezogen hat oder nur noch über Corona sprechen kann. Seit zwei Jahren schon ist die eigentliche Megakrise, der Klimawandel, in den Hintergrund gerückt. Verständlich, aber nicht verzeihbar.
Der Witz so einer Autobahnblockade im Kampf gegen die Klimakrise ist natürlich, dass sie keinerlei direkten Auswirkungen auf den Kampf gegen die Klimakrise hat. Es ist ein rein symbolischer Akt. Die Aktivist:innen hacken mit ihrem friedlichen Protest die Systeme unserer Aufmerksamkeitsökonomie: Nur, was Bilder produziert, findet in unserer Gesellschaft auch statt. Tik Tok, aber als Politikstil.
Das ist die Taktik hinter solchen Aktionen
Die Aktivist:innen haben sich dafür die Nervenfasern der deutschen Gesellschaft ausgesucht: die Autobahnen. Die Logik dahinter erschließt sich schnell: Wer den Fokus auf ein Thema lenken will, wer die Bundesregierung zu neuen Gesetzen bringen will, sucht sich den größtmöglichen Hebel. Wo kann mit wenig (Körper-)Einsatz viel erreicht werden? Auf Autobahnen in Berlin, Hamburg und Stuttgart. Perfekte Orte. Die Presse ist nah, die Politik ist nah. Die Aufmerksamkeit ist da.
Das kann man zynisch finden, aber was bleibt ihnen anderes übrig? Eine der Standard-Kritiken an solchen Blockaden ist, dass sie die Falschen treffen würden. Den Essensausfahrer, der arbeiten muss. „Sollen sie doch ein Ministerium blockieren oder die Politik“, so geht das Argument sinngemäß.
Okay, stellen wir uns mal eine Welt vor, in der regelmäßig Ministerien blockiert werden oder Lobbyorgane oder in der zum Beispiel eine Million Menschen für mehr Klimaschutz auf die Straße gehen würden. Das ist exakt die Welt, in der wir leben. All diese Dinge sind geschehen. Aber sie blieben wirkungslos. Deutschland wird seine Klimaziele reißen, genauso wie jedes andere Land der Erde.
Wer fordert, dass Klimaproteste nur die Politik treffen dürfe, hat die Dynamik dieser Krise nicht verstanden. Eine 1,5-Grad-Welt ist nicht mehr zu erreichen. Zwei Grad nur unter utopischen Anstrengungen. Die Erderhitzung schreitet weiter voran und ihre Folgen werden alle treffen, auch den Pendler, der da morgens an einer Autobahnzufahrt im Stau steht.
Alles kommt schneller als erwartet: Gletscherschmelze, Hitzerekorde, Dürren. Das Szenario „Treibhaus“, in dem sich die Erde unkontrolliert immer schneller erhitzt, um sich bei vier bis fünf Grad zu stabilisieren, ist nicht vom Tisch. Gerade wurde vermeldet, dass die Menschheit die fünfte von insgesamt neun planetaren Belastungsgrenzen überschritten hat. Werden sie überschritten, gefährdet das die Lebensgrundlagen der Menschheit.
In Wahrheit ist die Klimakrise vielen Menschen egal
Wer bekommt das mit? Im Zweifel sogar eher noch die Politik als die Pendler, als die „Arbeiterklasse“, die da wohlfeil von rechten Medien-Eliten ins Feld geschoben wird. Klimaschutz bleibt Nischenthema.
Fragt man einzelne in Umfragen, gibt jeder gerne an, dass sie kein Thema mehr beschäftigt, als das Klima. Schnell vergessen ist das allerdings, sobald es konkret und effektiv wird. Klima? Ja, aber.
In Wahrheit ist die Klimakrise vielen Menschen egal. Die Medien, die sie konsumieren, schreiben nur wenig Konstruktives dazu. Die Unbewohnbarkeit der Erde findet in privaten Chatgruppen halt nicht statt. Pech gehabt?
Wir wären schön doof, das als Spezies zu akzeptieren. Und da kommen die Blockierer wieder ins Spiel. Sie zwingen Menschen, sich mit der Klimakrise zu beschäftigen. Klar, in der Mittagspause werden sich die blockierten Leute aufregen über diese „Idioten“. Aber nach Stand der Dinge beschäftigen sie sich so mehr mit der Klimakrise als ohne die Aktionen.
Wer es gut meint, lehnt solche Aktionen ab, weil es „Reaktanz“ fördere: Abwehr und Ablehnung. Es schade der Sache, heißt es dann. Aber auch Abwehr ist etwas Aktives. Wer ablehnt, muss vorher mal kurz hingehört haben. Wut ist allemal besser als das das tönende Schweigen, das sich breit macht, sobald jemand vorsichtig darauf hinweist, dass wir – möglicherweise, unter Umständen, so der Einwurf höflicherweise gestattet ist – dabei sind, unsere Zivilisation an die Wand zu fahren.
Vielleicht stellt sich jemand, der diese Blockade-Bilder sieht, Fragen. Vielleicht entsteht ein Gespräch mit Freunden oder der Familie. Vielleicht kommen sogar Zweifel: „Diese Menschen sind bereit, den Hass der Republik auf sich zu ziehen, sich ‚Terroristen‘ schimpfen zu lassen, sie stecken Prügel ein und riskieren Gefängnis – was sehen die, was ich nicht sehe? Warum sind sie so alarmiert?“
Empört euch! Über die wichtigen Dinge
Das ist der Hack: Die Aktivist:innen setzen ihre Körper ein, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Viel anderes bleibt ja nicht mehr. Und, wenn man ihren Ankündigungen glaubt, werden sie das solange tun, bis sie ihre Forderungen erfüllt sind oder alle im Gefängnis gelandet sind.
Da steckt eine Dynamik drin, die die Gesellschaft vor die Wahl stellt, jeden freien Bürger und jede freie Bürgerin. Wir sperren Mörder ein und Vergewaltiger und dann auch Menschen, die sich des „Verbrechens“ schuldig gemacht haben, eine Autobahn zu blockieren, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen? Das wäre eine feige, eine ignorante Gesellschaft.
Wer die Aktionen der Aktivist:innen als Affront begreift, hat es erfasst: Empörung ist der Schlüssel. Aber nicht um solche Proteste zu beenden. Sondern um die Klimakrise zu beenden.
Redaktion/Schlussredaktion: Lisa McMinn, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert