Hans-Georg Maaßen sitzt isoliert in einem Publikum. Die Menschen um ihm herum scheinen ihn eher zu meiden.

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Politik und Macht

Fremd im Thüringer Land

In Südthüringen kandidiert der Westdeutsche Hans-Georg Maaßen für den Bundestag. Mit Positionen der AfD will er gewinnen. Wie kommt er an? Ich war beim Wahlkampf dabei und habe nachgefragt.

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Reporter für das digitale Leben

Als Hans-Georg Maaßen die Bühne betritt, kann sich die Frau kaum noch in ihrem Sitz halten. Ihr ganzer Körper wippt mit jedem Klatschen mit, so sehr freut sie sich, den CDU-Bundestagskandidaten zu sehen. Maaßen bekommt davon nichts mit, er setzt sich neben die anderen Konkurrent:innen auf die Bühne und wartet.

Es ist ein Dienstagabend, bis zur Bundestagswahl sind es weniger als zwei Wochen und der Moderator dieser Wahlarena im thüringischen Suhl fasst die Situation passend zusammen: „Willkommen im wohl spannendsten Wahlkreis von Thüringen, wenn nicht sogar Deutschlands.“ Es ist auch ein Willkommen an Maaßen in seiner neuen Heimat, ein Willkommen an den Neu-Thüringer, den vermeintlichen AfD-Besieger, den Provokateur aus Mönchengladbach, der seine Partei zwischen Abgrenzung und (oft heimlicher) Unterstützung schwanken lässt.

Aber von Abgrenzung ist im Saal nichts zu spüren. Wer hier sitzt, bekommt schnell das Gefühl, Maaßen hätte den Wahlkreis schon längst gewonnen. Alles, was er sagt, wird beklatscht und bejubelt. So als ob alles wahr sei, was immer wieder geraunt wird, nämlich dass die CDU sich nach rechts öffnen müsste, um der AfD Stimmen zu nehmen. Ist es das? Ich habe Hans-Georg Maaßens Wahlkampf verfolgt und ihn bei Terminen besucht. Am Ende stelle ich fest: Zwischen der öffentlichen Debatte, die oft über Twitter geführt wird, und den Reaktionen in Thüringen gibt es einen großen Unterschied.

Nach rechts öffnen, das heißt: Stimmung gegen Migration, gegen „die da oben“, gegen die Medien und alles, was auch nur einen Hauch rot oder grün wirkt. Und es heißt, dass die Thüringer CDU einen westdeutschen Ex-Verfassungsschutzpräsidenten holen muss, um diese Stimmung zu kanalisieren und zu einem Wahlerfolg zu bringen.

Die Geschichte dieser Rechts-Überholen-Kandidatur beginnt im April 2021, als bekannt wird, dass Maaßen als Nachfolger für den wegen der Maskendeals gerade zurückgetretenen CDU-Bundestagsabgeordneten Mark Hauptmann gehandelt wird. Die Idee wird schnell zum Politikum. Maaßen gilt als Merkel-Feind und inszeniert sich immer wieder als Kämpfer gegen eine angeblich nach links gerückte CDU. Das macht ihn nicht sonderlich beliebt bei Parteikolleg:innen. Manche legten ihm einen Parteiaustritt nahe, öffentlich unterstützt ihn kaum jemand.

Nur die CDU-Kreisverbände Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen, Sonneberg und Suhl, die den Direktkandidaten eben jenes Wahlkreises 196 am Ende aufstellen, sahen das wohl anders. Am 30. April fallen 37 von 43 Stimmen auf Maaßen. Der zieht daraufhin von Berlin nach Suhl und verbringt fortan seine Zeit damit, Südthüringen zu entdecken. Auf einer Wahlkampfveranstaltung berichtet Maaßen von seinen vergangenen Monaten: „Ich habe mir die Region wie ein Anwalt erschlossen.“ Als wäre Südthüringen eine Verhandlung vor Gericht, bei der am Ende ein Urteil steht.

Links eine Litfaßsäule mit einem Plakat für ein Veranstaltung mit Maaßen, rechts der sonnendurhflutete Marktplatz.

Hans-Georg Maaßen macht auf seiner Wahlkampftour auch Halt in Suhl. Er kennt zwar die Region nicht, aber das stört ihn selbst am wenigsten. © KR / Tarek Barkouni

Die Umfragen zeigen: Maaßen ist nicht der Beliebteste

Der Wahlkreis 196, das ist der südlichste Zipfel von Thüringen. Der Thüringer Wald und dessen südliche Ausläufer bestimmen die Landschaft, in großen Teilen so absurd schön, dass man seine Urlaubspläne umschmeißen und einfach bleiben möchte. Steile Berghänge, grünste Fichtenwälder und gewellte Felder, so wie es im Rennsteiglied heißt:

An silberklaren Bächen sich manches Mühlrad dreht,
da rast ich, wenn die Sonne so glutrot untergeht.
Ich bleib, so lang es mir gefällt und ruf es allen zu:
Am schönsten Plätzchen dieser Welt, da find ich meine Ruh.

Ob Maaßen hier seine Ruh findet oder nach dem Wahlkampf endlich Ruhe ist, entscheidet sich am Sonntag, bei der Bundestagswahl. Bei der letzten Bundestagswahl gaben hier noch 30 Prozent der Wähler:innen der CDU ihre Stimme, sie konnte sich gegen die AfD durchsetzen. Trotzdem gab es bei nahezu jeder Wahl in der jüngeren Vergangenheit ein Duell zwischen den beiden Parteien. Dabei ist die Region gar kein konservatives Bollwerk, wie etwa viele Wahlkreise im benachbarten Sachsen, wo Linke, Grüne oder SPD seit der Wiedervereinigung noch nie eine Wahl gewonnen haben. Von 1998 bis 2013 waren es eine SPD-Kandidatin und ein Linker, den die Bürger:innen von hier nach Berlin schickten. Und diesmal?

Intern, so verbreitet es Die Zeit, hätte die CDU den Wahlkreis aufgegeben. In vielen Umfragen führt der SPD-Kandidat Frank Ullrich, der schon sehr lange in der Region lebt, als DDR-Biathlet vier Olympiamedaillen holte und von den Wahlplakaten freundlich auf die Bürger:innen hinab lächelt. Auch in der Suhler Innenstadt, wo Ullrich sein Wahlkreisbüro hat, sind nicht viele bereit, Maaßen uneingeschränkt zu unterstützen. Ein Mann, um die fünfzig, mit einer C&A-Tüte in der Hand, hat seine Zweifel: „Was bringt mir denn ein Kandidat, der gegen seine Partei arbeitet?“ Er würde zwar vieles unterschreiben, was Maaßen sagt, aber am Ende sei Maaßen eben doch auch ein Politiker wie jeder andere auch. Andere zucken nur kurz mit den Schultern, sie verstehen die Aufregung um den Kandidaten nicht.

Grafik; "Wo Maaßen herkommt und wo er für den Bundestag antritt. Eine Karte Mitteldeutschlands mit Mönchengladbach und Wahlkreis 196 hervorgehoben, ergänzend die 460km Entfernung markiert.

© KR / Till Rimmele

Er ist der Neue in Thüringen

Im Suhler Congress-Zentrum finden normalerweise Konzerte statt, mal spielen hier die Leipziger Blechbläsersolisten, mal findet eine szenische Lesung mit dem ostdeutschen Schriftsteller Christoph Hein statt. Die Wahlarena, von den Lokalzeitungen organisiert, fällt aus der Reihe: Der Altersdurchschnitt ist – veranstaltungstypisch – näher an den 60 Jahren als an den 30. Ich beobachte die Szene von der Empore mit rot bezogenen Sitzen aus. Weit unter mir sitzen die Kandidat:innen des Wahlkreises Hans-Georg Maaßen, Heinz Jürgen Treutler (AfD), Sandro Witt (parteilos für die Linke), Frank Ullrich (SPD), Gerald Ulrich (FDP) und Stephanie Erben (Grüne). Als der AfD-Kandidat Heinz Jürgen Treutler die Grüne Annalena Baerbock „Lebenslaufgestalterin“ nennt, erntet er viel Gelächter und Applaus. Und als die Kandidatin der Grünen, die kurz vorher eine Wahlempfehlung für den Sozialdemokraten Ullrich ausgesprochen hat, Maaßen vorwirft, sich im Wahlkreis nicht auszukennen und von der notwendigen Zuwanderung spricht, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, johlt ein Großteil des Publikums hämisch auf.

Andererseits gibt es aber auch Applaus für die Aussage vom FDP-Kandidaten, als der von den vietnamesischen Auszubildenden in seinem „Plasteunternehmen” erzählt und sagt: „Es ist mir egal, wo jemand herkommt, mir ist nur wichtig, was die Person in unserer Gesellschaft will.“ Natürlich lässt sich nicht nachvollziehen, wer wann geklatscht hat. Aus den rotbesamteten Sitzen der Halle lässt sich aber beobachten, wie gespalten die Meinungen in der Region sind und hier längst nicht alle – selbst die Maaßen-Fans – AfD-Gedankengut befürworten.

Trotzdem: Mit urbanen Themen, wie der Energiewende oder neuen Radwegen, kann keiner der Kandidat:innen punkten. Selbst in der größten Stadt der Region und, zugegebenermaßen ehemaligen, Industriestadt Suhl nicht. Gerade das Thema Mobilität wird schnell emotional; dass kein:e Kandidat:in mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Debatte gekommen ist, hilft auch nicht unbedingt.

Aber es zeigt das Dilemma: Wer in der Region lebt, ist auf das Auto angewiesen, sonst sind Einkäufe, Arzt-, Konzert- oder Familienbesuche so gut wie unmöglich. Ein Verbot von Verbrennungsmotoren würde viele isolieren. Kein Wunder, dass selbst Maaßen den Ausbau der Zugstrecken und Busverbindungen fordert.

Maaßen kennt die Zauberworte

Er wirkt, während er spricht, manchmal wie ein Musiker, der auf Konzerten möglichst oft den Namen der Stadt sagt, um das Publikum zu begeistern: Immer wieder heißt es „hier in Südthüringen“. Obwohl er erst wenige Monate hier lebt, kennt er natürlich seine Zielgruppe. Die Region altert immer mehr, zuletzt waren über ein Drittel der Menschen älter als 60 Jahre. Junge Menschen ziehen immer noch weg, auch wenn die Wanderungsbewegungen langsamer werden.

Deswegen ist es wenig erstaunlich, wenn Maaßen erst eine Erhöhung des Rentenalters ablehnt, um kurz darauf sogar eine Reduzierung in Aussicht zu stellen. Wie er das finanzieren will? Hier hat Maaßen eine Idee, die ihm wohl erst einige Stunden zuvor gekommen sein dürfte: Der Außenminister, so schäumt er, habe ja gerade 100 Millionen Euro für Afghanistan versprochen. Die solle man nehmen. Dass diese Summe gerade mal ein Tausendstel von dem ist, was der Bund jährlich zur Rente zuschießt und dass es sich um humanitäre Hilfe handelt, die eine Hungersnot verhindern soll, lässt er unter den Tisch fallen. Es ist vielen Zuschauer:innen scheinbar auch egal.

Es mögen die Lauten sein, die in Suhl Stimmung machen. Aber wenn Maaßen auf die Zeitungen schimpft, die ihn kurz vorher zu einem der „größten politischen Arschlöcher“ gekürt hatten, und auf deren Veranstaltung er gerade sitzt, dann herrscht im Saal so große (zustimmende) Aufruhr, dass der Moderator, gleichzeitig Chefredakteur eben jener Zeitungen, sich zu einem „Ganz ruhig!“ hinreißen lässt.

Ein Gastraum der sich langsam leer. Lange Tische, mit vereinzelt Gruppen, am anderen Ende des Raumes steht eine Gruppe Menschen.

Freibier und Ideen der AfD: So versucht Hans-Georg Maaßen, auf seiner Wahlkampftour Stimmen abzugreifen. Nicht bei allen kommt er damit schlecht an. © KR / Tarek Barkouni

Erfurt ist 80 Kilometer entfernt – eine Unendlichkeit

Anfang September lädt Maaßen zu einem Gespräch im Gasthaus Beyersdorfer in Rieth ein. Die Grenze zu Bayern ist zu Fuß zu erreichen, im Gasthaus wird fränkisches Bier ausgeschenkt und das gerollte „R“ erinnert auch immer wieder an die kulturelle Nähe. Mit seinen 340 Einwohner:innen ist der Ort ein Stopp auf Maaßens Mission, jede einzelne Stimme selbst zu erkämpfen. Einen Tag zuvor war er im Örtchen Crock, wo ihn ein Team von Spiegel TV und der Thüringer Neonazi Tommy Frenck besuchten. In Rieth lässt sich davon niemand blicken. Der Moderator verspricht eine spannende Debatte und dass Maaßen es hier nicht leicht haben werde, die Riether zu überzeugen.

Nachdem Maaßen einen halbstündigen Vortrag über seinen Lebenslauf („ich habe mich nie als Wirtschaftsjurist identifiziert“), seine politischen Erfolge (Asylreformen!) und seine neu entdeckte Liebe für den ländlichen Südthüringer Raum beendet hat (ha!), bedankt sich der Moderator für den „faktenreichen Vortrag“, was nicht nach einem Lob klingt. Und auch die Zuschauer:innen wirken erstmal gelangweilt. Einer kommentiert die Beichte Maaßens, sich nie als Wirtschaftsjurist gefühlt zu haben, an seine Begleiter gewandt, mit einem spöttischen „Loser!“

Ganz anders ist es, als Maaßen die Versatzstücke aus seinem Anti-Merkel-Repertoire raushaut. Wenn er über die Berliner:innen lästert, die keine Ahnung vom Leben im ländlichen Raum hätten und eine sozialistische Herrschaft heraufbeschwört, nicken viele der knapp 50 Zuschauer:innen – worunter handgezählt gerade mal acht Frauen sind. Auch mit nicht gebauten Umgehungsstraßen und den inzwischen abgesagten Windrädern im Thüringer Wald lassen sich hier Punkte machen. Maaßen schafft es, bei den Zuschauer:innen konsequent das Gefühl der Abgehängten zu bedienen: Niemand interessiert sich für uns!

Besonders deutlich wird das in der Fragerunde: Ein älterer Mann berichtet von seinem Besuch mit dem ehemaligen Abgeordneten Mark Hauptmann im Bundestag. „Das war ja alles sehr schön“, erzählt er. „Aber der Mark Hauptmann ist nach 45 Minuten einfach verschwunden.“ Ein Landwirt aus der Region beklagt sich über die ausufernde Bürokratie, angefangen in Erfurt: „Die kommen nicht zu uns und schauen sich die Realität an.“ Maaßen schimpft fröhlich mit, besonders die rot-rot-grüne Landesregierung bekommt einiges ab. Nebenbei verspricht er noch, die Landeslisten bei Wahlen abzuschaffen, damit Politiker:innen wieder näher an der Bevölkerung seien.

Bei solchen Versprechen zeigt sich Maaßens größte Schwäche: Er mag den krudesten Vorstellungen in seiner Zielgruppe zustimmen, aber selbst wenn er gewählt werden würde, wäre sein Einfluss als einzelner Abgeordneter sehr begrenzt. Hier muss es dann schon reichen, wenn er einem Zuschauer verspricht, in seiner Antrittserklärung niemals zu gendern. Es ist wohl eines der wenigen Versprechen, das er sogar einhalten kann.

Bei den anderen Versprechen ist Maaßens einzige Hoffnung, dass sich die CDU-Fraktion im Bundestag nach der Wahl verändern wird. Das stellt er in Rieth und Suhl in Aussicht. Ganz unrecht hat er nicht: Mit Friedrich Merz hat er einen konservativen Merkel-Gegner als Verbündeten und sollte die CDU am Ende wirklich so stark verlieren, wie Umfragen aktuell zeigen, könnten sich viele Abgeordnete gezwungen sehen, nach rechts zu rücken.

Es ist dunkel geworden. Maaßen wird umringt von einer Traube Männer, die ihn mit Fragen löchern, und draußen vor dem Gasthaus sitzt noch eine Gruppe, um das letzte Bier zu trinken. Auf die Frage, wie sie die Veranstaltung fanden, folgt die Gegenfrage, wo ich denn überhaupt herkäme. „Aus Leipzig“, sage ich.
Die Antwort stellt sie nur halb zufrieden. Aber ein Mann antwortet dann doch:
„Ich stimme 100 Prozent mit ihm überein.“
Womit genau?
„Diese grüne Anti-Autopolitik geht gar nicht!“, schimpft er.
Der Rest der Gruppe nickt. Während im vorherigen Wahlkampf die Anerkennung der ostdeutschen Lebensleistung im Vordergrund stand, ist es diesmal die Fahrzeugleistung, die heute zwar gar kein Thema war, aber die am Schluss über die Wahl entscheidet.


Redaktion: Rico Grimm; Fotoredaktion und Grafiken: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert

Fremd im Thüringer Land

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