Als im Jahr 2015 bei Pegida Tausende Menschen gegen die Flüchtlingspolitik auf die Straße gingen und bei jeder Wahl die AfD in Ostdeutschland stärker wurde, haben sich viele Menschen gefragt: „Was ist da los im Osten?“ Auch wir bei Krautreporter haben immer wieder versucht zu erklären, warum die Wut so groß ist. Wir haben die Treuhand erklärt, wirtschaftliche Ungleichheit beschrieben und ostdeutsche Dialekte wieder hoffähig gemacht. Der Politologe Michael Lühmann, der in Leipzig aufgewachsen ist und jetzt in Göttingen lebt, kritisiert, wie seit einigen Jahren über Ostdeutschland geschrieben und gesprochen wird: Für ihn ist die Diskussion schon lange nur noch ein identitärer Wohlfühldiskurs, der viele im Osten davon entlastet, Probleme wie Rassismus anzugehen.
Herr Lühmann, auf Twitter streiten Sie sich immer wieder mit ostdeutschen Autor:innen. Als Jana Hensel in der Zeit mehr Geld, Macht und Quoten für Ostdeutsche forderte, und zwar als Mittel gegen den Rechtsruck, twitterten Sie: „Auch die x-te Wiederholung von Entschuldungsdiskursen für rechtes Denken bleibt ein Entschuldungsdiskurs. Wenn Geld, Macht, Quote die Faktoren wären, dürfte das reiche Heilbronn nicht mit knapp 16 Prozent AfD wählen (Rostock 12,8 Prozent). Und: Die Hensel’sche Hybris nervt.“ Ist das nicht ein bisschen hart?
Wenn ich mir manche Diskussionen über Ostdeutschland ansehe, wie sie aktuell geführt werden, schwanke ich manchmal zwischen lachen und weinen. Das ist 40-mal in der Woche die gleiche These, dass die Ostdeutschen Opfer einer westdeutschen Hegemonie seien. Es ist immer der gleiche Punkt, nur in andere Wörter gegossen. Und es ist ja auch eine schöne Geschichte: Ich erzähle den Ostdeutschen, warum sie schon wieder an nichts schuld sind. Ich kann auch verstehen, dass das viele Ostdeutsche gut finden. Natürlich will ich doch lieber hören, dass ich Opfer der Verhältnisse bin, als dass ich selbst dafür Verantwortung trage.
Ich finde es gut, dass seit fünf Jahren mehr über Ostdeutschland diskutiert wird, denn ich habe dadurch einiges verstanden. Was genau stört Sie denn an der Diskussion?
Wir führen einen ostdeutschen Identitätsdiskurs, der versucht, die Ostdeutschen zum Opfer zu machen und sie damit infantilisiert. Aber die Ostdeutschen als Opfer der Verhältnisse? Das ist doch Quatsch. Sie sind Akteure, bei der Wahl 1990, in Freital, bei Pegida. Es gibt auch im Ruhrgebiet einen massiven Strukturwandel, aber dort gibt es Pegida nicht.
Ein anderer Vorwurf in diesem Diskurs: Der Westen interessiere sich angeblich nicht für den Osten und sehe sich selbst als Normalzustand. Ja nun, die Bundesrepublik wurde intellektuell immer als Ganzes gedacht, das ganze Grundgesetz atmet diesen Gedanken. Die Idee, dass es einen Westen gibt, ist da gar nicht drin angelegt.
Und ein dritter Punkt: Statt über tatsächliche Ungleichheiten zu sprechen, wie das Nord-Süd-Gefälle, das es in ganz Deutschland gibt, übrigens auch innerhalb von Ostdeutschland, kleistern wir alles mit einer vermeintlichen ostdeutschen Identität zu. So betreiben wir Identitätsprosa.
Was meinen Sie mit „vermeintlicher ostdeutscher Identität“? Die gibt es doch?
Identität ist immer da. Aber in dieser Debatte basteln Deutungseliten eine ostdeutsche Identität, die wesentliche Teile der Geschichte ausklammert und ordnen Menschen wegen ihrer Herkunft dieser Identität zu. Diese Identität entsteht überhaupt erst durch diese Eliten und gerade nicht durch den Ostdeutschen auf der Straße.
Michael Lühmann ist Wissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung mit den Schwerpunkten Ostdeutschland, AfD und die Grünen. Im Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit steht unter anderem deutsch-deutsche Generationengeschichte und die Geschichte der DDR. Außerdem arbeitet er als freier Autor für verschiedene Medien. Er wurde 1980 in Leipzig geboren.
Sie haben in einem Zeit-Artikel beschrieben, welche Widersprüche Sie erlebt haben, als Sie mit Anfang 20 von Leipzig nach Göttingen gingen. Und wie es für Sie war, in den Nachwendejahren im Osten aufzuwachsen. Trotzdem kritisieren Sie die Leute, die wie Sie über diese Widersprüche schreiben. Das kriege ich einfach nicht zusammen.
Woran ich immer kranke, ist dieser massiv sichtbar gewordene ostdeutsche Rechtsruck. Den habe ich damals kritisiert und den kritisiere ich heute. Und ich kritisiere um Gottes willen nicht die Leute, die dagegen ankämpfen. Ich kritisiere die Leute, die versuchen, diese Probleme mit ostdeutscher Identitätspolitik zu überkleistern und eine West-Ost-Geschichte oder irgendeinen Opferdiskurs draus machen. Das ist eine psychologische Entlastung für die Menschen. Sie müssen sich dann nicht mit den dunklen Seiten beschäftigen.
Die DDR-Grenze ist bis heute auf vielen Karten sichtbar. Ostdeutsche verdienen immer noch knapp 17 Prozent weniger als ihre westdeutschen Kolleg:innen. Das lässt sich doch nicht leugnen.
Ich wäre der Letzte, der gegen Gleichheit wettert. Diese Ungleichheiten sind historisch gewachsen und brauchen sehr lange, um zu verschwinden. Aber wir können auch andere Karten angucken: Betrachtet man zum Beispiel die Demokratiezufriedenheit, dann sieht man Leuchttürme im Osten. In Leipzig ist die Zufriedenheit größer als im westdeutschen Schnitt. Oder man stellt Gebiete im Ruhrgebiet gegen Gebiete in Ostdeutschland – dann drehen sich Verhältnisse um. Zumal Ost- und Westdeutschland sich auch schon wesentlich näher sind, als es oft erscheint. Das ökonomische Gefälle zwischen Nord- und Süddeutschland ist größer als das zwischen Ost und West. Was aber richtig ist: Die Ostdeutschen haben kein Vermögen und nichts zu vererben.
Also sind die Ostdeutschen doch irgendwie Opfer der Verhältnisse.
Es gibt natürlich die Handwerker, die sich nach 1990 eine goldene Nase verdient haben und jetzt auch etwas vererben. Aber das ist eben eine kleine Schicht. Es ist wahnsinnig schwierig, dieses Problem zu lösen. Das ginge über Umverteilung, Lastenausgleiche oder eine Vermögenssteuer. Oder, als Abkürzung: Heiratet doch in reiche westdeutsche Familien ein!
Meinen Sie das ernst?
Natürlich etwas bissig, aber nicht ganz unernst. Heiratspolitik galt ja eigentlich immer der Abwehr vom Aufstieg Nicht-Privilegierter, aber warum nicht den Spieß rumdrehen? Was sich hinter meinem Spruch noch verbirgt: Es gibt nach wie vor auf beiden Seiten gewisse Vorbehalte. Ich habe 2004 als Ostdeutscher eine Westdeutsche geheiratet. Damals meinte der Standesbeamte, ich sei eine große Ausnahme. Ob wir da heute weiter sind, ich weiß es nicht.
Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan vergleicht Ostdeutsche mit Migrant:innen. Ihre These: Die Erfahrungen, in einer fremden Gesellschaft anzukommen und dort Ausgrenzung zu erfahren, seien vergleichbar. Sehen sie die Ähnlichkeiten auch?
Ich habe als junger Student in Göttingen bei Naika Foroutan studiert und viel gelernt, etwa über notwendige Abwägungen in schwierigen diskursiven Feldern. Aber der Vergleich ist ein Hohn, wenn man sieht, wie massiv die Angriffe gegenüber Migrant:innen seit der Wende sind. Dass man jetzt auch noch Ähnlichkeiten herstellen will, nur weil der Westdeutsche sich angeblich nicht so sehr für den Ostdeutschen interessiert? Das sind doch völlig unterschiedliche Qualitäten.
Sie forschen selbst über Ostdeutschland, schreiben viele Texte, die sich mit Phänomenen in Ostdeutschland beschäftigen. Wenn es nicht um eine ostdeutsche Identität geht, was schlagen Sie vor?
Ich halte das Konzept Erfahrungsraum für die wesentlich bessere Kategorie. Erfahrungsraum heißt, man teilt eine gemeinsame Geschichte und die fängt im Falle von Ostdeutschland nicht 1989 oder 1990 an, sondern lange davor und ist über Generationen tradiert. Und Erfahrungsraum bedeutet: Die Geschichte kann sich völlig unterschiedlich auswirken. Das Konzept Erfahrungsraum kann auch die inkludieren, die 1990 aus dem Westen rüberkamen und seit 30 Jahren an diesem Osten mitarbeiten. Außerdem inkludiert es all die Geschichten von Migrant:innen in Ostdeutschland wie beispielsweise die teils brutalen Erfahrungen der vietnamesischen Community, die in diesem ostdeutschen Diskurs oft an den Rand gedrängt werden.
Das klingt für mich eigentlich nach ostdeutscher Identität in einer sehr offenen und liberalen Version.
Identität, wie sie im ostdeutschen Diskurs heute eine Rolle spielt, bedeutet häufig, jemanden auszuschließen. Man hat einen Kern – und da gehört jemand dazu und der andere nicht. Das ist Identitätsprozessen eingeschrieben, so liberal man die auch anlegen möchte. Diese ostdeutsche Identität wird ja bewusst in Abgrenzung zu anderer – einer vermeintlich westdeutschen – Identität gebaut und grenzt massiv nach außen aus. Was ist ein Ostdeutscher? Man muss dann und dann geboren, so und so lange dagewesen sein. Das ist doch alles Quatsch und endet in letzter Konsequenz und arg zugespitzt bei „Blut und Boden“. Das kann kein Kriterium sein, um Ostdeutschsein festzulegen.
Damit sprechen Sie mir ehrlich ein bisschen aus der Seele. Ich selbst habe ja mit meiner westdeutschen Ost-Identität gehadert. Ich bin seit zehn Jahren in Ostdeutschland. Wann bin ich Ostdeutscher?
Ich habe da leider auch keine Antwort. Wenn man Jahre in Ostdeutschland gelebt hat, gehört man schon irgendwie dazu und irgendwie auch nicht. Man lebt sich ja in dem Moment in die Erfahrungsräume der anderen und die Erfahrungsräume der anderen in die eigenen mit ein. Das ist aber ein Verhandeln mit sich. Und das gilt nicht nur für den Osten. Ich lebe zum Beispiel seit 2002 in Niedersachsen, aber ich fühle mich weniger niedersächsisch, als vielmehr norddeutsch im Sinne von See, Fischbrötchen und Moin.
Sie gehören zu den vielen Ostdeutschen, die weggegangen sind. Was verbindet Sie denn noch mit dem Osten?
Eine komische Mischung aus meinem Beruf, Herkunft, Sorgen und Verbundenheit. Ich bin in Leipzig geboren, aufgewachsen, und mit 22 weg. Dieser Weggang war keine ganz bewusste Tat. Das hat sich so ergeben und war auch mal ganz schön, die Stadt zu verlassen, in der man geboren ist. Das Erste, was ich in Göttingen gespürt habe, in einer westdeutschen, eher grünen Stadt: Ich hatte nachts auf der Straße mit langen Haaren keine Angst mehr. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass ich in Leipzig immer Angst gehabt hatte. Als mir das Jahre später klar wurde, hat es meine kritische Grundhaltung gegen bestimmte Prozesse im Osten sicherlich verstärkt.
Warum haben Sie denn als Politologe über Ostdeutschland geforscht?
An der Uni hieß es: „Du kommst doch von da, du kennst dich ein bisschen aus.“ Also habe ich mich mit Ostdeutschland beschäftigt. Es macht ja auch durchaus Sinn, ich kannte mich ja dort aus. Als 2014 Pegida entstand, fing es richtig in mir an zu arbeiten. Was ist das? Wo kommst du her? Was macht das mit dir? Auf einmal musste man sich mit Ostdeutschland beschäftigen, weil Pegida eben da war.
Trotzdem sah die Diskussion ja oft so aus, dass Klischees über Ostdeutschland verbreitet wurden und der Spiegel Cover druckt, auf denen es heißt: „So isser, der Ossi.“ Können Sie nicht verstehen, dass so etwas Abwehrreflexe auslöst?
Es gibt Ostdeutsche, die sich angegriffen fühlen, wenn man Pegida als etwas Ostdeutsches kritisiert. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich fühle mich davon angegriffen, dass es Ostdeutsche gibt, die sich vom Rechtsextremismus nicht angegriffen fühlen. Als Ostdeutscher darf man sich nicht hinter irgendwelchen Dingen verstecken. Es gibt in Ostdeutschland eine latent höhere Menschenfeindlichkeit, es gibt einen latent höheren Rassismus. Und es gibt auch eine Verdrängungskultur, die Probleme bei sich selbst zu verorten und zum Beispiel zu erzählen, der Rechtsextremismus sei ab 1990 durch die Politik der Treuhand gekommen.
Woher kommt er denn?
Dieser Opferdiskurs ist eine Enthistorisierung dessen, was wir über ostdeutsche Gewaltstrukturen wissen. Die letzte Generation der DDR, die der um die 1970 herum Geborenen, der letzten Kinder der DDR also, haben Ende der Achtziger dem Sozialismus abgeschworen und sich rechten Einstellungsmustern genähert. Das sind die Schlägerkids der Neunzigerjahre, der Baseballschlägerjahre, wie das Christian Bangel nennt. Sie sind in den Nullerjahren ein bisschen verschwunden. Da haben sie Familien gegründet, Kinder bekommen. Und diese fünfzigjährigen Männer wählen heute mit Abstand am häufigsten die AfD.
Aber warum müssen sich junge aufgeklärte liberale Ostdeutsche für solche Rechtsextremen entschuldigen? Ich entschuldige mich ja auch nicht bei islamistischen Attentaten, nur weil mein Vater Araber ist.
Für die Taten einer radikalisierten Minderheit würde ich mich auch nicht rechtfertigen. Das amerikanische Kapitol haben im Januar weiße Christen gestürmt. Da würde ich mich als weißer Christ auch nicht zuständig fühlen: Es ist eine radikalisierte Minderheit. In Sachsen aber wählen in der Altersgruppe um die 50 über 40 Prozent die AfD. Das ist die Mehrheitsgesellschaft. Diese rechtsextremen Haltungen treffen in Ostdeutschland oft auf eine indifferente Nicht-Haltung. Das stört mich wahnsinnig. Wir sind verantwortlich für das, was um uns herum passiert. Man kann sich nicht als Ostdeutscher ständig gekränkt fühlen und dabei gleichzeitig ständig andere herabsetzen.
Aber das tun doch überhaupt nicht alle.
Befragungen zeigen: Es gibt massive Vorurteilsstrukturen gegenüber Muslimen, gegenüber Zugewanderten, gegenüber Westdeutschen, sogar ganz massiv. Sobald es so etwas aber gegenüber Ostdeutschen gibt, fühlt man sich wahnsinnig gekränkt. So funktioniert das nicht. Ich lebe hier in Göttingen, einer liberalen Stadt, in einem Universitätsumfeld. Ich habe hier als Ostdeutscher nie irgendeine Zurücksetzung erlebt. Umgekehrt musste sich meine Frau, die zwei Monate Praktikum in Ostdeutschland gemacht hat, jeden Tag mehrfach Sprüche anhören als „Wessi“.
Ich bleibe dabei. So verhalten sich nicht alle. Ostdeutschland ist doch viel diverser als es immer dargestellt wird.
Vollkommen richtig. Der Osten ist kein Monolith. Das wäre auch absurd zu behaupten. In Chemnitz wählt etwa ein Viertel die AfD und in Rostock mit 12,4 Prozent gerade mal die Hälfte. Und das, obwohl Rostock wirtschaftlich wesentlich schlechter dasteht als Chemnitz. Es gibt innerhalb von Ostdeutschland eine große Differenz. Im Norden hat man sich auch schon immer lustig gemacht über die Sachsen und ihren Dialekt. Und die Mecklenburger waren für die Sachsen die Fischköppe. Oder vergleichen Sie das katholische Eichsfeld, wo die AfD immer noch schwach ist, mit dem Erzgebirge, wo Evangelikale und die AfD den Ton angeben und wo sich Predigten wie das Mittelalter anfühlen. Das meine ich mit Differenz innerhalb des Osten.
Was ist denn Ihre Erklärung für den Rechtsextremismus in Ostdeutschland?
Das ist historisch lange gewachsen und hängt an sehr starken Einstellungsmustern. Dennoch wird es dann gern mit Enttäuschungen begründet. Und die Ostdeutschen haben ja eine gigantische Erwartungsenttäuschung erlebt. Aber diese Enttäuschung kann man nicht einfach auf eine ostdeutsche Geschichte nach 1990 schieben. Die Frage ist doch vielmehr: Welche Erwartungshaltung hatte ich eigentlich 1989? Und, basierte diese Erwartung womöglich auf einem Selbstbetrug und einer Lebenslüge.
Die den Westdeutschen ja durchaus entgegenkam, weil sie so der DDR-Bevölkerung eine schnelle Wiedervereinigung schmackhaft machen konnten.
Das wollten „wir“ Ostdeutschen schon auch selbst. Und „wir“ wussten damals natürlich, dass der Westen nicht nur golden glänzte. Wer Tagesschau gesehen hat, wusste, dass es eine steigende Arbeitslosigkeit gab, kannte auch die sozialen Probleme. Aber an der Wahlurne wollte nur eine verschwindende Minderheit einen dritten Weg. Die Mehrheit setzte auf „blühende Landschaften“ und, nun ja, Karstadt.
Aber das kann man doch niemandem vorwerfen.
Nein, so etwas ist vollkommen legitim. Die Ostdeutschen kamen aus einer Mangelgesellschaft, die sich dennoch stark über Konsum definierte, wie jüngere Forschungen zeigen. Aber 30 Jahre später sollte man dann mal auch ehrlich darauf zurückkommen. Lafontaine und andere hat man 1989/90 im Osten dafür verachtet, dass sie sagten, die schnelle Wirtschaftsunion wird Riesenprobleme produzieren. Es gibt innerhalb des Ostens eine große Debatte, zum Beispiel über Wendegewinner und Wendeverlierer. Oder die Frage, wie man zur DDR stand. All diese inneren ostdeutschen Debatten können nicht richtig geführt werden, weil sie zugekleistert werden mit einem „Wir sind alle Ostdeutsche“, wir werden vom Westen abgewertet oder ignoriert.
Trotzdem haben insbesondere die vergangenen fünf Jahre und die Debatten über Ostdeutschland einiges in Gang gebracht. Die Stärkung des ländlichen Raums, fehlende Repräsentation, Ungleichheit – das alles kommt jetzt auf den Tisch.
Ich habe immer gesagt, wir müssen über Ostdeutschland reden, über Vermögen, über Leben, Erfahrungen, es gibt da ein großes Problem. Das ist jetzt alles da und das ist wunderbar. Aber wie wir darüber reden, das ist so eng. Es konstruiert diesen Ostdeutschen in einem Ist-Zustand, der schon vor Jahren beschrieben wurde. Mir fehlen Stimmen in der Debatte. Warum findet ein Ingo Schulze in diesen Debatten so wenig statt? Der die DDR zum Teil bis ins Groteske überspitzt, wenn er die Hoffnungen der Ostdeutschen auf gläserne Tankstellen und beheizte Straßen im Westen beschreibt. Oder Peter Richter, der schon 1989 und 1990 beschreibt, wie in Dresden die Nazis wüten, wie diese Revolution ins Nationale zu kippen droht. Die drastische Beschreibung des Leipziger Ostens bei Clemens Meyer. Oder etwa die wissenschaftlichen Erträge des Historikers Patrice Poutrus, der so viel zu Fremdsein und Rassismus in der DDR und Ostdeutschland zu sagen hat. Sie alle werden in diesem ostdeutschen Opferdiskurs bisweilen an den Rand geschoben.
Also geht es Ihnen nicht nur um die Inhalte der Diskussion, sondern auch die Teilnehmer:innen?
Es geht auch um die migrantische ostdeutsche Perspektive. Die findet in diesem sehr weißen ostdeutschen Diskurs kaum statt. Es gibt nur weiße Opfer von westdeutscher Meinungshoheit. Wenn wir die Diskussion öffnen, uns mal fünf Jahre mit offenem Visier hart auseinandersetzen, auch mit den Schattenseiten, die die Ostdeutschen selbst zu verantworten haben, dann können wir vielleicht mal sagen: Okay, jetzt haben wirs irgendwie verstanden. Aber wenn wir wie jetzt das Ergebnis an den Anfang des Diskussionsprozesses stellen und immer nur wiederholen, dass Ostdeutsche Opfer sind, dann werden wir nichts verstehen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele.
In einer vorherigen Version des Textes wird Michael Lühmann als Soziologe betitelt. Tatsächlich ist er Politologe und Historiker