Hurra, ich lebe im sicheren Hafen. In Ostdeutschland ist Corona ein viel geringeres Problem als im Rest der Republik. Während viele westdeutsche Großstädte mit hunderten Neuinfektionen zu kämpfen haben, ist es im Osten ruhiger. Die fünf Bundesländer im Osten haben gemeinsam ungefähr so viele Infizierte wie Niedersachsen – und das bei fast doppelt so vielen Einwohner:innen. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt gibt es aktuell keinen einzigen Hotspot. Deswegen wehren sich die ostdeutschen Ministerpräsident:innen auch gegen die neuen, härteren Regeln.
Es gibt gute Gründe dafür, warum es das Virus im Osten scheinbar schwerer hat. Es sind ausgerechnet die, weswegen es Ostdeutschland außerhalb der Corona-Krise oft schwerer hat. Weil hier weniger Menschen leben, findet das Virus weniger Wirte. Weil die Wirtschaft weniger international ist, kommen seltener Geschäftspartner:innen. Und schließlich hilft sogar die Einsamkeit der Ostdeutschen. Aber eines vorweg: Immun ist hier keiner!
Hypothese 1: Ostdeutschland ist weniger dicht besiedelt
In Ostdeutschland leben weniger Menschen weniger dicht zusammen. Mit 221 Einwohner:innen je Quadratkilometer ist Sachsen zum Beispiel gerade mal Mittelfeld in der Bevölkerungsdichte Deutschlands. Die anderen vier Bundesländer gehören zu den am wenigsten dicht besiedelten Regionen des Landes. Auf den ersten Blick decken sich die Infektionskarten des Robert Koch-Instituts (RKI) auch mit den Karten zur Bevölkerungsdichte. Das dicht besiedelte Nordrhein-Westfalen (525 Einwohner:innen pro Quadratkilometer) ist gerade Corona-Hotspot. Mecklenburg-Vorpommern hingegen, wo gerade mal 69 Einwohner:innen pro Quadratkilometer leben, hat aktuell keinen einzigen Landkreis mit der kritischen Zahl von 35 Infizierten pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen.
Die Überlegung dahinter ist sehr einfach und einleuchtend: Wo weniger Menschen leben, kann man sich erstens besser aus dem Weg gehen, wodurch das Virus weniger Wirte findet und zweitens leben dort auch weniger mögliche Infektionsherde. Volle Straßenbahnen oder Busse gibt es in Ostdeutschland eher in den wenigen Großstädten. Und tatsächlich haben Forscher:innen kürzlich festgestellt, dass es, zumindest bei einem Ausbruch in Algerien, einen Zusammenhang zwischen Bevölkerungsdichte und der Verbreitung des Virus gab.
Der These widersprechen aber viele Forscher:innen und auch die Erfahrung in Deutschland zeigt, dass auch in weniger dicht besiedelten Gebieten Corona-Hotspots entstehen können. Das könnte unter anderem daran liegen, dass das Coronavirus zu Cluster-Bildung neigt, also besonders nach Superspreading-Ereignissen die Infiziertenzahl ansteigt.
An der Johns Hopkins Universität haben Forscher:innen sich die Gebiete um 913 amerikanische Städte angeschaut. Sie konnten erkennen, dass noch ein anderer Faktor Einfluss hat: Gebiete, die aus vielen Städten bestanden, die wiederum eng miteinander verbunden waren, wo also ein größerer Austausch stattfand, waren viel anfälliger für Ausbrüche des Virus.
In Ostdeutschland gibt es fast keine solcher Städteknoten. Die großen Städte Dresden, Leipzig, Magdeburg etwa stehen eher wie Leuchttürme in ihrer jeweiligen Region. Das ist eine völlig andere Ausgangslage als zum Beispiel das hochkonzentrierte Städtedreieck aus Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg. Oder eben das Ruhrgebiet.
Hypothese 2: Ostdeutsche sind weniger mobil im In- und Ausland
Schon zu Beginn der Corona-Krise hat Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen erklärt, dass die geringere Mobilität etwas mit der Verbreitung des Virus zu tun habe. Was das bedeutet? Wie viel sich jemand im Land bewegt, hängt davon ab, wo die Person wohnt, in welcher Lebenssituation sie sich befindet und wie ihre ökonomische Situation ist. Heruntergebrochen heißt das: Stadt oder Land, Alter und Geld sind wichtig. Eine 33-jährige Lotte aus Berlin mit einem Monatseinkommen von 4.500 Euro ist tendenziell mehr unterwegs als der 64-jährige Franz aus Plauen in Sachsen, der nur den Mindestlohn bekommt. Ostdeutschland ist in allen drei Kategorien anders als der Rest von Deutschland.
Mehr Menschen leben auf dem Land, und wer auf dem Land lebt, ist weniger mobil. Das zeigen zahlreiche Studien. Das Gleiche gilt beim Alter: Je älter ein Mensch ist, desto weniger pendelt er, desto weniger fährt er in die Nachbarstadt, um Freunde zu treffen, desto weniger mobil ist er. Auf den Karten des RKI lässt sich auch dieser Zusammenhang erkennen:
Zuletzt: Auch die jüngeren Ostdeutschen sind insgesamt weniger unterwegs. Sie haben seltener Autos, das öffentliche Verkehrsnetz ist vergleichsweise lückenhaft – und sie fahren weniger in den Urlaub, und wenn sie es tun, dann nicht so häufig ins Ausland.
Eine Flugreise mit der ganzen Familie, beispielsweise in das Risikogebiet Großbritannien, ist sehr teuer und somit für die ärmeren Ostdeutschen seltener möglich. Dort anstecken kann sich dann niemand. Wenn ein Virus also gar nicht erst in eine Region kommt, kann es sich dort auch nicht ausbreiten.
Hypothese 3: In den Osten reisen weniger Menschen
Zwar hat Ostdeutschland einige herrliche Urlaubsregionen, dennoch verbringen im Schnitt weniger Menschen ihre Ferien an den Stränden Rügens, zwischen den Klassikhäusern Weimars oder im Schatten des Elbsandsteingebirges in Sachsen.
Aber es sind ja nicht nur Urlauber, die das Virus übertragen. Als es im Sommer beim Fleischhersteller Tönnies einen großen Corona-Ausbruch gab, war das in Westdeutschland, und das Risiko, dass ein vergleichbarer Fall in Ostdeutschland passieren kann, ist relativ gering. Es gibt einen einzigen Großschlachter hier – in Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Und der hat mit 2.200 Mitarbeiter:innen gerade mal halb so viele wie der betroffene Schlachthof in NRW.
Die großen Industriestandorte in Deutschland sind eher im Westen zu finden. Das hat zwei Folgen: Gerade Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg haben keine größeren Industriebetriebe, die auf Arbeitskräfte von außerhalb angewiesen sind. Es kommen also nicht nur weniger Urlauber:innen, sondern auch weniger Arbeiter:innen. Außerdem sind die ostdeutschen Betriebe weniger auf internationale Kund:innen ausgerichtet und empfangen deshalb weniger Besucher:innen.
Hypothese 4: Ostdeutsche sind verantwortungsvoller
Es war im thüringischen Jena, wo der dortige Bürgermeister als erster eine weitreichende Maskenpflicht eingeführt hat – und dafür weltweit Aufmerksamkeit bekommen hat.
Es zeigt sich aber auch, dass die Kontaktnachverfolgung in Ostdeutschland besser funktioniert. Die Süddeutsche Zeitung hat das herausgefunden. In Sachsen haben die Gesundheitsämter im Schnitt zehn Kontaktpersonen ermittelt, in Baden-Württemberg hingegen gerade mal ein Drittel davon.
Aber es gibt noch einen Grund, warum Ostdeutschland verantwortungsvoller wirkt: die Zeit. Als in Deutschland die ersten Maßnahmen flächendeckend eingeführt wurden, also Kontakteinschränkungen beschlossene Sache waren, die Bars und meisten Geschäfte geschlossen waren, gab es in Ostdeutschland noch kaum Fälle. Als dann Masken verordnet und überall Desinfektionsmittelspender aufgestellt wurden, traf das Virus auf eine vorbereitete Gesellschaft und konnte sich schwieriger verbreiten. Die These müsste also lauten: Die Ostdeutschen haben von der Prävention profitiert. Sie hatten quasi von Anfang an Autos mit Sicherheitsgurt.
Hypothese 5: Es gibt weniger Superspreader-Events
Meine Kollegin Silke Jäger hat es beschrieben: Superspreader-Events sind das zentrale Problem in der jetzigen Phase der Pandemie. Aber Ostdeutschland hat vermutlich im Schnitt weniger solche Events. Wer Soziolog:innen fragt, warum die Corona-Krise im Osten so spät ankommt, bekommt als Antwort manchmal: Die Ostdeutschen sind einsam. Tatsächlich finden über drei Viertel der Ostdeutschen, dass Einsamkeit ein Problem ist. Und Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) hat die Einsamkeit immer wieder zum Thema gemacht, das gesellschaftlich und politisch angegangen werden müsse.
Es ist ja nicht verwunderlich, dass sich in Gebieten, aus denen häufig ein Großteil der Menschen weggezogen sind, ein Gefühl der Einsamkeit verbreitet. Das zeigt sich auch in der Zahl der Einpersonenhaushalte. In Ostdeutschland sind es gerade die Jungen, die alleine leben – genauer, die jungen Männer.
Als die Zahlen im Frühjahr stark anstiegen, gab es in Nordrhein-Westfalen heftige Diskussionen darüber, ob Karneval jetzt abgesagt werden müsse. Ein Jahr ohne Karneval? Für viele – übrigens auch Freunde von mir – undenkbar. Aber wer einmal Karneval in Köln mitgefeiert hat, erinnert sich an den Suff, die Rumknutscherei, die Umarmungen und generell die vollkommen euphorische Stimmung. Karneval spielt hier im Osten kaum eine Rolle – genausowenig wie Starkbierfeste oder das Münchner Oktoberfest, das jedes Jahr mehrere Millionen Menschen anzieht.
Und dann gibt es da noch eine Erklärung. Eine, die zumindest für manche größere Ausbrüche in Westdeutschland Erklärungen bietet. Der Osten ist weniger migrantisch geprägt, weswegen es wiederum weniger große Feiern mit der erweiterten Familie, also manchmal mehreren hundert Gästen gibt.
Der Osten ist nicht immun, er ist langsamer
Es ist – und bleibt – kompliziert. Dass die ostdeutschen Bundesländer weniger stark betroffen sind, ist unbestritten und die vielen Erklärungsansätze beeinflussen sich vermutlich auch gegenseitig nochmal.
Auch wenn es manche Menschen im Osten gerne hören würden. Niemand ist immun gegen das Virus. Und es trifft hier auch nicht „auf Gegner, keine Opfer“, wie manche immer wieder witzeln.
Die vermutlich einfachste Erklärung, was ja meist die wahrscheinlichste ist, lautet, dass das Virus einfach langsamer in Ostdeutschland ankommt. Aber das kann sich schnell ändern: Beispiel Thüringen, wo die Infektionszahlen innerhalb weniger Tage deutlich gestiegen waren. Oder in Sachsen, wo der Erzgebirgskreis mit über 120 Infizierten pro 100.000 Einwohner:innen in den letzten sieben Tagen ein Top-10-Hotspot in ganz Deutschland geworden ist. Und einer der beliebtesten Urlaubsorte in Sachsen.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.