Zwei Stunden in der Zelle in der Polizeistation von Erding, Bayern. Darin eine Holzbank. Fliesen auf dem Boden. Fliesen an den Wänden. „Es war arschkalt“, sagt die 24-jährige Klimaaktivistin Mirjam aus Passau. Die Beamten hatten ihr die Jacke abgenommen, sie schlief auf dem Boden, eingerollt in eine Decke der Polizei. Als sie gegen Abend einer Richterin im Amtsgericht Erding vorgeführt wird, glaubt Mirjam, dass sie gleich freikommt. Ihre Anwälte allerdings sind pessimistisch.
Der Tag hatte für Mirjam an einer Autobahnbrücke an der A96 bei Germering begonnen. Sie ist Teil einer Klettergruppe, die sich von Bäumen und Gebäuden abseilt, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Es war der 7. September und im nahe gelegenen München lief gerade die Internationale Automobilausstellung (IAA). Die ganze Innenstadt wurde dafür zur Messefläche umfunktioniert. Mirjam und ihr Mitbewohner Kim wollten ein Zeichen setzen. Die Autoindustrie mit ihren Verbrennern sei Teil des Problems in der Klimakrise, meinen sie. Also seilten sie sich von einer stillgelegten Eisenbahnbrücke ab, die über die A96 führt.
Während sie vor dem Geländer baumelten, entrollten sie ein Banner: „Block IAA“ stand darauf. Sie störten den Verkehr nicht, brachten niemanden in Gefahr. Und doch dauerte es nur zehn Minuten, bis auf der Gegenspur Streifenwagen mit Blaulicht angerast kamen. Die Polizist:innen sperrten die Autobahn komplett. „Unser Protest ist so angelegt, dass die Menschen sich damit auseinandersetzen müssen“, sagt Mirjam. „Wenn sie wütend sind, spüren sie die Dringlichkeit des Themas.“
Die Polizei bat die Aktivist:innen hochzukommen. Nach zwei Stunden kletterten Mirjam und ihr Mitbewohner wieder auf die Brücke. Die Polizei nahm sie mit auf die Wache in Germering. Eigentlich wäre das das Ende gewesen, so wie bei den anderen Aktionen. Konfiszierung des Kletterzeugs, Identitätsfeststellung, Freilassung. An diesem Tag allerdings ging es weiter auf die Wache in Erding. „Die Polizisten in Germering sagten uns, dass sie das normalerweise nicht machen würden.“
In Erding wartete die kalte Zelle. Und später das Amtsgericht. „Ich hatte nicht geglaubt, dass wir noch in Haft genommen werden“, sagt Mirjam. „Das machen die doch nicht. Wir haben doch einen Rechtsstaat in Deutschland.“ Der Rechtsstaat sperrte sie ein. Um zu verhindern, dass sie während der IAA weiter protestieren kann. JVA Stadelheim, Frauengefängnis, Isolationshaft. Dort, wo auch die Rechtsterroristin Beate Zschäpe einsaß bis sie nach Chemnitz verlegt wurde.
Am dritten Tag der Haft schaut Mirjam auf ihrem Fernseher in der Zelle eine Doku über politische Gefangene in Belarus. „Da merkte ich: Das, was ich gerade durchmache, ist auch politische Haft.“
Drastischere Aktionsformen und die Polizei kurz vor der Meuterei
Mirjam ist eine von Dutzenden Aktivist:innen, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe. Sie alle eint, dass sie nicht mehr an die Kraft normaler politischer Demonstrationen glauben. Sie suchen nach drastischeren, aber gewaltlosen Aktionsformen, die Menschen aufrütteln sollen. Sie praktizieren sogenannten zivilen Ungehorsam, bei dem sie bewusst Regeln brechen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. „Die Regelverletzung schafft Aufmerksamkeit für das Thema“, sagt der Soziologe Philipp Knopp von der Uni Wien, der zu Protesten und der Klimabewegung forscht. Sie kleben sich vor dem Brandenburger Tor auf die Straße, sie steigen auf das Dach des Düsseldorfer Landtags, sie besetzen das Haus des Wirtschaftbeirats Bayern in München. Sie fordern die Gesellschaft heraus und testen den Willen des Staates.
Die Klimaproteste haben sich seit 2018 verändert. Damals dominierten die großen Demonstrationen der For-Future-Bewegung die Schlagzeilen und gipfelten in den 1,4-Millionen-Demonstrationen in Deutschland im Herbst 2019, kurz vor der Verabschiedung des ersten Klima-Paketes der Bundesregierung. Die For-Future-Bewegung hat an Wucht verloren, der Klima-Protest ist lokaler geworden und ungehorsamer. Die Besetzung des Dannenröder und Hambacher Forsts, der Kampf gegen die Räumung des Dorfs Lützerath und Blockaden an fossiler Infrastruktur geben zunehmend den Takt vor.
Doch genau wie die Demonstrationen, haben sich auch die Reaktionen darauf verschärft. Die Aktivist:innen werfen dem Staat vor, immer härter zu reagieren. Der Staat „kriminalisiere“ friedlichen Protest mit Gefährderansprachen, Platzverweisen, Inhaftierungen, Klagen, sagen die Aktivist:innen. Auch Telefonüberwachungen seien unter Umständen möglich. Aber wie kann das überhaupt sein?
Die umstrittenen Polizeiaufgabengesetze, die 2018 reformiert wurden, geben der Polizei in manchen Bundesländern Rechte, die eigentlich die Terrorbekämpfung erleichtern sollen: der Einsatz von Überwachungssoftware auf Handys und Computern, Aufenthaltsverbote für verdächtige „Gefährder“, Präventivhaft bei Verdacht auf Straftaten, die wie im Fall von Bayern mehrmals ohne richterlichen Beschluss verlängert werden kann. Im Juli wurde das Gesetz in Bayern sogar nochmal verschärft. Die neuen Rechte setze die Polizei aber nicht nur gegen Terrorist:innen ein, sondern auch gegen Klima-Aktivismus. So lautet jedenfalls der Vorwurf der Aktivist:innen.
Vor ein paar Jahren noch, auf dem Höhepunkt der Fridays-For-Future-Demos, behandelten die Polizei und ihre politische Führung viele, auch ungehorsame Klima-Proteste in deutschen Städten vorsichtig, fast wohlwollend. Auf jeden Fall unterscheiden sich die Berichte von heute von dem, was ich etwa bei der ersten sogenannten Rebellion Wave von Extinction Rebellion 2019 in Berlin beobachten konnte, wo die Stimmung im Vergleich locker und die Polizei geduldig war. Diese Zeit scheint vorbei zu sein. Der Druck auf die Aktivist:innen steigt. Das zeigen die Fälle, die ich zusammengetragen habe.
Ironischerweise zeigen sie aber vielleicht auch, dass die Aktivist:innen gewinnen. Ein Polizist, der beim IAA-Einsatz in München im Dienst war, aber anonym bleiben möchte, sagt mir: „Ich bin schon lange bei der Polizei und das war der erste Einsatz, bei dem ich das Gefühl hatte, dass die Stimmung kurz vor der Meuterei ist.“ Manche Polizist:innen verstehen nicht, warum sie so hart gegen Menschen vorgehen müssen, die auf die Klimakrise aufmerksam machen wollen.
Zusammengenommen ergibt sich das Bild einer leisen Eskalation, die bisher kaum jemand wahrzunehmen scheint: Viele Aktivist:innen haben das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonrennt, dass sie seit Jahren darauf hoffen, dass die Politiker:innen Gesetze verabschieden, die dem Problem gerecht werden und sich doch nichts tut. Dieses Gefühl, kombiniert mit den tatsächlichen Repressionen, die sie erleben, hat eine Spirale in Gang gesetzt. Für immer mehr Menschen ist ziviler Ungehorsam, sind Blockaden und Besetzungen das einzige Mittel, das noch Aufmerksamkeit erregen kann.
Eine Woche Haft, Platzverweise für ganz München
Dass Mirjam für die Dauer der IAA in Gewahrsam genommen werden sollte, ist laut Bayerischem Polizeiaufgabengesetz grundsätzlich möglich. Das sagt aber in Artikel 19, Absatz 3 auch, dass der oder dem Betroffene:n „nur solche Beschränkungen auferlegt werden [dürfen], die der Zweck der Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.“ Praktisch könnte das etwa heißen: So Inhaftierte dürfen telefonieren, Besuch empfangen, lesen, ihr Handy behalten.
Als Mirjam darauf in der JVA hinwies, soll eine Beamtin gesagt haben: „Es gibt hier keine Sonderregelungen.“ Sie war eine Gefangene wie jede andere auch. Sie hatte eine Stunde Hofgang, allein. Ihr Antrag, gemeinsam mit den anderen Aktivist:innen in den Hof zu gehen, wurde abgelehnt. „In der Situation war ich machtlos. Ich musste das hinnehmen.“ Auf Anfrage verweist die JVA Stadelheim darauf, dass sie aus Gründen des Datenschutzes keine näheren Angaben machen könne und „sie lediglich im Wege der Amtshilfe für die Polizei“ tätig geworden sei. Das zuständige Polizeipräsidium Oberbayern-Nord schrieb per E-Mail, dass die Landespolizei Haftbedingungen nicht regelmäßig überprüfe und sich die Haft nach den örtlichen Gegebenheiten, der Verfügbarkeit von Räumen und dem Polizeiaufgabengesetz richte.
Das Münchner Polizeipräsidium und das bayerische Innenministerium verfolgten beim IAA-Einsatz eine harte Linie. 4.500 Polizist:innen waren im Einsatz. Ein Sprecher des Innenministeriums schreibt per E-Mail: Die IAA und die dazugehörenden Versammlungen seien weitgehend friedlich und geordnet verlaufen, wegen „der hohen polizeilichen Präsenz“ und des „Einsatzkonzeptes“. Das habe es ermöglicht, „auf Sicherheitsstörungen schnell, konsequent und gleichzeitig auch mit dem erforderlichen Fingerspitzengefühl zu reagieren.“
Zu diesem Einsatzkonzept, sagt mir einer der Polizisten, der dabei war: „Wir sollten so schnell wie möglich eingreifen.“ Am Rande der Messe gab es mehrere Vorfälle, die Schlagzeilen machten: Messebesucher:innen, die eine einfache Broschüre zur Verkehrswende dabeihatten, wurden festgehalten, ein Polizeibeamter nannte einen Pressefotografen „Fotowichser“. Auch einen Journalisten der Taz nahm die Polizei für drei Stunden in Gewahrsam.
Die Polizei hielt sogenannte Gefährderansprachen, bei denen einzelne Personen gezielt vor Veranstaltungen über die geltende Rechtslage und etwaige Maßnahmen gegen sie persönlich aufgeklärt wurden. Das ist etwa bei Terrorverdächtigen oder gewaltbereiten Fußball-Hooligans üblich. Die Polizei sprach in München auch Platzverweise aus. Wie viele es genau waren, kann das bayerische Innenministerium auf Nachfrage nicht beantworten. Der Münchner Polizeibeamte aber sagt mir: „Es wurde von der Polizeiführung vorgegeben, dass das Betretungsverbot für alle Messeflächen gilt und dass Gewahrsam für die ganze Woche gelte.“ Weil wiederum die IAA über ganz München verteilt war, kam das Betretungsverbot für Aktivist:innen, die in München wohnen, einem Hausarrest gleich. „Die Kollegen haben das Gefühl bekommen, dass die Einsätze nicht mehr verhältnismäßig waren“, sagt der Polizist. Am ersten Tag hätten sie die jeweiligen Entscheidungen noch in ihrem Namen unterschrieben. Ab dem zweiten unterzeichneten viele nur noch mit: „Im Namen der Polizeiführung“.
Ab dem Frühjahr eskalierte die Lage – die Polizei steckt im Dilemma
Warum aber griff die Polizei so hart durch? Eine erste These: Ihre Gefahrenanalyse war falsch. Vor der Veranstaltung warnte sie vor Autonomen, die extra nach Bayern reisen würden. Doch die reisten nicht an. Eine zweite These: Sie war schlichtweg überfordert. München und Bayern haben bisher nicht viel Erfahrung mit Klimaprotesten.
Die Aktivist:innen allerdings sagen, und das ist die dritte These, dass die Repressionen zunehmen würden, seitdem sie gezielt auch staatliche und parteipolitische Institutionen für ihre Aktionen besetzen, blockieren und als Bühne nutzen. Laut Susanne Egli, Meeresbiologin und eine Sprecherin der Klimabewegung Extinction Rebellion (XR) in München, hat eine Aktion im Juli alles verändert. „Ab dem Moment begannen die Gefährderansprachen.“ Sie und ihre Gruppe hatten den CSU-nahen Lobbyverband „Wirtschaftsbeirat Bayern“ im Juli besetzt, von den Fenstern des Hauses Reden gehalten und Banner gehisst, auf denen stand: „Hier sitzt die Klimaschmutzlobby.“ Egli sagt: „Sie wollten alle klein halten, die bei dieser Sache dabei waren.“ Im Vorfeld der IAA seien dann von der Polizei die Gefährderansprachen durchgeführt worden, außerdem drohten die Beamten Hausdurchsuchungen an.
Faktisch haben Egli und die anderen Aktivist:innen mit der Besetzung vermutlich Hausfriedensbruch begangen. Praktisch war es aber auch eine Aktion von hohem Symbolwert: Sie haben eine wichtige und gut vernetzte Institution der bayerischen Politik besetzt. Oder mit anderen Worten: Sie sind der bayerischen Politik- und Wirtschaftselite auf der Nase herumgetanzt.
In Nordrhein-Westfalen lief es ähnlich ab. Im Februar noch hatten die Beamt:innen bei einer XR-Aktion einfach gewartet, „bis allen kalt“ ist, wie Nora Schareika von Extinction Rebellion Nordrhein-Westfalen sagt. Das änderte sich im Mai. Da kletterten einige Aktivist:innen auf das Dach des Landtags. Eine peinliche Angelegenheit für die Landesregierung, die damals noch Ministerpräsident und CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet anführte. Seine Landespolizei soll das Parlament schützen. Schareika sagt, dass nach dieser Aktion „die Repressionen schon begannen, wenn es nur aussah, als würde eine Aktion stattfinden.“
Als Beispiel nennt sie eine geplante Aktion am 27. Mai am Verwaltungsgebäude des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Die Polizei hatte von der Aktion wohl über den Kurznachrichtendienst Telegram erfahren. Sie habe Menschen kontrolliert, so Schareika, ohne dass bereits etwas passiert sei, weil die nur so aussahen, als könnten sie an dieser Aktion beteiligt seien. Dabei sei die eigentliche Strategie von XR, mit einzelnen Polizist:innen kein Problem zu bekommen. „Das sind auch nur Menschen, die sind genauso betroffen von der Klimakrise“, sagt Schareika. Die eigentliche Aktion fand dann aber nicht statt.
Aktivist:innen, die auf zivilen Ungehorsam setzen, wollen den Staat langfristig betrachtet in ein Dilemma stürzen. Entweder er reagiert mit voller Härte – Schlagstöcke gegen gewaltlose Demonstrant:innen – und kann so vielleicht die Proteste stoppen. Oder er lässt die Proteste gewähren, die seine Legitimität untergraben. So oder so verliert er Rückhalt in der Bevölkerung. „Die Bewegung kann deutlich mehr Druck aufbauen, wenn sie eine aktive und massenhafte Unterstützung in der Bevölkerung erfährt“, sagt der Soziologe Philipp Knopp. „Diese Unterstützung sehen wir bei der Klimabewegung.“ Man denke nur an die vielen For-Future-Gruppen, die sich gebildet haben, nachdem die Schüler:innen in den Streik gegangen waren.
Bianca Riesekamp, 46-jährige Sozialpädagogin aus Nordrhein-Westfalen und Aktivistin bei Extinction Rebellion, sagt: „Wir merken immer mehr, dass die Polizei verzweifelt. Als ich ein Gespräch mit dem Staatsschutz hatte, sagten die Beamten mir: ‚Bitte beschweren Sie sich für mich.“
Dass ihre eigenen Beamten zum Teil Zweifel an den Anti-Klima-Einsätzen haben, weiß die Polizeiführung. Nach der IAA in München beschwerten sich so viele Einsatzkräfte beim Polizeipräsidium, dass dieses eine große Versammlung Mitte November einberief, die allerdings coronabedingt abgesagt worden ist. Zuletzt habe es eine solche Versammlung nach dem rechtsradikal motivierten Terroranschlag am Münchener Olympia-Einkaufszentrum im Juli 2016 gegeben. Das alles jedenfalls sagte mir der Polizist aus München. Wenn man sein Polizeipräsidium fragt, heißt es hingegen: „Uns sind keine derartigen Beschwerden bekannt.“
Auch in Berlin harte Einsätze
Bayern ist normalerweise kein Schwerpunkt von Klimaprotesten, Nordrhein-Westfalen allerdings schon. Seit Jahren finden dort Proteste gegen Kohlekraft statt, weil der Energiekonzern RWE mehrere große Tagebaue in dem Bundesland unterhält. Ein weiterer Mittelpunkt der Klimaproteste ist Berlin, die Hauptstadt und größte Bühne des Landes. Hier fand im August die Klima-Protest-Woche „Rise Up“ statt, für die Aktivist:innen von Fridays for Future bis Extinction Rebellion zusammenarbeiteten. Die 19-jährige „Fledermaus“, so ist ihr Aktionsname, hat sich in dieser Woche mit Sekundenkleber an der Straße vor dem Brandenburger Tor festgeklebt, um sie zu blockieren. „Ich war vorher bei Fridays for Future“, sagt sie. „Ich war dort aber immer frustrierter, weil das, was in der Klimakrise passieren müsste, einfach nicht passiert.“
Mehr als drei Stunden brauchte die Polizei, um Fledermaus von der Straße zu lösen. Eigentlich werde so etwas von Ärzten gemacht, sagt sie, bei ihr aber seien es die Polizist:innen selbst gewesen. Ihre Bitten um Vorsicht hätten die Polizist:innen als „Show“ abgetan und ihr vorgeworfen, damit Widerstand zu leisten, sagt sie. Sie wurde anschließend auf das Polizeipräsidium Tempelhof-Schöneberg in Berlin gebracht. Was sie dort nach eigenen Aussagen erlebte, zeigt, wie die Polizei Menschen zerrütten kann, wenn sie es darauf anlegt.
Fledermaus wurde von den anderen Aktivist:innen im Präsidium getrennt und in eine Zelle gesteckt. Zu diesem Zeitpunkt habe die Polizei noch nicht gewusst, wer Fledermaus war, wie also der bürgerlicher Name lautete. Sie mussten Fledermaus entsprechend „erkennungsdienstlich“ behandeln, wie es im Amtsdeutsch heißt. Das bedeutet: Personalien feststellen, Fotos machen, Fingerabdrücke nehmen.
Diese Daten geben die Aktivist:innen generell nur ungern her, weil sie die Grundlage für weitere Repressionen in der Zukunft sein könnten und sie es vor allem ermöglichen, die Aktivist:innen bei zukünftigen Aktionen schnell zu identifizieren, manchmal auch schon im Vorfeld. Die Polizei wiederum ist dazu gezwungen festzustellen, wen sie da gerade festgenommen hat. Sonst laufen etwaige Verfahren ins Leere.
Bei Fledermaus soll die Polizei mit den Fotos begonnen haben. Dafür wird sie, so schreibt sie es später, aus der Zelle in einen anderen Raum gebracht.
Ich zitiere aus dem Gedächtnisprotokoll, das Fledermaus angefertigt hat: „Ich habe die ganze Zeit den Kopf gebeugt gelassen, die Augen zugemacht und mein Gesicht verzogen, während die Fotos auf dem Flur ohne Vorwarnung gemacht wurden.“ Zurück in der Zelle hört sie Schreie. „Fuchs, ein andererer Aktivist, hat die ganze Zeit geschrien, dass er keine Luft bekommt und um Hilfe gerufen. Es waren verzweifelte Schmerzensschreie. Ich habe gerufen, dass er nicht alleine ist.“
Schläge auf den Oberarm – „Freude im Dienst“
Fledermaus schläft danach ein. Es ist zwar erst Nachmittag, doch der Tag war lang und heiß und Fledermaus hat nicht genug getrunken und gegessen. Als Fledermaus aufwacht, stehen mehrere Polizist:innen in der Zelle. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Beamt:innen immer noch nicht, mit wem genau sie es zu tun haben. Sie beginnen „Psychospiele“, so Fledermaus, wollen die Aktivistin in die Ecke drängen:
„Eine Polizistin hat erzählt, dass sie weiß, dass hier ‚Range‘ und ‚Monsti‘ und ‚Hannes‘ und ‚Hobbit‘ sind (andere Aktivistinnen, Anm. d. A.) und dass die vier ihre Personalien angeben wollen, wenn ich das auch mache. Außerdem meinte sie, dass alle Supportmenschen bereits gegangen wären. Ich habe ihr gesagt, dass ich das nicht glaube.“
Die Polizistin erhöhte den Druck noch weiter. Sie bringt „Minion“ ins Spiel, einen minderjährigen Aktivisten aus der Gruppe. „Sie sagte mir, dass ‚Minion‘ ins Jugendheim käme, wenn ich meine Personalien nicht angebe.“ Schließlich darf Fledermaus sich mit einem anderen Aktivisten beraten, fünf Minuten Zeit hat sie. Sie entscheiden sich, ihre Personalien anzugeben. „Vorher hieß es, dass ich direkt rauskomme, wenn ich das mache. Im Endeffekt haben sie uns trotzdem nochmal erkennungsdienstlich behandelt.“
„Ich wurde wieder abgeholt. Ich fühlte mich sehr schwach und war sehr zittrig beim Laufen. Mir war übel. Sie führten mich in einen Raum, wo Scheinwerfer und Kameras waren. Ich habe den Kopf runtergemacht. Sie haben mich zu einem Tisch geführt, wo ein Fingerabdruck-Gerät stand. Da war mir dann kotzübel und meine Beine sind mir weggeknickt. Ich musste weinen. Sie haben versucht, mich festzuhalten und haben an meiner Hand gerissen und die Finger auseinander gezogen. Wegen des Sekundenklebers tat das sehr weh und ich habe geschrien. Offensichtlich hat das Fingerabdruck-Nehmen mit dem Gerät nicht funktioniert. Ich wurde auf einen Stuhl gezerrt und bin dort in mich zusammengesackt, habe gezittert und musste würgen. Sie haben mich am T-Shirt-Kragen gepackt, mehrfach an meinen Haaren gezogen, mehrfach an meinen Ohren gezogen, meine Arme und Hände verdreht. Sie haben mich hochgehalten. Ich habe die Augen zugelassen und meine Hand vors Gesicht gehalten. Ich glaube, sie haben Fotos gemacht. Dann wurde ich wieder mit Haare- und Ohren-Ziehen und Arme-Verdrehen vom Stuhl weggeschleppt. Ich konnte nicht stehen. Ich wurde mindestens zweimal mit Knien oder Füßen in die Oberschenkel und den Hintern getreten. Sie haben an meinem Kinn gezogen, den Kopf weggedreht. Ich habe kurz schlecht Luft bekommen. Ich habe geweint und geschrien, dass es weh tut, um Hilfe, vor Schmerz. Währenddessen haben sie mich beschimpft. Gesagt, ich würde nur schauspielern. Als sie fertig waren, haben sie mich an den Armen wieder zwei Flure zurück zu meiner Zelle über den Boden geschleift. Ich hatte die ganze Zeit die Augen zu. Sie haben mich in der Zelle mit dem Rücken an die Holzliege gelehnt. Ich habe rechts nach der Wand getestet und bin in die Ecke gefallen. Ich musste würgen und spucken. Ich hatte keine Kraft mehr, mich wieder hochzustützen.“
Danach kommt Fledermaus frei. Die Polizistin, die sie rausführt, sagt, dass alles gut werde. Das triggert sie noch mehr. „Ich habe einen Heulkrampf nach dem anderen bekommen. Andere Polizist:innen haben mich auf dem Weg nach draußen ausgelacht.“
Fledermaus sagt, sie hätte danach blaue Flecken an Armen und Beinen gehabt. Sie verzichtete darauf, diese Verletzungen ärztlich aufnehmen zu lassen, weil, wie sie sagt, „das die Situation nur schlimmer machen würde.“ Mit den Schilderungen von Fledermaus konfrontiert, schreibt mir die Berliner Polizei: „Dieser Sachverhalt war der Polizei Berlin bislang nicht bekannt. Um diesen aufklären und mögliche strafbare Handlungen von Polizistinnen und Polizisten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern feststellen zu können, wurde ein Strafermittlungsverfahren wegen des Verdachtes der Körperverletzung im Amt eingeleitet.“ Das werde vom Dezernat Beamtendelikte des Landeskriminalamtes übernommen.
Als Fledermaus im Laufe der Aktionswoche in Berlin noch einmal in Gewahrsam kommt und sie noch einmal erkennungsdienstlich behandelt werden muss, soll ihr ein Polizist mit der Faust auf den Oberarm geschlagen haben, erzählt sie. Ein Kollege im Hintergrund habe das beobachtet. Fledermaus will ihn gefragt haben, ob er für so etwas Polizist geworden sei. Laut Fledermaus antwortet er: Manchmal habe man eben etwas „Freude im Dienst“. Ob diese Szene sich wirklich so abgespielt hat, konnte ich nicht überprüfen.
Die Fälle, die ich geschildert habe, legen den Schluss nahe, dass Polizei und Regierungen die Gangart verschärft haben. Sie nutzen zum Teil die neuen Befugnisse des Polizeiaufgabengesetzes, um Klima-Aktivist:innen vorsorglich einzusperren. Zwar haben in Bayern die Gerichte vergleichsweise zügig gehandelt und die Haft der Aktivist:innen beendet, aber trotzdem ist wahr geworden, was schon bei dessen Reform befürchtet worden ist: Das Gesetz wird nicht nur gegen Terror oder Organisierte Kriminalität eingesetzt, sondern auch gegen friedlichen, wenn auch radikalen Aktivismus. Kim, einer der Autobahnbrückenkletterer, sagt mir: „Die überholte Politik funktioniert nicht mehr. Ich glaube, dass es deswegen zu immer härteren Repressionen kommt. Die Minister:innen versuchen, ein überholtes System zu retten.“
Das alles spielt sich vor einer sich beschleunigenden Klimakrise ab, die so lange den emotionalen Druck auf die Aktivist:innen erhöht, wie Regierungen nicht das tun, was nötig ist. Was in den kommenden Jahren passieren wird, wird sich zwischen zwei Polen abspielen: Entweder die Aktivist:innen brennen aus, ihr Protest zerfasert, einige wenige radikalisieren sich noch weiter, nutzen vielleicht Gewalt gegen Sachen und delegitimieren so die ganze Klimabewegung. Oder die Regierung unternimmt etwas gegen die Klimakrise – und befriedet so die Proteste.
Laut dem Soziologen Philipp Knopp habe die Klimabewegung noch „Trumpfkarten im Ärmel, die frühere Umweltbewegungen nicht hatten.“ So sei sie strategische Allianzen mit Gewerkschaften eingegangen. Und: „Gerade steht eine Regierung in den Startlöchern, die sich an der Klimafrage beweisen muss. Darauf kann mit Massenbewegungen und zivilem Ungehorsam reagiert werden. Da ist auch noch längst nicht alles ausgeschöpft.“
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert