Bei dieser Bundestagswahl, diesem Wahljahr insgesamt, das im Januar noch als Super-Ostwahljahr bezeichnet wurde, ist etwas anders als beim letzten Bundestagswahlkampf: Das Interesse an den ostdeutschen Bundesländern nimmt ab. Zumindest in der öffentlichen Debatte: Vor vier Jahren konnte kaum eine Diskussionsrunde oder eine Talkshow im Fernsehen ohne die obligatorische Frage nach dem ostdeutschen Befinden auskommen.
Dabei kommt der Osten in den Wahlprogrammen der Parteien 2021 sogar konkreter vor. 2017 waren die Union und Die Linke diejenigen Parteien, die dem Osten der Republik eigene Kapitel widmeten. Eigentlich keine Überraschung, hat sich doch Die Linke lange Zeit als die Anwältin für Ostdeutschland verstanden und die Union in vielen Teilen lange regiert. Ausgerechnet die SPD beschrieb aber ihr damaliges Vorhaben gerade mit einem Satz: „Das Ziel sind gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen, in Stadt und Land, in Ost und West, in Nord und Süd.“ Die Grünen haben 2017 nicht besonders auf Ostdeutschland geschaut, sondern vom „ländlichen Raum“ gesprochen, der gefördert werden müsse. (Spoiler: Das tun sie in diesem Jahr genauso.) Und bei der FDP taucht der Osten gar nicht auf.
Am Ende der Merkel-Kanzlerinnenschaft hat sich an diesen Plänen nicht viel geändert. Die Union und Die Linke widmen dem Osten wieder eigene Kapitel, während bei den anderen Parteien der Osten entweder nur am Rande oder gar nicht auftaucht. Bei der FDP sogar bewusst nicht, denn sie setze lieber auf „gesamtdeutsches Denken und Handeln auf Augenhöhe.“
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Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Parteien deswegen natürlich nicht auf Politik in Ostdeutschland verzichten. Komplett ignorieren lassen sich Lohnunterschiede, Infrastrukturprobleme und Strukturwandel nicht. Warum erscheint es aber so, als ob der Osten diesmal prominent ignoriert wird? Es gibt drei Gründe dafür, warum das Thema oft nur dann hochkocht, wenn mal wieder eine Umfrage besonders hohe AfD-Werte in ostdeutschen Bundesländern beschert, wie es zum Beispiel bei der U18-Wahl passierte, wo in Thüringen die AfD auf Platz 1 landete.
Grund 1: AfD-Erfolge sind eingepreist
Im Jahr 2017 waren es die Schockmeldungen über Erfolge der AfD im Osten, die für viel Aufregung sorgten. Dazu kamen die teils gewalttätigen Proteste gegen Geflüchtete und der Hass im Netz. In Amerika war im Januar Donald Trump als Präsident vereidigt worden, was die Sorge um rechtspopulistische Wahlerfolge noch verstärkte. In vielen Talkshows saßen AfD-Politiker:innen wie selbstverständlich und Alexander Gauland zeigte mit seinem „Wir werden sie jagen“ nach der Bundestagswahl das Selbstbewusstsein der Partei. Vier Jahre später: In Umfragen stagniert die AfD, sie erreicht nur noch ihre Kernwählerschaft und das Thema Migration ist 2021 auch weniger präsent. Es wirkt, als ob die übrigen Parteien die AfD eingepreist oder zumindest erkannt haben, dass sie einen Teil der AfD-Wähler:innen nicht mehr erreichen können. Oder wie Marco Wanderwitz, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, es formuliert: Nur ein geringer Teil der AfD-Wähler:innen sei „potenziell rückholbar“.
Grund 2: Corona-Proteste sind gesamtdeutsch
Während die Proteste gegen geflüchtete Menschen 2017 meistens an ostdeutschen Orten stattfanden, allen voran Pegida in Dresden, sind die großen Proteste auf der Straße diesmal ein gesamtdeutsches Phänomen. „Querdenken“ formiert sich in Baden-Württemberg und greift von dort auf die anderen Bundesländer über – auch auf ostdeutsche. Das sorgt dafür, dass die Aufmerksamkeit viel stärker verteilt ist. Es ist nicht mehr „der Osten“, der da auf einmal rebelliert, sondern eine ganze Bevölkerungsgruppe. Zumal die Corona-Leugner:innen so zersplittert sind, dass es für sie keine Partei als Sammelbecken gibt – auch wenn die AfD (mittelmäßig erfolgreich) versucht, Stimmen aus dem Milieu abzugreifen.
Grund 3: Wende- und Wiedervereinigungsjubiläen
Menschen lieben Jubiläen. 2019 und 2020 konnte Deutschland gleich zwei davon feiern. Erst war der Mauerfall, dann die Wiedervereinigung 30 Jahre her. Zwar konnte letztere durch Corona nur in kleineren Veranstaltungen gewürdigt werden, für Aufmerksamkeit hat das trotzdem gesorgt. Im Gegensatz zu 2017, als man noch auf diese beiden Daten vorausblicken konnte, sind die nächsten großen Feiern in ziemlich weiter Ferne.
Diese Erkenntnisse haben einen faden Beigeschmack. Denn auch vier Jahre nach der letzten Wahl sind die Lohnunterschiede immer noch da, bis heute sind in Entscheidungspositionen meistens Westdeutsche, der Strukturwandel (inklusive der Abkehr von der Braunkohle) bedroht weiter Regionen in Ostdeutschland und die AfD hat hier immer noch ihr Kernland. Es gibt aber auch eine gute Seite: Vielleicht ist es an der Zeit, die hyperaktive Debatte um „den Osten“, gut sichtbar am Spiegel-Cover „So isser, der Ossi“, in strukturierte Bahnen zu lenken. Eines darf dabei aber nicht passieren: die Belange der weniger sichtbaren ostdeutschen Regionen hinten anzustellen, weil es auf einmal nicht mehr laut von hier nach Berlin schallt.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert