Vor Kurzem habe ich Matthias kennengelernt. Matthias ist 52 Jahre alt, wir saßen einige Zeit nebeneinander im Auto. Was mir genug Zeit verschaffte, ihn mit Fragen über sein Leben zu überhäufen. Matthias ist für mich das personifizierte Reporterglück: Weil ich aus meinem persönlichen Umfeld kaum Geschichten von Großeltern oder Eltern aus der Wendezeit kenne, nutze ich jede Gelegenheit, mit Ostdeutschen über diese Zeit zu sprechen. Diesmal war also Matthias dran und, wow, sein Leben hat mir mal wieder gezeigt, wie abwechslungsreich viele ostdeutsche Biografien sind. Und wie kreativ manche Menschen nach der Wende die Freiheit genutzt haben – oder vom Arbeitsamt dazu gezwungen wurden.
Matthias’ Geschichte beginnt vor der Wende: Sein Vater stellt 1986 einen Ausreiseantrag und darf deswegen seinen Beruf als Musiker nicht mehr ausüben. Also übernimmt Matthias mit 17 halb offiziell dessen Stelle – als DJ für eine getanzte Modenschau. Matthias hat mir das so erklärt: „Wir sind durch die DDR gefahren, ich habe mein Pult aufgebaut und Musik gespielt, während Frauen HO-Mode (des staatlichen Modeunternehmens) vorgetanzt haben.“
Matthias wird Videothekenbesitzer
Einmal, kurz nach der Grenzöffnung, seien sie sogar in Westdeutschland gewesen, erzählte mir Matthias, inklusive eines Trips quer durch die Bundesrepublik in DDR-Autos, nur, um dann vor einem quasi leeren Raum zu spielen. Das war dann auch die letzte getanzte Modenschau. Und Matthias kurz danach arbeitslos. Er war einer von über drei Millionen Menschen, die in den ersten zwei Jahren der Wende ihre Arbeit verloren.
Dieser Text ist ein Newsletter von Tarek Barkouni. Parallel zu unseren langen Magazin-Texten verschicken unsere Reporter:innen immer wieder kurze Analysen, Lesetipps und Rechercheskizzen, die einen Blick in ihre Arbeit hinter den langen Stücken ermöglichen sollen. Manche der Newsletter sind Kickstarter für anschließende, tiefere Recherchen. Und manche halten wir für interessant auch für Leser:innen, die die einzelnen Newsletter gar nicht abonnieren. Deswegen holen wir sie ab und an auf die Seite.
Matthias tut in dieser Zeit das, was auch viele andere tun: Er macht sich selbstständig. Zusammen mit seiner Frau eröffnet er eine Videothek im Haus seiner Eltern, das er übernommen hat, nachdem die beiden noch vor der Wende nach Westdeutschland ausgereist sind. Die erste in der Gegend. Mit 200 Filmen und selbstgebastelten Regalen fängt er an, auch wenn er „eigentlich gar keine Ahnung von Filmen und Videokassetten hatte.“ Und es läuft gut für ihn: Die Leute stehen Schlange für die Filme, die ihnen lange verboten waren.
Nach zwei Jahren erweitert er seinen Laden zum ersten Mal. Später weicht die Porno- einer Konsolenecke, noch später kommen eine kleine Bar und ein großer Fernseher zum Public Viewing für die Nachbarschaft hinzu. Matthias erzählt, während wir über sächsische Autobahnen fahren, wie sie sich an jede technische Veränderung anpassen mussten. Vom Video zur Video-CD zur DVD zur HD-DVD zur Blu-Ray-Disc. Für jede Konsole musste er entsprechende Spiele anbieten. Um dann vor Netflix und dem Corona-Lockdown zu kapitulieren.
2020 schließt Matthias seinen Laden. 30 Jahre nach der Eröffnung.
Nach der Schließung bietet er seine Hilfe überall an
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein; Kunden weg, Laden zu, ein Selbstständiger weniger in Deutschland. Aber Matthias, der von sich selbst sagt, er sei schon immer eher der Selbstständige gewesen, hat seit Jahren nebenbei gearbeitet. Er hat geahnt, dass die Videothek nicht ewig bleiben wird. Weil es den Job als Instandhaltungsmechaniker, den er als Jugendlicher gelernt hat, aber so nicht mehr gibt, bietet er seine Hilfe überall an. Er baut digitale Tafeln in Schulen auf, hilft beim Gartenbau und fährt mit seinem Transporter Umzüge. So landeten wir in einem Auto: Er schafft die Möbel meiner Freundin in ihre neue Wohnung.
Und während er neben mir sitzt und mir von seinen Plänen erzählt, bald jemanden einzustellen, der ihm die Schlepperei abnimmt, gehe ich im Kopf die Lebensläufe von Bekannten aus dem Westen durch, die in Matthias’ Alter sind. Diese Biografien gehen meist so: Ausbildung oder Studium, in den 1990er Jahren die ersten festen Jobs. Sich langsam hochgearbeitet und entweder durch Fortbildungen oder ein weiteres Studium in gut bezahlte Stellen gekommen, die sie vermutlich bis zur Rente behalten werden. Am ähnlichsten ist Matthias noch meinem Vater, der auch seit fast 30 Jahren selbstständig ist oder anderen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich oft lange ohne Arbeitserlaubnis durchgeschlagen haben.
Klar, gegen Matthias’ Leben stehen die zahlreicher Menschen, die zum Beispiel in den Westen gegangen sind, um sich dort eine Karriere aufzubauen, oder solche, die nie wieder eine Arbeit gefunden haben. Und Texte über erfolgreiche ostdeutsche Unternehmer:innen gibt es ja auch immer wieder. Matthias’ Geschichte hingegen ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich Ostdeutsche nach der Wende angepasst haben – weil sie es im Gegensatz zu den meisten Westdeutschen mussten. Seine Geschichte zeigt auch, wie kreativ viele sogar dann noch waren, als pragmatische Entscheidungen getroffen werden mussten. Solche Geschichten sind zu wenig bekannt. Dabei wäre es so wichtig, sie zu erzählen, gerade, weil sie die Stärke vieler Ostdeutscher zeigen.
Deswegen habe ich eine Idee: Ich möchte solche Geschichten sammeln und sie entweder in meinem Newsletter oder hier auf der Seite veröffentlichen. Schreibe mir gerne eine E-Mail, wenn dir jemand einfällt oder du selbst deine Geschichte erzählen möchtest.
Schlussredaktion: Susan Mücke