Heute vor 60 Jahren hat das DDR-Regime mit dem Mauerbau begonnen und seine Bevölkerung für Jahrzehnte in seinen Freiheiten eingeschränkt. Das ist fast doppelt so lange her, wie ich alt bin, weswegen ich vor diesem Jahrestag ein bisschen ratlos stehe. In meinem Kopf gibt es die Schwarz-Weiß-Bilder von übereinander geschichteten Betonklötzen und Stacheldraht, das berühmte Foto mit dem Polizisten Conrad Schumann, der an der Ruppiner Straße in letzter Sekunde in die Freiheit springt. Und es gibt natürlich den Satz von Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
Was dem folgte, kenne ich aus Erzählungen, Filmen, Fotos, in Farbe und musikalisch begleitet. 28 Jahre deutsche Teilung und dann den großen Moment der Wiedervereinigung, plus 30 Jahre Nachwendegeschichte. Der Mauerbau vor 60 Jahren als „Terrorhöhepunkt der SED-Diktatur“, wie es der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in der aktuellen Zeit formuliert, ist zentraler Teil der deutschen Identität – und die deutsche Teilung ja Grundlage für viele der Geschichten, die ich für Krautreporter schreibe. Aber während ich besonders zur Nachwendezeit ein emotionaleres Verhältnis habe, alleine schon, weil ich in dieser Zeit aufgewachsen bin, ist der Mauerbau etwas anderes: Geschichte.
Ich glaube, mit diesem Gefühl bin ich nicht allein. Es gibt eine Generation, für die Mauerbau, DDR und Nachwende genauso Geschichte sind. Die Otto-Brenner-Stiftung hat 2019 eine Studie herausgegeben, in der sie in ganz Deutschland junge Menschen nach ihrer Haltung zur DDR und zur Demokratie befragt hat – eine Bestandsaufnahme für die Generation der nach 1989 Geborenen. Die Studie ist in mehrfacher Hinsicht interessant:
Erstens zeigt sie, dass es auch in der Nachwende-Generation signifikante Unterschiede in den Einstellungen und Lebenserfahrungen gibt. In ostdeutschen Familien wird die Wiedervereinigung deutlich stärker bewertet (positiv wie negativ) und spielt auch am Esstisch eine viel stärkere Rolle.
Zweitens macht die Studie deutlich, dass sich ostdeutsche Jugendliche eher als Ostdeutsche fühlen, westdeutsche aber nicht als Westdeutsche. (Was unter anderem an der Wahrnehmung der ehemaligen DDR-Gebiete als „Block“ liegt).
Und drittens gibt es in der Studie eine Aussage, die banal klingt, aber mein Gefühl bestätigt: „Die Wiedervereinigung ist so lange her, dass sie für mich persönlich keine Rolle spielt.“ Drei Viertel der Befragten (aus Ost und West) bestätigten diese Aussage innerhalb der Studie und sagten damit aus, dass die Wiedervereinigung für sie keine Rolle mehr spielt. Manche reagierten sogar genervt auf die Frage.
Das ist ein Newsletter von Tarek Barkouni. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Meinungsbeiträge und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Wenn ich mit Nachwende-Jugendlichen aus ostdeutschen Bundesländern gesprochen habe, war der Tenor häufig: Sie wissen um die Folgen der Wiedervereinigung, haben sie den Erzählungen ihrer Eltern entnommen oder erleben sie heute noch, etwa, wenn ihre Heimatdörfer aussterben, weil eh alle wegziehen. Gleichzeitig ist die DDR-Geschichte schon weit genug weg. Ihnen geht es ums Heute oder um die Zukunft. Es geht um gleichwertige Bezahlung und Karrierechancen. Um Bus- und Zugverbindungen. Ostdeutschsein ist für sie nicht mit DDR, sondern schlechteren Lebensbedingungen verbunden.
Lasst die Jugend raus aus der Wiedervereinigung
Ich habe einen Vorschlag, mit dem ich mich bestimmt bei einigen unbeliebt machen werde: Lasst uns aufhören, die Jugend mit DDR und Wiedervereinigung zu nerven. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich fordere nicht, die Nachwendegeschichte und damit auch die DDR aus den Köpfen der Jungen zu streichen; niemand will diesen so wichtigen Teil der deutsch-deutschen Geschichte vergessen. Aber lasst uns die Konzentration und Energie auf Projekte werfen, die den Jugendlichen etwas bringen: Gestaltungsspielraum in den Lebensentscheidungen. Wer im sächsischen Mügeln bleiben will, soll dort bleiben können und nicht drei Stunden zur Arbeit fahren müssen. Wer weg möchte, sollte das auch ohne Probleme können.
Denn, auch das hat die Studie der Otto-Brenner-Stiftung gezeigt: „Die Unterschiede haben viel mit nicht gleichwertigen Lebenslagen und regionalen Perspektiven zu tun. Zudem ist Unzufriedenheit mit Demokratie und Gerechtigkeit kein genuin ostdeutsches Phänomen, sondern findet sich auch in Westdeutschland in Regionen, in denen die wirtschaftliche Lage nicht besonders gut ist. Davon, gute Lebensverhältnisse und Chancen in allen Regionen zu schaffen, in West und Ost, in der Stadt genauso wie auf dem Land, profitieren am Ende junge West- und Ostdeutsche gleichermaßen und ebenso die deutsche Gesellschaft als Ganzes.“
Und war das nicht irgendwie auch Ziel der Wiedervereinigung?
Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert