Die Wahl ist vorbei. Und damit, könnte man meinen, auch unser Einfluss als Bürger:innen. Koalitionen und Gesetze werden ohne uns verhandelt. Müssen wir jetzt also wieder vier Jahre warten, bis wir die Welt ein Stückchen mitgestalten können?
Das haben sich auch KR-Mitglieder gefragt. Also hat sich die Redaktion auf die Suche nach Menschen begeben, die es trotzdem geschafft haben: Die im Kleinen einen Beitrag geleistet und etwas verändert haben, ganz ohne Wahlen und Petitionen, ohne Volksvertreter:innen und Verhandlungen. Im Leben Einzelner – oder für eine ganze Gemeinschaft.
Hunderte engagierte KR-Mitglieder haben sich gemeldet. Hier stellen wir vier von ihnen vor. Vier, die zeigen: Man muss nicht zur Wahlurne gehen, um unsere Gesellschaft ein bisschen schöner, gerechter oder solidarischer zu machen.
„Da haben wir angefangen zu protestieren“ – Zeynep, 24, Berlin
Ich bin zum Studieren nach Berlin gezogen und habe mir gleich einen Job gesucht. Weil ich kein Deutsch spreche, hatte ich nicht viel Auswahl. Deshalb habe ich im Februar als Fahrerin bei Gorillas angefangen. Die Arbeitsbedingungen dort sind so schlecht, dass nur wenige so lange bleiben wie ich: Sechs Monate sind es jetzt.
Einige Fahrer:innen hatten Unfälle, weil zum Beispiel die Pedale an den Fahrrädern nicht richtig halten. Außerdem wiegen die Rucksäcke bis zu 20 Kilo. Ein anderes Problem, um das wir uns gemeinsam gekümmert haben, waren Fehler bei den Gehaltsabrechnungen. Für uns war das unglaublich viel Geld.
Als ich als Fahrerin angefangen habe, gab es noch keine Proteste. Aber ich wusste, dass sich eine kleine Gruppe einmal die Woche getroffen hat und habe mich ihr angeschlossen. Damals waren wir noch sehr wenige. Ich bin bei Gorillas geblieben, weil ich gehofft habe, etwas verändern zu können – und natürlich auch, weil ich das Geld brauchte. Im Februar wurde dann ein Kollege von uns plötzlich gefeuert. Deshalb haben wir uns entschieden, einen Betriebsrat zu gründen.
Wir waren gerade in der zweiten Phase der Betriebsratsgründung im Juni, als ein weiterer unserer Kollegen gefeuert wurde. Wir wissen nicht genau, weshalb. Aber uns war klar, dass uns das allen drohen könnte. Da haben wir angefangen, zu protestieren und auf Social Media über die Missstände zu berichten. Inzwischen sind unsere Proteste groß geworden.
Wir haben eigentlich sehr einfache Forderungen: Wir wollen rechtzeitig bezahlt werden, ordentliche Fahrräder und Rucksäcke haben, und auf der Arbeit nicht sexistisch und rassistisch diskriminiert werden.
Manches ist seit den Streiks besser geworden, anderes dafür schlechter: Wir haben jetzt immerhin Winterjacken, aber dafür sind die Pausen so kurz, dass wir oft keine Zeit haben, um auf Toilette zu gehen.
Inzwischen streiken wir schon sehr lange und vielen ist schon gekündigt worden. Dafür ist die öffentliche Unterstützung inzwischen sehr groß. Deshalb glaube ich, wir können mit den Protesten tatsächlich etwas verändern. Ich bin sehr froh, dass so viele andere Menschen mit mir streiken. Denn ich sehe, dass wir hier etwas Gutes tun.
„Wir machen das jetzt einfach“ – Albin, 51, Zürich
Immer wieder habe ich mit meinen Nachbarn darüber diskutiert, was wir für eine bessere Landwirtschaft tun könnten. Der Klimawandel ist für mich das wichtigste Thema, das es gibt – und die intensive Landwirtschaft ist dafür mitverantwortlich. Wir haben uns gefragt: Wie können wir die großen Supermarktketten umgehen und regionale Bio-Landwirt:innen direkt unterstützten? Dann kamen wir auf die Idee, in unserer Wohnbaugenossenschaft einmal in der Woche Lebensmittel aus der Umgebung zu verkaufen.
So eine Idee ist eigentlich nicht schwer umzusetzen, aber es braucht ein Zugpferd. Jemanden, der sagt: Wir machen das jetzt einfach. Bei uns war das Silvio. Er hat bei einem Hof in fünf Kilometer Entfernung angefragt, ob wir dort für einen privaten Markt einkaufen können. Die waren sofort offen dafür. Er ist hingefahren und hat die Ware geholt. Die Resonanz bei den Nachbar:innen auf unser Angebot war dann so groß, das klar war: Wir machen weiter.
Am Anfang waren wir nur drei, vier befreundete Nachbar:innen, jetzt, zwei Jahre später, sind wir zu neunt. Jeder von uns steckt einmal pro Woche drei bis vier Stunden Arbeit hinein, die Aufgaben haben wir verteilt. Ich mache die Kasse, andere holen die Lebensmittel von den Erzeuger:innen oder verteilen Flyer, die auf den Markt aufmerksam machen. Wir verkaufen Gemüse, Brot, Milchprodukte, Eier. Alles biologisch und aus der Umgebung.
Wir haben mittlerweile eine Stammkundschaft, jeden Samstagmorgen kommen 30 bis 40 Leute aus unserem Wohnquartier und kaufen bei uns Lebensmittel für 700 bis 800 Franken. Wir stellen den Leuten einen Kaffee hin, viele bleiben dann noch eine Stunde und reden mit den Nachbar:innen. Der Markt ist auch als sozialer Treffpunkt wichtig geworden.
Aber das reicht uns nicht. Wir haben eine größere Vision: Wir wollen unser ganzes Wohnquartier mit Lebensmitteln versorgen. Zu unserer Genossenschaft gehören über 100 Wohnungen und etwa 300 Menschen. Ich glaube, unser Ziel ist ein bisschen unrealistisch, aber ich finde es gut, sich große Ziele zu setzen.
Mit neun Leuten und einem einzigen Verkaufstag werden wir das nicht schaffen, das ist klar. Also führen wir Diskussionen. Sollen wir jemanden fest anstellen? Wie finanzieren wir das? Es gibt auch andere offene Fragen. Zum Beispiel die, ob wir auch Fleisch verkaufen wollen. Oder Orangen aus Italien. Orangen wachsen in Zürich nicht, die können wir also gar nicht regional besorgen – aber wollen wir sie aus Italien holen?
Geld ist auch ein Thema. Wir kriegen alle keinen Lohn, sonst müssten wir die Preise erhöhen. Wir tragen so schon ein gewisses Risiko. Wenn wir am Ende des Tages noch Salatköpfe oder Milch übrighaben, müssen wir das selbst essen. Dann jammern meine Kinder, dass es das ganze Wochenende Salat gibt. Unsere Preise sind jetzt so wie bei biologischen Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Trotzdem sind unsere Produkte teurer als konventionelle Ware – und viele können sich das nicht leisten. Das Problem haben wir noch nicht gelöst.
Wir betreiben unseren Markt auf privatem Grund und für unsere Freund:innen aus dem Quartier. Probleme hatten wir noch nie. Es fahren immer wieder Streifenwagen im Quartier herum, bis jetzt ist noch kein Polizist gekommen und hat gefragt, was wir da machen.
„Am Anfang waren es nur ein paar Tulpen“ – Salvo, 42, Karlsruhe
Ich wohne in der Nordstadt. Auf mein Haus und die Häuser Drumherum werden neue Stockwerke gesetzt. Die Baustelle ist direkt vor unserer Tür, schon seit zwei Jahren, und es wird sie auch noch weitere Jahre geben. Die Baustelle sieht nicht schön aus. Also habe ich nach und nach entlang der Bauzäune Blumen gepflanzt und ein paar Beete angelegt. Der Platz wird gerade von niemandem benötigt, es macht mehr her als die triste, immer gleich erscheinende Baustellenoptik.
Ich bin an Depressionen erkrankt und mein Arzt hat mich darin bestärkt, etwas zu pflanzen, weil es mir schöne Erfahrungen bringt. Man sieht die Ergebnisse von dem, was man geschaffen hat. Das ist wunderbar. Ich beobachte auch immer wieder andere Menschen, die sich über die Pflanzen sehr freuen. Gerade weil die Beete nicht streng botanisch angelegt sind, sondern wachsen können, wie sie wollen.
Die Baustelle war aber nicht meine erste Pflanz-Aktion. Angefangen hatte ich mit dem Rasen direkt vor unserer Haustür. Am Anfang waren es nur ein paar Tulpen, dann kam Johanniskraut dazu, Bartblume und andere Arten. „Das sieht doch irgendwie schön aus“, dachte ich mir. Ich habe geschaut, dass ich für jede Jahreszeit ein paar Pflanzen habe, die blühen. Da habe ich mich nach und nach schlau gemacht und mir auch ein paar Kenntnisse über Pflanzen drauf geschafft.
Früher konnte ich nur Tulpen von Rosen unterscheiden – jetzt kann ich vielen Pflanzen Namen geben und habe einen Bezug zu ihnen. Meine Beete besuchen auch Tiere: unterschiedliche Käfer, Hummeln, Wildbienen, Heupferde.
Gerne würde ich den Menschen sagen: „Mach das auch!“ Aber ich kann natürlich nicht irgendwelche fremden Menschen überfallen. Vielleicht werden andere Leute ja aber auch aktiv, wenn sie meine Fläche sehen.
Ich habe für meine Blumen keine Genehmigung, aber beschwert hat sich bisher niemand. Meine Nachbarn hatten am Anfang nur zur Kenntnis genommen, was ich da machte. Die waren skeptisch und dachten, ich würde mich ausbreiten. Aber dann haben sie möglicherweise gemerkt, dass es wirklich gut aussieht. Zumindest hoffe ich das. In unserem Haus sind die Mieter:innen untereinander recht tolerant. Das hilft hier womöglich auch. Wenn jemand wollen würde, dass mein Blumenbeet geräumt wird, dann räume ich es.
Tatsächlich will ich aber unserem Vermieter vorschlagen, zwischen den Häusern kleine Garten-Parzellen anzulegen. Das wäre wunderbar für die Nachbarn. Gerade in Zeiten von Corona, wo wir zeitweise unsere Aktivitäten in der Freizeit arg heruntergefahren hatten, ist die Zeit im „eigenen Biotop“ eine willkommene Abwechslung, die mich persönlich erdet und in der ich etwas machen kann, was für mich und andere sinnvoll ist.
„Das hat mich als alter Knochen richtig berührt“ – Holger, 70, Itzehoe
Es war 2015. Meine Frau und ich hatten eine Anzeige aufgegeben, weil wir eine Wohnung vermieten wollten. Da rief mich ein Mann aus Brunsbüttel an und fragte mich, ob ich was gegen Ausländer habe. „Natürlich nicht“, sagte ich ihm. Er meinte dann, er habe da eine Familie, die sich für die Wohnung interessiere. Wir haben uns in einem Café getroffen und er hatte eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien dabei. Wir konnten uns nur auf Englisch unterhalten, die sprachen kein einziges Wort Deutsch. Nach dem Treffen haben mein Sohn und ich uns angeguckt und wussten sofort: Das machen wir jetzt.
Die Familie war schlau, das haben wir schnell gemerkt. Der Mann hatte Mathematik und Informatik studiert und die Frau Chemie, beide haben in Damaskus ihren Bachelor-Abschluss gemacht. Ihre beiden Söhne waren damals sechs und acht Jahre alt.
Am wichtigsten war mir, dass erstmal alle Deutsch lernen. Also habe ich jeden Tag Deutschkurse gegeben, mehrere Stunden lang. Ich hatte ja die Zeit, seitdem ich 60 Jahre alt bin, bin ich in Frührente. Ich habe ihnen erstmal unsere Schrift beigebracht, große Buchstaben, kleine Buchstaben. Am Anfang waren die Kinder noch richtig ängstlich, die kannten mich ja nicht, aber irgendwann sind die mir schon beim Reinkommen um den Hals gesprungen. Das hat mich als alter Knochen richtig berührt.
Jedes Mal, wenn ich vom Unterricht wieder nach Hause kam, war ich total begeistert von der ganzen Familie. Es ist ja vollkommen klar: Wenn man die Erfolge sieht und spürt, dass man positiven Einfluss nehmen kann, ist das ein unheimliches Erfolgserlebnis für alle, auch für einen selbst.
Ich habe auch die wichtigsten Behördengänge mit den Eltern gemacht, zum Jobcenter, zur Ausländerbehörde, habe übersetzt von Englisch zu Deutsch und Deutsch zu Englisch.
Heute ist der ältere der beiden Söhne auf einer Gemeinschaftsschule und will danach sein Abitur machen. Der Jüngere ist ein außergewöhnlich intelligentes Kind mit einem unheimlichen Fleiß. In der vierten Klasse gab es einen Vorlesewettbewerb auf Plattdeutsch, wir leben ja in Norddeutschland. Da habe ich mit ihm ganz viel geübt, er war richtig ehrgeizig. Und dieser kleine syrische Junge hat dann wirklich den zweiten Platz beim Plattdeutsch-Wettbewerb belegt! Das war unglaublich! Ich habe vor Freude geheult.
Der Vater hat irgendwann angefangen als Lehrer zu arbeiten und Kindern Deutsch als Fremdsprache beizubringen. Mittlerweile unterrichtet er endlich wieder seine Fächer: Mathematik und Informatik. Die Mutter hat einen Job als Chemikerin bei einer Firma bekommen, die Batterien herstellt, dort wurde sie sogar zur Managerin befördert!
Im vergangenen Jahr hat die ganze Familie die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Ich war 15 Jahre lang für die CDU in der Kommunalpolitik tätig, in den verschiedensten Bereichen, aber ganz ehrlich: Für mich ist diese Geschichte besser als jede Politik. Für mich ist das fast wie im Märchen.
Protokolle: Bent Freiwald, Rico Grimm, Theresa Bäuerlein, Rebecca Kelber; Redaktion: Thembi Wolf; Schlussredaktion: Tarek Barkouni; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger