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Es war eine Nachricht, die in meiner Timeline in Teilen für Aufregung gesorgt hat: Vize-Kanzler Olaf Scholz bewirbt sich bei der nächsten Bundestagswahl um ein Direktmandat in Potsdam. Scholz, dessen Lebenslaufstationen hauptsächlich in Hamburg stattgefunden haben, bewirbt sich um ein Mandat in einer ostdeutschen Stadt. Und: Dadurch verdrängt er Laura Adebahr, eine junge ostdeutsche Frau, von ihrer Kandidatur. Klar, das klang nach altbekanntem Schema: Der westdeutsche alte Mann, der die junge ostdeutsche Frau an einem Karrieresprung hindert.
Lilly Blaudszun, eine 19-jährige Politikerin aus der Mecklenburger SPD, fasste die Geschichte auf Twitter so zusammen:
In Ostdeutschland gibt es einen (!) Wahlkreis, der bei der letzten Bundestagswahl von der SPD geholt wurde. In diesem Wahlkreis gab es nun seit Januar eine junge Kandidatin, die auch dort aufgewachsen und ewig politisch aktiv ist.
— Lilly Blaudszun (@LillyBlaudszun) May 29, 2020
Und dann kam der Hamburger @OlafScholz 🤠
Und so entstand ein kleiner Shitstorm über die Verteilung der Wahlkreise und der Machtverhältnisse innerhalb der Partei und natürlich auch über Westdeutsche, die in den Osten kommen, um Stellen zu besetzen. Die Kandidatin Laura Adebahr selbst gehörte dabei zu den gemäßigteren. Sie schrieb zwar von Windmühlen, gegen die man kämpfen würde, aber bat auch darum, sie nicht zur Gegenspielerin von Olaf Scholz zu machen.
1/3 So Freunde, jetzt atmen wir mal alle kräftig durch und entspannen uns. Ich freue mich über Eure Support, aber hört bitte auf mich zu einer Anti-Scholz-Ritterin zu stilisieren. Das bin ich nicht. Ehrlich gesagt, mag ich Olaf sogar sehr. Ihr könnt also aufhören, mit random zu
— låla adebahr (@lolaadebahr) May 29, 2020
Ich gebe zu: Ich habe mich auch aufgeregt, hatte sofort ähnliche Gedanken wie Blaudszun und fand die Selbstverständlichkeit der Ansage von Scholz fast schon arrogant. Deswegen habe ich mich sofort gefragt, wie so etwas sein kann.
In der SPD erzählt man mir auf Nachfrage relativ offen, dass die Diskussion über die Kandidatur übertrieben war. Der Wahlkreis Potsdam besteht aus mehreren Bezirken, die unterschiedlich groß sind. Adebahr war eine von mehreren Kandidat:innen, die aus dem im Vergleich zu Potsdam viel kleineren Wahlbezirk Potsdam-Mittelmark antritt. Von den knapp 1.400 SPD-Mitgliedern ausdem Wahlkreis leben knapp 900 in Potsdam selbst. Die würden viel eher für eine:n Potsdamer:in stimmen. Adebahr hätte es also gegen jede:n Kandidat:in schwer gehabt. Aber gegen jemanden, der bundesweit bekannt ist, waren ihre Chancen nicht vorhanden. Vor allem, weil ein so bekannter Name wie Olaf Scholz auch die Wahrscheinlichkeit für den Gewinn des Direktmandats erhöht. Und Potsdam war das einzige Direktmandat in Brandenburg, das die SPD bei der letzten Bundestagswahl gewinnen konnte.
Außerdem lebt Olaf Scholz schon seit Jahren in Potsdam. Er selbst sagte in seiner Erklärung: „Meine Erfahrung ist: Man muss da kandidieren, wo man lebt. Man muss jemand sein, der auf dem Marktplatz ansprechbar ist.“ Dazu kommt, dass Scholz’ Frau Bildungsministerin in Brandenburg ist. Man könnte ihm also abnehmen, dass sein Interesse für den Wahlkreis tiefer geht.
Es ist übrigens auch kein komplett unüblicher Vorgang, dass Bundestagsabgeordnete in Wahlkreisen kandidieren, zu dem sie keinen Bezug haben. So hat beispielsweise der Lübecker Wolfgang Nešković 2009 für die Linke den Wahlkreis Cottbus – Spree-Neiße ein Direktmandat gewonnen. Gerade in ländlichen Wahlkreisen, wo Parteien kleiner aufgestellt sind, passiert das häufiger.
Ich musste meine Aufregung also erstmal ein Stück zurückschrauben. Alles ein bisschen komplizierter und weniger schlimm, als ich dachte. Aber mich hat das Thema nicht losgelassen. Und ich habe mich an eine Untersuchung des MDR erinnert. Zahlenmäßig sind ostdeutsche Politiker:innen zwar nur leicht unterrepräsentiert, aber die Themenwahl ist stark eingeschränkt. Klar, sobald es um ostdeutsche Themen geht, sind die Abgeordneten vorne dabei. Aber ansonsten sprechen sie viel mehr über Sport, Freizeit oder Kultur. Woran das liegt, ist nicht ganz klar.
Was aber in einer anderen Untersuchung herauskam: Von den Abgeordneten der ostdeutschen Wahlbezirke hatten im 17. Bundestag nur 77 Prozent auch eine ostdeutsche Biografie. Und auch im aktuellen Kabinett haben bis auf Angela Merkel und Franziska Giffey keine anderen Mitglieder eine ostdeutsche Biografie. Aber gut, es fand sich ja auch keine Mehrheit für eine Ostquote in Bundesbehörden.
Wie sieht also die Zukunft aus? Lauter westdeutsche Politiker:innen, die sich die Mandate schnappen? Ich behaupte: Nein. Hier wächst eine Generation heran, die sich einerseits zielstrebig für die eigenen Interessen engagiert und auch bereit ist, in den Parteien mitzuarbeiten. Seien es Namen wie Philipp Amthor, der schon ein Mandat hat, Lilly Blaudzsun, die als Shooting-Star der SPD gefeiert wird oder auch die jüngste Abgeordnete der Grünen im sächsischen Landtag: Lucie Hammecke. Alle drei stehen für eine Generation, die auf weniger parteipolitisch organisierte Mitmenschen trifft und hat so beste Voraussetzungen, vergleichsweise schnell Karriere zu machen. Wenn sie es denn wollen und sich nicht von den Windmühlen abbringen lassen, die Laura Adebahr beschrieben hat.
Olaf Scholz wird übrigens unter anderem gegen Annalena Baerbock antreten. Ebenfalls eine Westdeutsche.
Redaktion und Schlussredaktion: Belinda Grasnick, Fotoredaktion: Martin Gommel.