Ich starte einen wahnwitzigen Versuch: Ich möchte im Wahlkampf über Inhalte sprechen.
Ich habe hunderte Seiten Wahlprogramme von sieben Parteien gewälzt, um dort die Perlen zu finden: Ideen, die zu kleinteilig oder zu komplex sind, um auf Wahlplakate zu passen. Alle Ideen, die ich gleich vorstelle, sind sehr konkret. Es lässt sich herrlich – in der Sache – über sie streiten.
Ich habe während der Recherche auch Interessantes über die Parteien gelernt: Das Wahlprogramm der Linken hat offenbar niemand Korrektur gelesen, es gibt immer mal wieder Grammatikfehler. Das konkreteste am CDU-Wahlprogramm: Die Partei erwähnt hunderte Fördertöpfe, die sie weiterführen möchte, sollte sie weiter regieren. Und die FDP hält es offenbar für ein elegantes Stilmittel, circa sieben Absätze pro Seite mit „Wir Freie Demokraten“ zu beginnen. Und das über 60 Seiten lang.
Ich kann die Lektüre von Wahlprogrammen zu meiner eigenen Verwunderung trotzdem sehr empfehlen: Denn eine lange Liste von Vorschlägen zu lesen, wie die Welt auch aussehen könnte, macht tatsächlich Lust auf Politik.
Meine Auswahl von Ideen ist subjektiv. Ich habe aber versucht, alle Parteien zu berücksichtigen und die Ideen wegzulassen, von denen die meisten schon gehört haben dürften. Der Mindestlohn taucht in diesem Text deshalb nicht auf, sehr wohl aber ein TÜV für Finanzprodukte und eine Welt, in der wir Überstunden auch in 20 Jahren noch abfeiern könnten.
1. Mehr gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen
Ich wohne in Berlin. Und hier bietet, genau wie in fast jeder anderen europäischen Großstadt, der angespannte Wohnungsmarkt seit Jahren Gesprächsstoff, wenn es gerade sonst nichts zu bereden gibt. Natürlich gibt es jede Menge Vorschläge, was sich gegen die Wohnungsnot tun ließe. Zum Beispiel diese Idee, die vor allem Insider kennen: die Wohnungsgemeinnützigkeit wiederbeleben, um so einen nicht-profitorientierten Wohnungssektor zu errichten. Das schlagen Grüne, Linke und SPD vor, wobei die Grünen am konkretesten werden. Sie wollen am Gemeinwohl orientierte Wohnungsbauunternehmen von Steuern befreien und den Unternehmen jedes Mal 20 Prozent Zuschuss geben, wenn sie eine neue Wohnung bauen, modernisieren oder kaufen. Im Gegenzug sollen die Wohnungsbauunternehmen dafür sorgen, dass die Wohnungen langfristig an Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen vermietet werden. Die Grünen zitieren eine Studie, laut der es mit dieser Form der Wohngemeinnützigkeit möglich wäre, auch Neubau einigermaßen günstig zu vermieten und damit einem der großen Probleme entgegenzuwirken, das die Devise „Bauen, bauen, bauen“ mit sich bringt: teure Mieten.
2. Wer lange in Deutschland lebt, sollte hier auch wählen können
Jede achte Person, die in Deutschland lebt, hat keinen deutschen Pass, schreibt das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Das heißt auch: Jede achte Person in Deutschland darf nicht wählen, in Berlin sogar jede vierte. Das ist nicht besonders demokratisch, gerade weil sich viele von diesen Menschen sehr wohl dafür interessieren, was hier passiert. Die Linken fordern deshalb, dass jede:r, der länger in Deutschland lebt, auch hier wählen darf.
3. Nie wieder eine Stunde beim Bürgeramt warten
Die FDP träumt groß: Sie möchte eine Website, auf der sich alles, von der Steuererklärung bis zur Ummeldung, online erledigen ließe. Dafür wäre ein ganzer Haufen sehr trockener Reformen notwendig, immerhin müssten die Verfahren und die Software von allen Behörden in 16 Bundesländern vereinheitlicht werden. Aber sollte es funktionieren, hätten wir alle mehr Zeit, uns den schönen Dingen im Leben zu widmen. Wahlprogramme lesen zum Beispiel.
4. Überstunden jetzt ansammeln – und 20 Jahre später nutzen, wenn Kinder da sind oder man ein Sabbatjahr nehmen möchte
Du machst jetzt Überstunden. Aber statt sie dir ausbezahlen zu lassen oder sie abzufeiern, sammelst du sie auf einem Lebensarbeitszeitkonto für später. Diese Möglichkeit bieten bisher einzelne Firmen schon, sie birgt für Arbeitnehmer:innen aber auch einige Risiken. Die SPD will die minimieren, indem jede:r ein persönliches Zeitkonto bekommt, auf dem er:sie das Leben lang Überstunden sammeln kann, um sie später zu nutzen.
Die CDU hat einen etwas anderen Vorschlag: Familienzeitkonten. Dort sollen die Eltern gesetzlich garantierte Zeiten für Pflege und Erziehung ansparen, flexibel nutzen und auch zwischen den Elternteilen verschieben können. Beide Vorschläge klingen erstmal ziemlich technisch. Aber sie könnten dazu führen, dass sich das Arbeitsleben viel einfacher nach eigenen Bedürfnissen gestalten ließe.
5. Einen Finanz-TÜV einführen, um Spekulationen einzudämmen
An den Finanzmärkten entwickeln außerordentlich viele kluge Menschen jeden Tag neue Finanzprodukte, die oft noch nichtmal ihre ebenfalls außerordentlich klugen Kolleg:innen ein Büro weiter verstehen. Das ist ein Grundproblem, an dem sich seit der Finanzkrise nichts geändert hat und gegen das diese Idee vorgehen will. Denn neue Finanzinstrumente sind solange erlaubt, bis sie aus irgendeinem Grund ausdrücklich verboten werden. Die Linke will das Prinzip mit einem Finanz-TÜV umkehren. Damit müsste jedes neue Finanzinstrument erstmal zugelassen werden, bevor es in Umlauf gebracht wird. Sie fordert, dass nur Finanztransaktionen und -instrumente erlaubt sein sollten, die für die Gesellschaft oder die gesamte Wirtschaft nützlich sind. Wie genau bestimmt werden soll, was nützlich ist oder nicht, beschreibt die Linkspartei nicht.
6. Die Rückkehr der Nachtzüge
Du steigst abends in den Zug ein, schläfst acht Stunden einigermaßen gemütlich, frühstückst dann in aller Ruhe – und kommst um 10 Uhr morgens ausgeruht in Madrid an. Das geht gerade kaum, denn die Nachtzuglinien in Europa sind in den vergangenen Jahrzehnten zu einem großen Teil beendet worden. CDU, SPD, Grüne und die Linke wollen sie wiederbeleben.
7. Mindestsicherung von 1.200 Euro für alle
Das Bedingungslose Grundeinkommen ist ein interessanter Vorschlag, hat aber den Nachteil, dass auch die das Geld bekommen, die es gar nicht brauchen. Die Linke hat sich deshalb in ihrem Wahlprogramm für eine andere, ziemlich radikale Idee entschieden. Und zwar: Jede:r soll im Monat mindestens 1.200 Euro zum Leben haben. Du studierst? Du bekommst 1.200 Euro. Du hast keinen Job oder bist in Rente? Du bekommst 1.200 Euro. Und du arbeitest? Dann musst du keine Steuern zahlen, bis du über das Jahr hinweg – du ahnst es schon – 1.200 Euro pro Monat verdient hast. Der große Vorteil an diesem Vorschlag ist, dass alle abgesichert sind, ohne dass unsere bisherigen Sozialversicherungssysteme komplett umgebaut werden müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es gute Einwände gegen diesen Vorschlag gibt (zum Beispiel, was das mit der Inflationsrate machen würde), aber wir könnten ja mal drüber diskutieren. Oder?
8. Lobbyismus bei Gesetzesvorhaben sichtbar machen
Gehen wir mal davon aus, dass Lobbyismus an sich nichts Schlechtes ist. Er gibt immerhin unterschiedlichen Interessengruppen die Möglichkeit, Politiker:innen ihre Interessen zu erklären. Schwierig wird er aber, wenn Außenstehende nicht nachverfolgen können, wer da in welcher Form Politiker:innen etwas erklären darf. Eine Idee, um Lobbyeinfluss sichtbar zu machen, hat die Linkspartei. Sie will eine legislative Fußspur.
Wenn die Bundesregierung ein neues Gesetz vorschlägt, soll sie alle Interessenvertreter:innen und Sachverständigen auflisten, die das Ministerium angehört hat, als es den Gesetzesentwurf entworfen hat. Damit wären die Gesetzesvorhaben für alle, besonders auch für die anderen Parteien und für Journalist:innen leichter einzuordnen.
9. Linux statt Windows in den Behörden
Es gibt Computerprogramme, die Firmen wie Microsoft gehören. Und es gibt Programme, die niemandem gehören: sogenannte Open-Source-Software. Zum Beispiel kann ein Computer auch mit dem freien und grundsätzlich kostenlosen Betriebssystem Linux laufen statt mit der geschlossenen Software von Apple oder Microsoft. CDU, FDP, SPD, Grüne und Linke wollen, dass deutsche Behörden auf solche Open-Source-Software umsteigen.
10. Kommunen entschulden
Der Ort, in dem ich Abi gemacht habe, hatte zwar nur 10.000 Einwohner:innen, aber trotzdem ein Schwimmbad. Das können sich andere, viel größere Kommunen oft nicht leisten, denn sie müssen einen großen Teil ihres Budget dafür verwenden, Zinseszinsen auf jahrzehntealte Schulden zu bezahlen. Damit bleibt weniger Geld, um Freizeit- oder Kulturangebote für die Anwohner:innen vor Ort zu bezahlen. Damit die Unterschiede zwischen den Kommunen nicht mehr so groß sind, sprechen sich FPD, Grüne, Linke und SPD für Schuldenschnitte aus. Die Schulden sollen im SPD-Vorschlag je zur Hälfte von den Bundesländern und dem Bund übernommen werden. Die FDP möchte Kommunen nicht benachteiligen, die gespart haben und so schuldenfrei geworden sind. Deshalb will sie die Schuldenschnitte mit weiteren Maßnahmen verknüpfen: So sollen Unternehmen vor Ort gefördert, die Infrastruktur ausgebaut und die Gemeindefinanzen grundsätzlich reformiert werden.
Nachtrag, 01.09.2021: Ursprünglich wurden die Grünen bei den Nachtzügen außen vor gelassen, dabei fordern auch sie einen Ausbau. Wir haben das nachträglich ergänzt.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion : Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert