Ein jung-wirkender Mann mit altertümlicher Kappe spricht in ein Megaphone.

Getty Images / via Anadolu Agency/ Tayfun Coskun

Politik und Macht

Gamestop – das Spiel beginnt erst jetzt

Eine Gruppe Kleinanleger:innen bringt große Hedgefonds um Milliarden. Das ist mehr als der typische Irrsinn an der Börse – der Coup zeigt, wie das Finanzsystem der Zukunft funktionieren könnte.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Als Keith Gill im September 2019 im Onlineforum „Wallstreetbets“ eine Investmentidee vorstellt, die ihn zum Millionär machen, einen milliardenschweren Hedgefonds an den Rand des Ruins bringen und Ausgangspunkt einer Massenbewegung sein wird, wie sie die Finanzwelt noch nie gesehen hat, lacht ihn erstmal ein anderer Nutzer aus. Dieser schreibt: „Hahaha!“ und richtet einen automatischen Alarm auf der Seite ein: „Erinnere mich bitte, wenn dieser dumme Arsch alles in einer Woche verloren hat.“

Gill war damals ein Unbekannter und das Forum „Wallstreetbets“ auf der Plattform Reddit noch nicht der Ort, der die Aufmerksamkeit der globalen Finanzwelt wochenlang in Bann hielt. Und doch war es Gill, ehemaliger Langstreckenläufer, 34 Jahre alt, Finanzanalyst bei einer Versicherung, der auslöste, was als die „Gamestop-Blase“ in die Geschichte eingehen sollte: Innerhalb von 20 Handelstagen vervierzigfachte sich der Aktienwert der US-amerikanischen Einzelhandelskette Gamestop, die auf den Vertrieb von Videospielen spezialisiert ist.

Spektakuläre Bewegungen sind an der Börse nicht außergewöhnlich. Jeden Tag lässt sich irgendeine Aktie finden, die sich um 20 oder mehr Prozent bewegt, hoch wie runter. Aber eine Vervierzigfachung in so kurzer Zeit? Unerhört. Und das ist noch nicht einmal das Interessanteste an der ganzen Geschichte.

Als Reporter blicke ich immer wieder darauf, wie Massenbewegungen Veränderungen anstoßen, ich nenne das die „Macht der Vielen“. Und die Vielen haben wieder – vermeintlich aus dem Nichts – zugeschlagen. Wie schon bei der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten oder bei den Klimaprotesten, die die ökologischen Schlafwandler in den Regierungszentralen aus ihrer Trägheit rissen. Hinter dem Spektakel der Gamestop-Saga offenbart sich der Blick auf einen größeren Zusammenhang: Die Finanzmärkte sind in einem Umbruch, der der populistischen Revolte in den westlichen Demokratien gleicht oder der extremen Machtverschiebung in der Medienlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten.

Die Mauern der Wall Street bröckeln. Früher konnten die großen Banken und Vermögensverwalter, die Aktienhändler und Broker wie die Torwächter in mittelalterlichen Städten bestimmen, wer Zutritt zur Finanzwelt bekam und wer nicht. Meistens entschied schlicht der Kontostand: Reiche durften alles, Arme wenig. Heute laden sich von der Pandemie gelangweilte Millennials und Zoomer eine Trading-App herunter, überweisen die Corona-Notfallhilfen der Regierung dorthin und sorgen, koordiniert durch soziale Netzwerke, dafür, dass Hedgefonds innerhalb von zwei Wochen Verluste machen wie sonst in einem Jahrzehnt.

Das wird unser Finanzsystem verändern. Die Welt der Kryptowährungen macht gerade einen Quantensprung, und anders als vor vier Jahren während des großen Bitcoin-Hypes haben viele Projekte jetzt auch etwas mehr Substanz. Vielen ist ein Ziel gemein: Sie wollen ein dezentrales Finanzsystem aufbauen, unabhängig von den alten Institutionen.

Sicherlich, Gamestop-Hype und Krypto-Explosion könnten vielen Menschen egal sein – wenn Geldfragen nicht immer auch Machtfragen wären. Verändert sich das Finanzsystem, verändern sich die Spielregeln, nach denen sich Bürger:innen richten müssen. Tief in den Eingeweiden der Gamestop-Saga lassen sich die ersten Grundzüge dieser neuen Spielregeln schon jetzt erkennen.

Damit die auch jeder verstehen kann, habe ich quasi zwei Versionen dieses Textes geschrieben: Im Haupttext lasse ich allen Fachjargon weg, er müsste verständlich sein für Menschen ohne Vorkenntnisse. In den Anmerkungen, die sich hinter dem schwarzen “i” am Ende eines Absatzes finden, gehe ich tiefer in die Details – interessant für jene, die mehr wissen wollen.

Aber in beiden Versionen beginnen wir mit einem Märchen.

Die Wall Street hat Konkurrenz bekommen

Was passierte bei Gamestop genau? Einfach erklärt: Vergleichsweise viele Amateur-Anleger:innen mit wenig Geld in der Tasche kämpften gegen vergleichsweise wenige Profi-Spekulant:innen mit eher viel Geld. Nennen wir die erste Gruppe Stamm Langhosen und die zweite Stamm Kurzhosen. Die Langhosen, also die Amateure, setzten darauf, dass die Aktie von Gamestop an Wert gewinnt, also der Kurs steigt. Die Kurzhosen glaubten aber, dass dieser fällt. Dem logischen Menschenverstand folgend kaufte die Kleinanleger-Gruppe also die Aktie und die kleinere Profi-Anlegertruppe kaufte sie einfach nicht. Oder verkaufte sie. (Wenn du die Mechanismen dieser beiden Anlagestrategien genauer verstehen möchtest, klicke auf das „i“.)

Aber genau das passierte nicht. Manche Profi-Anleger:innen verzichteten nicht einfach auf einen Kauf. Sie waren so überzeugt, dass der Wert der Gamestop-Aktie weiter fallen wird, dass sie darauf Wetten abschlossen. Das sprach sich rum. Die Zahl der Gamestop-Fans, der Langhosen, stieg genauso explosionsartig wie der Kurs der Gamestop-Aktie. Mit jedem Kursanstieg verloren die Profi-Kurzhosen mehr Geld, irgendwann standen einige von ihnen kurz vor dem Ruin und genau in diesem Moment, den Sieg zum Greifen nahe, konnten die Langhosen plötzlich keine Aktien mehr kaufen, sondern nur noch verkaufen. Die Apps, die sie zum Aktienhandel nutzten, hatten ihnen das Kaufen verboten. Die Apps zwangen sie, Kurzhosen zu werden. Das führte zu viel Wut – und zum Absturz der Gamestop-Aktie. Als die Langhosen wieder kaufen durften, war es zu spät. Das Spiel war aus.

Die kleine Geschichte, die ich gerade erzählt habe, klingt vielleicht wie ein Märchen. Wenn es aber wirklich eines wäre, wäre es ein sehr modernes. Denn es hätte niemals in einer Zeit ohne Internet stattfinden können.

Keith Gill, der Mann, der mit seinem Post in einem Internetforum, das ähnlich wie andere soziale Medien Rudelverhalten belohnt, dies alles losgetreten hat, hatte das nicht auf Verdacht gemacht. Er hatte vorher recherchiert.

Gegen Gamestop gibt es so viele Wetten, weil die Einzelhandelskette tatsächlich echte Probleme hat. Computerspiele werden immer öfter direkt im Internet heruntergeladen und die neue Playstation einfach bei Amazon bestellt. Deswegen spekulieren manche darauf, dass Gamestop bankrott geht. Gill aber glaubte das nicht, er sah im September 2019 einen Wert in den Aktien von Gamestop – er wusste: Bald werden Sony und Microsoft neue Spielekonsolen herausbringen. Wenn das zuvor geschah, zog der Aktienkurs immer an.

Porträt eines Mannes mit der Unterschrift Hold

Keith Gill auf einer stilisierten Grafik aus dem Reddit-Forum Wallstreetbets. Die Grafik ist eine Anspielung auf ein legendäres Wahlplakat von Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf 2008. „Hold“ heißt „Halten“, es ist die Aufforderung, die Gamestop-Aktien, die man hat, auf keinen Fall zu verkaufen. © reddit via r/wallstreetbets spargeletto

Außerdem konnte Gill im Netz mit zwei Klicks auf der Webseite des Unternehmens nachschauen, wie viel Geld Gamestop auf dem Konto hat, wie viel jede Filiale im Schnitt pro Tag umsetzt – und, das ist entscheidend, wie viele Wetten gegen die Aktie laufen. Jede dieser Informationen wäre noch um die Jahrtausendwende nur mit viel Mühe oder gegen hohe Gebühr bei Fachdiensten zu beschaffen gewesen. Früher konnten sich Privatanleger über den Stand ihrer Aktien nur in langen Listen in der Zeitung informieren oder „live“ im Videotext. Heute haben auch sie fortgeschrittene Methoden der technischen Aktienanalyse und können sich auf speziellen Seiten über diese Analysen austauschen. Das kombiniert mit den Unternehmensmeldungen im Netz, frei zugänglichen Einschätzungen von Analysten, mit Seiten, die übersichtlich alle wichtigen Finanzkennzahlen auf einen Blick versammeln, könnten Privatanleger heute fast genauso gut informierte Entscheidungen treffen wie ein Wall-Street-Mitarbeiter vor 15 Jahren. Gill nutzte also aus, dass der Informationsvorsprung der Großen viel kleiner geworden ist.

Ganz zu schweigen davon, dass Gill damals vielleicht seinen Freunden beim Bier von seinem Plan hätte erzählen können, aber nicht potentiell der ganzen Welt via Internet. So startete Gill unabsichtlich eine Massenbewegung, die sich strukturell nicht vom Shanty-Singen, der Jerusalema Tanz-Challenge oder viralen Mythen unterscheidet. Das sind alles Formen der Mund-zu-Mund-Propaganda, die sich im Netz binnen Stunden verbreiten kann.

Der dritte Faktor sind die Trading-Apps. Ganz früher hieß Aktienkauf: Irgendwohin gehen, irgendwas unterschreiben, ein paar Tage warten. Danach: anrufen oder gar faxen. Heute: Handy raus, App entsperren, Order eingeben, fertig. An einem Corona-Samstag Brötchen für die Familie zu kaufen, dauert länger – und ist vermutlich auch teurer. Denn bei den neuen Handelsapps kosten Kauf und Verkauf entweder nichts oder nur einen Euro. Und manchmal ist es auch möglich, nicht gleich eine ganze Aktie zu kaufen, sondern zum Beispiel nur eine Zehntel-Aktie. Plötzlich kann sich auch ein Schüler einen Anteil an Amazon leisten (Preis einer Aktie: 3.250 Dollar). In der Summe führt das dazu, dass immer mehr Menschen anfangen, ihr Geld eigenverantwortlich in Aktien oder andere Investments zu stecken und nicht Beraterhonorare und Vermittlungsgebühren für Dritte zahlen müssen, die oft auf einen Schlag die Rendite eines Jahres kosten.

Diese anderen Investments sind dabei immer öfter auch Kryptowährungen. In dieser Welt haben sich inzwischen vollautomatisierte, regelbasierte Systeme herausgebildet, bei denen sich Kredit aufnehmen lässt, alles Mögliche getauscht und verkauft werden kann, neben den Währungen selbst auch Kunst, Grundstücke in digitalen Welten oder das Online-Äquivalent zu den Panini-Heften der Kindheit. Das alles, ohne dass jemand um Erlaubnis gebeten werden muss oder das verhindern könnte. Wer die Regeln des Systems akzeptiert, kann mitmachen. Die Mittelsmänner werden ausgeschaltet.

Als genau das in der Musikindustrie passierte, folgten Raubkopien, mehr und bessere Live-Events und Spotify. Als das den Medien passierte, konnten sich plötzlich Menschen äußern, die sonst kaum eine Öffentlichkeit bekommen hätten. Ähnliche Dinge könnten sich im Finanzsystem ereignen. Wer zukünftig ein Start-up gründen will, kann das Startkapital direkt bei Menschen wie dir und mir einsammeln, zu festen Regeln, die für alle im System festgeschrieben und vom System auch durchgesetzt werden können. Und wenn es etwa technisch unmöglich wäre, den Handel auszusetzen, hätte auch niemand die Langhosen zwingen können, plötzlich gegen ihren Willen kurze Hosen zu tragen.

Nicht nur das Private ist politisch, Aktienkäufe sind es auch

Die Gamestop-Rallye machte noch etwas anderes deutlich: Geld ist mehr als ein Zahlungsmittel, es kann zum Ausdruck der eigenen Identität werden. Im Reddit-Forum „Wallstreetbets“ gehört es zum guten Ton, regelmäßig einen Screenshot seines Depots zu posten und sich dafür Zustimmung in Form von Upvotes abzuholen. Das gilt für Gewinne wie für Verluste. (Letzeres firmiert dann unter der Kategorie „Loss Porn“.)

In diesem Forum ist die Wette, die ein Teilnehmer am Markt eingeht, also kein Ausdruck räsonierenden Investierens, sondern ein Merkmal der Zugehörigkeit. Wer kurz danach sucht, findet Hunderte Posts, in denen die Teilnehmer stolz zeigen, dass sie auf jede Investment-Theorie pfeifen und circa 98 Prozent ihres Geldes in hochspekulative Wetten auf eine einzelne Aktie gesteckt haben. Lange waren das Wetten auf die E-Auto-Firma-Tesla, dann kam Gamestop.

Die Mutter schaut Nachrichten und fragt ihren Sohn, ob er von der Reddit-Bewegung gehört hat, der hat eine Aktie und sagt: "Ich bin die Bewegung". Die Szenen stammen aus der Serie Breaking Bad, in der ein Familienvater kriminell wird, um seine Familie finanziell abzusichern.

Ein weiterer erfolgreicher Post aus dem Forum – die Mutter schaut Nachrichten und fragt ihren Sohn, ob er von der Reddit-Bewegung gehört hat. Der hält eine Aktie und sagt: „Ich bin die Bewegung“. Die Szenen stammen aus der Fernsehserie „Breaking Bad“, in der ein Familienvater kriminell wird, um seine Familie abzusichern. © reddit via r/wallstreetbets keenfeed

Begleitet wird das von einer speziellen Sprache: Die Mitglieder nennen sich gegenseitig „Autisten“ und „Degenerierte“ und meinen das positiv. Den Gründer von Tesla, Elon Musk, nennen viele nur noch „Papa Elon“ oder noch weiter gedreht „Papa Bear“, weil Tesla vielen Mitgliedern des Forums gute Gewinne beschert hatte. Wer eine Aktie auch bei Verlusten hält, hat „Diamantenhände“. Alles begleitet von den entsprechenden Emojis: 🚀🚀🚀 💎💎💎 In einer gerade erschienenen Studie sagen Soziologen des Georgia Institute of Technology in Atlanta (USA), dass das Forum ein „dritter Platz“ sei, kein privater Ort wie das eigene Zuhause, auch kein öffentlicher Raum oder ein Büro, sondern etwas Halböffentliches, wie ein Café, eine Kirche oder ein Friseursalon. Dass die Menschen all diese Orte in der Pandemie nur noch eingeschränkt nutzen können, passt ins Bild.

Inoffizieller Anführer – oder wie es ein Post ausdrückte: die „Legende“ des Forums – wurde in den vergangenen Monaten Keith Gill. Er hatte über die Jahre hinweg immer wieder Screenshots aus seinem Depot gepostet. Anfangs interessierte das wenige Teilnehmer, dann aber gab es hoffnungsvolle Meldungen für Gamestop, und Gills Kontostand stieg immer weiter. Irgendwann in dieser Zeit wurde aus der Wette für einige im Forum auch mehr, es ging nicht mehr darum, die Hedgefonds-Kurzhosen zu schlagen, ihnen sollte eine Lektion erteilt und der Welt eine Botschaft mitgegeben werden.

Auf dem Höhepunkt der Gamestop-Saga machte der Post eines deutschen Nutzers die Runde: „Fickt euch Medien“, schrieb er darin. „Nachdem ein Großteil der Medien jetzt ja aufmerksam geworden ist und uns alle als Zocker verunglimpft, als Internet Kids, die ja keine Ahnung vom Markt haben, bin ich wirklich wütend geworden. […] Wir haben einen Generationenvertrag, bei dem absehbar ist, das alle zukünftigen Generationen am Arsch sind. Es wird zu wenig Einnahmen geben, da es zu wenig Kinder gibt und gleichzeitig verschenken wir noch Geldgeschenke an die alten Säcke, die sich mit einem mickrigen Bausparvertrag eine ganze Immobilie kaufen konnten und nach 20 Jahren das Ding einfach abgezahlt hatten. [..] Wo seid ihr [Medien, alte Leute, d.A.] jetzt, als Corona einen Großteil meiner Generation und der nachfolgenden finanziell gefickt hat? Wo sind die Erleichterungen für Studenten? Wo ist eigentlich unser faires Rentenpaket?“

In den Posts aus Amerika ist der Ton noch eine Spur härter, dort rufen Nutzer zum Kampf gegen die „Suits“ (das heißt Anzüge, gemeint sind die großen Hedgefonds) auf. Sie beziehen sich immer wieder auf die Finanzkrise 2008, als die großen Banken mit Hunderten Milliarden Dollar von der Regierung gerettet wurden, während speziell in den USA Millionen Menschen ihren Job verloren. In einem der erfolgreichsten Posts, der weit über die Grenzen des eigentlichen Börsenforums hinaus geteilt wird, schreibt ein Nutzer: „Hört auf, auf die Medien zu hören, die uns als Marktzerstörer hinstellen, und fangt an, uns die Daumen zu drücken, denn wir haben eine einmalige Gelegenheit, die Leute zu bestrafen, die vor einem Jahrzehnt so viel Schmerz und Stress verursacht haben.“

Der US-Journalist Matt Taibbi fasst die Dynamik in diesem messerscharf formulierten Kommentar gut zusammen: „Sie haben gesehen, dass unsere Märkte im Grunde genommen ein Schwindel sind, eingerichtet, um das Wohlstandsgefälle künstlich zu vergrößern, und zwar nicht zu ihren Gunsten. Zweitens sehen sie, dass der Aktienmarkt, wie die Wahlurne, einer der einzigen Orte bleibt, wo schiere Zahlen immer noch mehr zählen als Vermögen oder Verbindungen.“

Die Gamestop-Saga dürfte damit einer der ersten Fälle der Menschheitsgeschichte sein, in dem Börsenspekulation zum Ausdruck eines politischen Kampfes wurde. Wenn Aktien zu Memes werden können, zum Ausdruck der eigenen politischen Identität, dann dienen sie auch der politischen Beeinflussung. Gemessen an den kurzfristigen Resultaten ist das aber eine, nett formuliert, Strategie mit gemischten Ergebnissen.

Die älteste Regel bleibt: Nicht alle können gewinnen

Denn natürlich haben von der Kursexplosion auch die „Anzüge“ profitiert: Ein Fonds hat 700 Millionen Dollar Profit gemacht, und das ist nur der Fall, der bekannt wurde, weil sei Aktienpaket so groß war, dass er seinen Verkauf veröffentlichen musste. Auf dem Höhepunkt der Manie wechselten jeden Tag mehrere Millionen Gamestop-Aktien im Wert von 300 Dollar oder mehr den Besitzer, ein Handelsvolumen, das in die Milliarden geht und nicht allein von Kleinanleger:innen stammen kann. Gleichzeitig haben mutmaßlich Tausende junge Menschen Geld verloren, jene, die auf den Zug aufgesprungen und nicht rechtzeitig wieder runtergekommen sind. In den Foren auf Reddit tauchten Posts auf, in denen auf Suizid-Hotlines hingewiesen wird, Motto: „Geld wächst nach, du nicht.“

Aber den wichtigsten Kampf haben die „Internet Kids“ zunächst gewonnen: jenen um Aufmerksamkeit. Es wurde wieder über Ungleichheit diskutiert, über den Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Und in den hoch polarisierten USA fanden sich plötzlich rhetorische Verbündete von Links wie von Rechts.

Ob irgendwas davon konkrete politische Folgen haben wird, lässt sich noch nicht beurteilen. Interessant ist aber, dass dieser politische Teil der Gamestop-Saga nach Jahren des Kulturkampfes um Rassismus, Gender und Trump Menschen zusammengeführt hat. Vielleicht werden die Historiker rückblickend sagen, dass die Gamestop-Saga ein wichtiger Baustein in der Debatte um Ungleichheit, Klassismus und Fairness war.

Die Finanzwelt hat in den vergangenen Monaten an Ansehen, Status und vor allem Einfluss verloren. Finanzmanager:innen haben gerade gelernt, dass sich eine Gruppe von Menschen gegen sie verbünden kann, die sie sonst als „dummes Geld“ bezeichnen: die Kleinanleger:innen.

Wie sich die Gamestop-Gruppe selbst sieht, zeigt dieses Bild aus Forum "Wallstreetbets": Hedgefonds verstecken sich vor den "Robinhood Tradern mit ihren 600-Dollar-Regierungshilfen"

Wie sich die Gamestop-Gruppe selbst sieht, zeigt dieses Bild aus Forum Wallstreetbets: Hedgefonds verstecken sich vor den, wie es heißt, Robinhood-Tradern mit ihren 600-Dollar-Regierungshilfen. Unbekannt

Noch vor zwei Jahrzehnten konnten Fondsmanager:innen auch mit durchwachsener Leistung hohe Gebühren kassieren, die heute niemand mehr bereit ist zu zahlen, eben weil der Zugang zum Markt für immer mehr Menschen immer einfacher wird.

Gleichzeitig haben mehrere namhafte Fonds bekannt gegeben, dass sie nicht mehr auf fallende Kurse wetten wollen: zu riskant. Weil diese Wetten veröffentlicht werden müssen, sind sie zunehmend verwundbar, explizit auch durch die Hedgefonds-Konkurrenz, die mit Social-Media-Bots versuchen könnte, eine Welle loszutreten.

Vermutlich passierte genau das in den Tagen nach Gamestop, als plötzlich der größte Shortsqueeze aller Zeiten am Silbermarkt ausgerufen wurde, aber die Mitglieder von Wallstreetbets schnell klar machten, dass das nicht aus ihrer Mitte gekommen ist.

Diese Entwicklung – einfacherer Zugang, Demokratisierung des Wissens, Schleifen alter Spielregeln – haben wir in den vergangenen beiden Jahrzehnten immer wieder gesehen. Wallstreetbets ist für den Finanzmarkt in gewisser Weise das, was Blogs für die großen Medien waren oder die Open-Access-Bewegung für die Wissenschaft. Institutionen, die im 20. Jahrhundert in einer analogen Welt entstanden sind, sehen sich plötzlich ungeahnter Konkurrenz gegenüber, im Zweifel eben auch von gelangweilten Teenagern.

Keith Gill, der Mann, mit dem alles begann, hat unterdessen dem Wall Street Journal verraten, worin er sein Geld als Nächstes stecken wird: in eine Mehrzweck-Sporthalle in seiner Heimatstadt.

Er investiert eben gerne in echte Werte.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audio: Iris Hochberger

Gamestop – das Spiel beginnt erst jetzt

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App