Bitte vervollständige diesen Lückentext: „Am Sonntag wird im ostdeutschen Bundesland ___ gewählt und die AfD wird wohl zweitstärkste Kraft.“
Auflösung: Sachsen-Anhalt.
Es hätte aber auch Mecklenburg-Vorpommern sein können. Willkommen zum nächsten Kapitel einer Saga, die seit gut sechs Jahren in deutschen Medien aufgeführt wird. Wir blicken auf den Osten, wenn in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern oder eben in Sachsen-Anhalt Landtagswahl ist. Wir interessieren uns meist nicht deswegen dafür, weil uns der Kaliabbau bei Zielitz interessiert, sondern: wegen der AfD. Wird sie stärkste Partei? Zweitstärkste? Schneidet sie so stark ab, dass es diesmal eine Mosambik-Koalition geben wird (Schwarz-Rot-Gelb-Grün)? Oder reicht Kenia (Schwarz-Rot-Grün)?
Für Teile des Ostens gilt mittlerweile das, was ein CDU-Landrat nach dem Wahlerfolg der AfD in Görlitz im Jahr 2017 gesagt hat: „Man hätte einen Besenstiel hinstellen können, der wäre auch gewählt worden.“
Sobald es um den Osten und die AfD geht, geht es bald um das Wesen des Ostdeutschen an sich. Schnell fallen Wörter wie: noch nicht in der Demokratie angekommen, rechtsextrem, abgehängt, unbelehrbar. Zuletzt war es der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, der Teile der Ostdeutschen eine größere Nähe zu Rechtsextremismus bescheinigt hat und Teile der AfD-Wähler:innen für die Demokratie verloren sieht: „Diese Menschen sind nicht durch gute Arbeit von Regierungen zurückzugewinnen. Leider.“ Es war abzusehen, was danach passierte: Die einen dankten Wanderwitz dafür, dass er das Problem Rechtsextremismus in Ostdeutschland so klar angesprochen habe. Die anderen kritisierten das Pauschale an der Aussage: Gerade er als Ostdeutschlandbeauftragter sollte es doch besser wissen.
Kriegt man die Ostdeutschen aus Ostdeutschland, aber Ostdeutschland nicht aus den Ostdeutschen?
Wanderwitz erklärt diesen vermeintlichen Mangel an Demokratiefähigkeit mit der DDR-Sozialisation. Ganz unrecht hat er damit nicht: In der Diktatur konnten die wenigsten Menschen lernen, ihre politischen Interessen zu erfüllen, geschweige denn öffentlich zu formulieren. Aber macht das eine:n gleich zu Demokratiefeind:innen? Wenn Wanderwitz wirklich recht hätte, würden auch die vier Millionen Menschen, die den Osten seit 1990 Richtung Hamburg, Stuttgart oder Duisburg verlassen haben, massenhaft die AfD wählen. Tun sie das? Kriegt man die Ostdeutschen aus Ostdeutschland, aber Ostdeutschland nicht aus den Ostdeutschen?
Diese Recherche basiert auf einer Leserfrage. In ihr machte Florian die nachvollziehbare Beobachtung, dass über die Ostdeutschen in Ostdeutschland ungezählte Texte erschienen sind. Sie sind psychologisiert, untersucht, befragt, womöglich verstanden und am Ende beschrieben worden. Da sind wir bei Krautreporter keine Ausnahme. Aber Florian fragt sich: „Wie tickt der massenhaft ausgewanderte Osten an der Wahlurne?“
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat für die Zeit die Daten von 18.000 Deutschen untersucht. Dort bescheinigen die Forscher:innen den Ostdeutschen, die in den Westen gegangen sind, einen Rest Ostdeutschland in sich getragen zu haben. Sie wählen häufiger die AfD und seltener die Grünen als Westdeutsche. Allerdings nicht so stark wie jene Ostdeutsche, die im Osten geblieben sind. Laut DIW haben zwölf Prozent der Ostdeutschen im Westen AfD gewählt. (Die Ostdeutschen im Osten: 18 Prozent. Die Westdeutschen im Westen: sechs Prozent. Die Westdeutschen im Osten: fünf Prozent)
Außerdem bleiben negative Einstellungen zu Migration auch bei jenen Ostdeutschen erhalten, die im Westen Kontakt mit Migration hatten, wie die Zeit-Untersuchung zeigt. Sie ist ziemlich einzigartig, es gibt kaum Forschung über Ostdeutsche im Westen. Sie zeigt aber: Wer ost-sozialisiert ist, bleibt es tendenziell auch.
Der Westen hat von der Ost-Abwanderung profitiert
„Die Millionen, die gingen“, nannte Zeit Online eine Datenauswertung 2019. Anhand der Melderegister konnte das Journalist:innen-Team sehr eindrucksvoll zeigen, in welchem verheerenden Ausmaß die Abwanderung Ostdeutschland nach der Wende traf.
Bis 2019 war knapp ein Viertel der ehemaligen DDR-Bürger:innen weggezogen. Was das für die Gebiete bedeutet, in denen ganze Straßenzüge leer standen, hat mein Kollege Christian hier beschrieben. Und er zeigt, wie das die Zurückgelassenen – allen voran die Männer – verändert hat: viel Wut im Bauch und viel Einsamkeit.
Um zu verstehen, wie es den Ostdeutschen geht, die in den Westen gegangen sind, ist wichtig zu wissen, wer da überhaupt gegangen ist. Denn man kann sagen: Was der Osten verloren hat, war für den Westen ein Gewinn. Ein Beispiel: Schon in den Fünfzigerjahren begann die erste Ausreisewelle in der DDR (was durch den Mauerbau 1961 bald brutal unterbunden wurde). Damals waren es besonders viele junge Menschen, die gut ausgebildet waren. Ärzt:innen, Ingenieur:innen, Akademiker:innen eben. Die Bundesrepublik brauchte in den Wirtschaftswunderjahren Nachschub an Arbeitskräften – die kamen aus dem Osten. Forscher:innen schätzen, dass die BRD durch die Zuwanderung Ausgaben für Bildung und Ausbildung in Höhe von 30 Milliarden D-Mark eingespart hat.
Und auch ein Statistiker beim Landesamt für Statistik Baden-Württemberg erklärt mir im schönsten Schwäbisch, dass die Ostdeutschen für das Land wahnsinnig viel getan haben. Sie waren ein Wirtschaftsfaktor.
Nach der Wende war Umziehen wieder möglich. Der massive Abbau von Arbeitsplätzen im Osten machte es sogar nötig. Und so suchten in den zwei Jahren nach der Grenzöffnung 800.000 Menschen im Westen Arbeit. Viele in Süddeutschland und Hamburg. Und zehn Jahre später waren es dann wieder die gut ausgebildeten, die den niedrigen Löhnen und dem offenen Rechtsextremismus entfliehen wollten.
Diesmal waren es mehrheitlich junge Frauen, wie mein Kollege Christian Gesellmann in seinem Text beschreibt. In der Bevölkerungsforschung nennt man das, was dem Osten passiert ist, auch „Brain Drain“: Die gut Ausgebildeten ziehen weg. Zwar ist dieser Trend inzwischen gestoppt, 2017 zogen zum ersten Mal seit der Wende wieder mehr Leute in den Osten als aus dem Osten weg, aber trotzdem haben auch die Universitätsstädte dort Probleme, ihr Absolvent:innen in den Städten zu halten.
Der Rabenmutterdiskurs im Westen lässt Frauen zurückkehren
Tim Leibert, ein Bevölkerungsforscher aus Leipzig, untersucht eine ganz bestimmte Gruppe Ostdeutscher: diejenigen, die aus dem Westen wieder zurückkommen. Zieht es dann diejenigen, die in den Westen gegangen sind irgendwann wieder zurück, weil sie sich ihr Ostdeutschsein bewahrt haben?
Manche, so beschreibt es Leibert, kommen zurück, weil es „menschlich nicht gepasst hat.“ Die Gründe seien dann oft „unterschiedliche Wertevorstellungen“. In seinen Untersuchungen hat Leibert auffällig viele Frauen gefunden, die nach der Geburt eines Kindes zurückziehen, weil sie in Westdeutschland als „Rabenmutter“ gelten, sobald sie wieder arbeiten wollen. Natürlich spielt dabei auch eine Rolle, dass es überhaupt wieder mehr Arbeitsplätze im Osten gibt.
Die Ost-West-Ost-Wanderung ist in der Migrationsforschung eine Besonderheit: „Wer aus dem Westen zurück in den Osten zieht, macht das in den seltensten Fällen wegen eines Scheiterns. Das ist einzigartig in der internationalen Rückwanderung“, sagt Leibert. Es ist nämlich so. Eine Rückkehr, so haben es die Wissenschaftler festgestellt, hat fast immer mit einer gescheiterten Existenz im neuen Land zu tun. Sie hat den Makel des Verlierens an sich, man „hat es in der Ferne nicht geschafft.“ Deswegen, so Leibert, werden ostdeutsche Rückkehrer:innen deutlich positiver in der alten Heimat empfangen. Sie haben Erfolg gehabt und ziehen aus privaten Gründen zurück, etwa weil sie ihren Alterssitz in ihrer Heimat einrichten wollen – oder eben, weil sie sich im Westen bis zuletzt fremd fühlen.
Es gibt eine ostdeutsche Integrationsleistung
Wer sich aber mit Weggezogenen unterhält, trifft auch Leute einer anderen Gruppe. Sie sagen oft Sätze wie: „Wir sind doch jetzt ein Land, muss auch mal gut sein damit.“ Nicole zum Beispiel.
Nicole musste ich lange überzeugen, mit mir überhaupt über das Thema zu reden. Nicole wählt „mal so, mal so“, früher häufiger CDU, heute auch mal Die Linke. Am Telefon hat sie keinen Dialekt mehr, wie viele andere Ostdeutsche, die den bewusst verlernt haben. Im Osten ist sie nur dann, wenn sie ihre Eltern auf einem Dorf in der Nähe von Magdeburg besucht. Eine dauerhafte Rückkehr ist für sie keine Option. Warum auch, ihr Leben findet in Bochum statt, wo sie lebt und arbeitet. Ostdeutsche Besonderheiten will sie nicht bei sich erkennen. Sie wird fast wütend, wenn ich sie darauf anspreche. Was solle das denn auch sein, wenn sie doch genauso lebe, wie die Nachbarsfamilie, deren Familienursprung in Schlesien liegt, die wiederum genauso lebe, wie die Ur-Ruhrgebietsfamilie ein paar Häuser weiter. Als ich Nicole frage, ob sie sich integriert oder assimiliert hat, überlegt sie lange: „Am Ende war ich vielleicht schon immer eine Gesamtdeutsche.“
Tim Leibert, übrigens in Heidelberg geboren und aufgewachsen, erklärt das so: „Jede Wanderung verändert einen auch. Was einer gewanderten Person passiert, prägt, wie man das wahrnimmt.“ Wer in einem Umfeld viel als Ostdeutscher wahrgenommen und gelabelt würde, fühle sich am Ende auch stärker als Ostdeutscher. Anders bei Nicole. Sie hat gleich Anschluss gefunden, ihre ostdeutsche Herkunft hat nie eine Rolle gespielt.
Für Leibert ist das Wahlverhalten weniger eine Frage der ostdeutschen Identität, als vielmehr der Erfahrungen, die man macht. „Natürlich kann es sein, dass man gerade westdeutsche Parteien wählt, weil man sagt, die DDR hat alles falsch gemacht. Oder dass man sozusagen aus Nostalgie die Linkspartei wählt, weil man zwar im Westen lebt, aber sieht, dass nicht alles so gut läuft und dass die Ostdeutschen eine starke Vertretung brauchen. Oder dass man die AfD wählt, weil man sagt, der Westen ist viel zu überfremdet.“ Leibert hält es für schwierig, die spezifisch ostdeutschen Erfahrungen mit dem Wahlverhalten für bestimmte Parteien in Verbindung zu bringen.
Ob wir später mal offene oder verschlossene Menschen werden, was wir denken und wählen, wird schon früh im Leben festgelegt, wie die Entwicklungspsychologie weiß. Oft sind es die Jahre um den 15. Geburtstag herum, die uns prägen. Dabei ist besonders wichtig, wo wir gelebt haben. Und das waren für die DDR-Bürger:innen eben sehr enge Grenzen, die auch noch von einem totalitären Regime kontrolliert wurden.
So hart die Diskussion nach Wanderwitz’ Satz über die diktaturerfahrenen Ostdeutschen war, am Ende ist vielleicht etwas dran. Vielleicht hat er die falschen Worte gewählt, vielleicht hat er generalisiert. Aber er hat nochmal gezeigt, dass darüber geredet werden muss, wie immer noch Menschen rechtsextreme Parteien wählen. Selbst wenn sie 30 Jahre Westerfahrung gesammelt haben.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert.