Wie man in der Pandemie demonstriert  – ohne auf die Straße zu gehen

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Politik und Macht

Wie man in der Pandemie demonstriert – ohne auf die Straße zu gehen

Nach den Anti-Rassismus-Demonstrationen wird diskutiert: Sind solche Demos mitten in eine Pandemie nötig? Aktivist:innen aus aller Welt jedenfalls beweisen: Es ginge auch anders.

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Praktikantin

Wer gerade Aktivist:in ist, befindet sich in einem Dilemma: Es gibt sehr viel Anlass für Protest. Gleichzeitig hat jede:r auch die Verantwortung, vorsichtig zu bleiben und Menschenansammlungen zu meiden, um so die erneute Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Muss man für jede Demo wirklich auf die Straße gehen oder gibt es noch andere Möglichkeiten, Aufmerksamkeit für ein Thema zu gewinnen?

Die Corona-Krise fördert neue Protestformen

Ich spreche mit Fabian Lind, Aktivist der Seebrücke Berlin, über die aktuelle Situation. Unter dem Namen „Seebrücke“ kommen verschiedene lokale Gruppen zusammen, die sich alle für das Recht auf Asyl sowie die menschenwürdige Aufnahme von Geflüchteten einsetzen.

Zu Beginn der Corona-Maßnahmen wurden in Deutschland die meisten Demonstrationen zwar erstmal verboten. Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht aber entschieden, dass ein generelles Demonstrationsverbot nicht verfassungskonform ist. Veranstalter:innen müssen die Corona-Maßnahmen einhalten. Dies können sie beispielsweise, indem sie Atemschutzmasken verteilen oder Schilder aufstellen, auf denen sie auf den einzuhaltenden Mindestabstand hinweisen.

Diese Demonstrationsbeschränkungen erschweren die Arbeit von Aktivist:innen, aber nicht sie allein: „Es geht momentan schon stärker darum, ob und wie wir Aktionen durchführen als um das Warum. Natürlich haben sich auch die Lebensumstände einiger unserer Mitstreiter:innen verändert und einige haben weniger Zeit sich einzubringen. Auch potenzielle Aktionsteilnehmende sind momentan vielleicht unsicher, ob sie überhaupt mitmachen sollten“, sagt Fabian Lind.

Protest- und Bewegungsforscher Jannis Julien Grimm von der Freien Universität Berlin sagt, dass sich die sozialen Bewegungen den Bedingungen der neuen Situation anpassen: „Krisen schaffen Kreativität.“ Zum Protestrepertoire kämen nun neue Formen hinzu, die nicht auf Massenprotesten basieren. Das könnten wir uns wie einen Werkzeugkoffer vorstellen, sagt er. Die Protestformen stellten dabei das Werkzeug dar.

Grimm weist darauf hin, dass Aktivist:innen unter anderem symbolische Mittel verwenden, um ihren Protest zu visualisieren. Die Seebrücke zum Beispiel hat Plakate mit dem Satz „Wir haben Kapazitäten“ an leerstehende Flüchtlingsheime gehängt. Bei einer anderen Aktion haben sie Fußabdrücke mit Kreide auf den Boden gemalt, um symbolisch eine Demonstration darzustellen.

Zudem entwickeln sich Protestformen, die zwar kollektiv stattfinden, aber individuell ausgeführt werden, sagt Grimm. Auf diese Weise werde zusammen demonstriert, ohne an einem Ort zu sein. Auch eine Kombination aus On- und Offlineprotesten, also hybriden Protestformen, finde statt.

Ein Beispiel ist die Online-Demonstration der Seebrücke Berlin am 29. März. „Nachdem das Ausmaß der Pandemie immer deutlicher wurde, hatten wir eine Telefonkonferenz und haben verschiedene Aktionsmöglichkeiten beschlossen. Und davon war eine die Online-Demo.“ In Form eines Youtube-Livestreams haben zwei Moderator:innen einen virtuellen Demonstrationszug angeleitet. An Stopps wie der Internetseite des Bundesinnenministeriums riefen sie dazu auf, verantwortliche Personen per E-Mail zu kontaktieren und mit Hashtags in den Sozialen Medien zu verlinken. „Die ganze Orga war herausfordernd, weil so etwas ja noch nie gemacht wurde und wir deswegen nicht genau wussten, was auf uns zukommt und wie und ob das überhaupt klappt.“ Bis zu 6.500 Personen haben an der Aktion gleichzeitig teilgenommen. Der Stream kann noch jetzt auf Youtube angesehen werden und wurde inzwischen über 42.000-mal aufgerufen. Die Seebrücke schaffte es an diesem Tag mit #LeaveNoOneBehind auf Platz 1 in den Twittertrends.

Aktionen in den Sozialen Netzwerken aktivieren hauptsächlich die eigene Bubble

Ein Vorteil solcher Aktionen sei die geringe Teilnahmebarriere, sagt Grimm. Zum einen, weil Interessierte sich nicht direkt aktiv beteiligen müssen, zum anderen, weil sie sich von überall zuschalten können. Allerdings schließe diese Form Menschen aus, die beispielsweise auf Grund ihres Alters, ihrer sozialen Verortung oder ihrer finanziellen Mittel über geringere digitale Kompetenzen verfügen oder keinen Zugang zu digitalen Medien haben.

„Durch Social Media erreichen wir hauptsächlich unsere eigene Bubble“, sagt Julia Solbach von der Seebrücke. Auch Fabian Lind meint, es werden keine neuen Menschen aufmerksam gemacht, die den Demonstrationszug zufällig mitbekommen und sich dadurch mit dem Thema beschäftigen. Ihm fehle zudem „das Gefühl des Empowerment und Zusammenkommens wie bei physischen Aktionen. Auch die bildgewaltigen Menschenmassen fehlen als Druckmittel.“

Protestforscher Grimm weist jedoch auf einen weiteren Effekt hin: „Wenn wir überall die Hashtags und Schilder sehen, wird das eine gewisse Wirkung haben. Das könnte vielleicht sogar mehr Menschen erreichen, als eine Demo, die nur in einem Stadtteil zu sehen ist.“ Und er hat recht, überall sieht man Plakate für die Solidarisierung mit Geflüchteten, zumindest hier in Berlin, Neukölln. „LeaveNoOneBehind“, „LeaveNoOneBehind“, „LeaveNoOneBehind“ – mein Gehirn weiß jetzt: Wir sollen niemanden zurücklassen. Und die Politik? Weiß die das? Noch hat sie nicht wie erhofft reagiert: Bisher wurden nur 47 Kinder aus den griechischen Lagern nach Deutschland geholt.

Nach Grimm liegt das auch daran, dass über die Online-Aktion nicht ansatzweise so viel berichtet wird wie über die aktuellen Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19.

Aber Protestgruppen entwickeln momentan nicht nur neue Protestformen, sagt Grimm, sondern sie greifen auch auf Altes und Bekanntes zurück, wie Plakate, Banner und Hymnen. Ein Beispiel dafür ist wohl das berühmte Partisanenlied (Achtung, Ohrwurm!) „Bella Ciao“, das man vielerorts hört.

Die Menschen in Chile beispielsweise bedienen sich einer ihrer traditionellen Protestformen, der sogenannten Cacerolazos. Dafür gehen sie auf ihre Balkone und schlagen mit Holzlöffeln auf Töpfe. Gerardo Bascuñán, chilenischer Bürger, erzählt mir, dass die Cacerolazos nicht im Vorfeld geplant werden. Meistens geben die Menschen auf diese Weise ihren Protest nach einer Rede des chilenischen Präsidenten Piñera kund. Eine Forderung der Demonstrierenden ist die Überarbeitung der Verfassung, die noch aus der Pinochet-Diktatur stammt. Und ein Erfolg ist sichtbar: Ein Volksentscheid soll über die Verfassungsänderungen bestimmen. Der eigentliche Wahltag war der 26. April. Coronabedingt wurde die Wahl auf den 25. Oktober verschoben. Doch soziale Gruppen organisierten eine symbolische Online-Wahl.

Trotzdem finden weiterhin physische Proteste am Plaza Baquedano statt. Dabei achten die Teilnehmenden jedoch auf ausreichend Sicherheitsabstand und tragen Schutzmasken und -anzüge. Die Polizei löst die Demonstrationen immer wieder auf und nimmt einige Aktivist:innen in Haft. Sie begründet das damit, dass die Demonstrierenden die aktuellen Corona-Maßnahmen nicht einhalten würden.

Die Angst vor existentiellen Problemen ist größer als die vor dem Virus

Nicht nur in Chile haben sich Demonstrierende wieder für physische Aktionen entschieden. Auch im Libanon: Anfangs hielten sich Aktivist:innen an die Beschränkungen zur Eindämmung von Covid-19. Sie demonstrierten beispielsweise mit Autokorsos. Doch nun sind wieder Massenproteste auf der Straße zu sehen. Auch die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, hat zugenommen, sagt Heiko Wimmen von der International Crisis Group.

Im Oktober 2019 begannen im Libanon die Proteste gegen die Regierung, die in den Augen der Demonstrant:innen korrupt ist. Da ein generelles Misstrauen der Regierung gegenüber besteht, fehlt es jetzt natürlich an Vertrauen, dass sie die Ausbreitung des Coronavirus sinnvoll bekämpft. Der libanesische Aktivist Gilbert Doumit erzählt mir am Telefon: „Die Menschen werden um ihr eigenes Überleben protestieren.“ Hinzu kommt die Wirtschaftskrise, in der der Libanon schon vor der Pandemie gesteckt hat. Krise trifft auf Krise. Zwei Drittel der gesamten arbeitenden Bevölkerung ist im informellen Sektor, das heißt auf dem Schwarzmarkt tätig. Es fehlen ihnen soziale und finanzielle Absicherungen. „Viele Menschen gehen jetzt aus Verzweiflung auf die Straße. Ökonomische Folgen und existentielle Probleme sind größer als die Angst vor dem Virus“, sagt Jannis Julien Grimm.

In Deutschland demonstrieren natürlich auch Menschen nicht trotz Corona – sondern wegen Corona. Sie wehren sich allgemein gegen die derzeitigen Maßnahmen der Regierung. Allerdings verfolgen die Teilnehmer:innen unterschiedliche Interessen. Da es sich bislang um eine heterogene Gruppe handelt, ist bei diesen Protesten bisher noch nicht von einer Bewegung zu sprechen. Darauf weist Grimm hin.

In welche Richtung sich die Proteste entwickeln, wird sich noch entscheiden. Zumindest eins ist klar: Sie erregen viel Aufmerksamkeit. Obwohl die Mehrheit der deutschen Bevölkerung die derzeitigen Einschränkungen gutheißt, nehmen die Proteste aktuell einen großen Platz in den Medien ein. Im Zentrum des medialen Diskurs stehen die Themen Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus.

Auch Online-Demos schaffen Aufmerksamkeit

Bringen alternative Protestformen denn dann überhaupt etwas. oder sind sie chancenlos gegenüber dem Lärm auf der Straße? „Die gemeinsame Teilnahme an einer Protestaktion schafft Zugehörigkeit und erzeugt Identität“, sagt Grimm. „Die non-physischen Protestformen helfen, Mobilisierungsstrukturen aufrecht zu erhalten. Außerdem bleiben Themen auf der Agenda.“ (Ich möchte an der Stelle an den Effekt der LeaveNoOneBehind-Plakate erinnern.) Doch auch er sagt, dass noch ungewiss ist, wohin sich die Proteste langfristig entwickeln. „Früher oder später werden sich die Menschen, ob möglich oder nicht möglich, weiter auf die Straße begeben. So wie es schon jetzt der Fall ist.“ Aber der Protest-Werkzeugkasten habe nun neue Demonstrationsformen bekommen.


Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel.