Die fünf größten Probleme des Ostens – und die Ideen, die bei ihrer Lösung helfen könnten

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Politik und Macht

Die fünf größten Probleme des Ostens – und die Ideen, die bei ihrer Lösung helfen könnten

Ich bin auf Lesereise und schreibe Tagebuch über Missverständnisse, Gemein- und Schönheiten im deutsch-deutschen Verhältnis. Im letzten Teil geht es um die Ideen und Lösungen für eine funktionierende Demokratie, die ich bei den vielen Begegnungen während meiner Tour kennengelernt habe.

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Reporter für Feminismus und Neue Männlichkeit

Ich arbeite nebenbei an einer Bar in Leipzig, einer kleinen feinen Bar, an der das Personal so viel Flammkuchen essen darf, „bis ihr es von alleine satt habt“, wie der Chef sagt. Zur Bar gehört auch ein Hostel beziehungsweise wahrscheinlich ist es eher andersrum, und als ich vor ein paar Wochen zum ersten Mal jemanden einchecken musste, war es ein junger Typ aus Köln, zwei Nächte im 10-Bettzimmer.

Einchecken heißt, ich berechne die City-Tax, druck die Rechnung aus und zeige den Gästen auf dem Stadtplan, wo wir sind, wo die nächste Straßenbahnhaltestelle ist und wo sie sich sonst noch so am besten amüsieren könnten in big L.E. Ich umkringel für den jungen Mann aus Köln also ein paar Sachen mit Kuli auf dem Stadtplan, da unterbricht er mich und sagt:

„Nja, eigentlich interessiert mich das gar nicht. Ich bin vor allem hier, weil ich was über Geschichte lernen will.“

„Was denn für Geschichte?“

„Na Wendezeit und DDR und so. Ich studier Politikwissenschaft, aber das spielt bei uns an der Uni kaum eine Rolle, und in der Schule war es auch nicht dran, da wollte ich mir das selbst mal anschauen.“

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Ostdeutschland ist in den vergangenen Jahren einer der großen Schwerpunkte für unsere Berichterstattung bei Krautreporter gewesen. Einerseits, weil die neuen Bundesländer gar nicht mehr so neu sind und trotzdem so häufig von den überregionalen Medien wie hässliche Stiefkinder behandelt wurden. Andererseits, weil wir die gesellschaftlichen Probleme hier genau analysieren wollten, die wir eben nicht für eine ostdeutsche Besonderheit halten, sondern vielmehr für prototypische Entwicklungen unserer westlichen Demokratien. Denn dort, wo die Probleme am größten sind, findet man auch am ehesten Lösungen. Und das ist jetzt, 30 Jahre nach der Wende, auch endlich möglich, weil es immer mehr Leute wie den angehenden Lehrer aus Köln gibt, die bereit sind, vorbehaltlos mit dem Osten umzugehen, und seine Geschichte nicht als Verlierergeschichte zu sehen.

Seit September letzten Jahres bin ich auf „Tour der Völkerfreundschaft“ und habe seitdem mehr als ein Dutzend Lesungen mit unserem ersten Buch „Ostdeutschland verstehen“ gemacht. Diese Lesungen sind alle von Krautreporter-Mitgliedern organisiert worden, ihr habt mich in Bars, Schulen, Rathäuser, Galerien und zu euch nach Hause eingeladen, Flyer entworfen und Plakate gedruckt, eure Buchhändler angequatscht, mich vom Bahnhof abgeholt, Frikassee gekocht und die lokalen Biere kaltgestellt. Ich habe viel von euch darüber gelernt, wo die Probleme des Ostens liegen – und wo die Lösungen. Die fünf wichtigsten Lehren habe ich in diesem letzten Eintrag in das Tourtagebuch zusammengefasst:

Problem 1: Demografischer Wandel

Die Jugend ist abgehauen, die Alten verschanzen sich zu Hause, der Bäcker ist zu, der Bahnhof abgerissen, der Bus fährt nur zwei Mal am Tag und beim Gasthof fällt das Dach ein: der demografische Wandel trifft die ländlichen Regionen Ostdeutschlands besonders hart. Aber das wissen wir jetzt auch schon seit fast 30 Jahren. Trotzdem wird politisch nicht gegengesteuert. Der Niedergang wird effizient verwaltet: Rathäuser und Behörden werden zusammengelegt, Schulen und Kindergärten geschlossen. In die Lücken im gesellschaftlichen Leben ländlicher Regionen setzen sich dann Rechtsextreme und spielen sich als Kümmerer auf. Die Polizei ist schön weit weg und die paar Punks, die sich noch wehren, kriegt man auch noch mundtot. So werden aus negativen Bevölkerungsprognosen selbsterfüllende Prophezeiungen.

„Desaster-Rhetorik“ nennt das der Soziologe Andreas Willisch in einem Essay für die taz: „Irgendwie sind die Menschen, die da weggehen oder nicht hingehen, die älter werden und erst recht die Frauen, die keine oder nicht genügend Kinder kriegen, schuld, dass es dem Ort und der Region schlechtgeht.“ Willisch ist Vorstand des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung. Er sagt, aus Bequemlichkeit ist der demografische Wandel von einer Folge der Probleme zur Ursache der Probleme umgedeutet geworden:

„Ein Blick in die Berichte zum Stand der deutschen Vereinigung der Bundesregierung belegt das. Im ersten rot-grünen Bericht von 1999 steht, dass die Politik der schnellen Treuhand-Privatisierung mit ihren Fehleinschätzungen den Zusammenbruch der Industrie zur Folge hatte. 2007 liest sich das ganz anders. Da wird der demografische Wandel dafür verantwortlich gemacht, dass der Osten weiter zurückbleibt. An die Stelle falscher neoliberaler Politik tritt eine ganz und gar unpolitische Sicht auf die Gesellschaft: Wo Menschen weniger und älter werden, ist staatliche Politik außen vor.”

Die Lösung: Statt Infrastruktur auf dem Land abzubauen, sollte sie aufgebaut werden. Auch kleine Orte brauchen Kultureinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten, Nahverkehr, Zuganbindung, besseres Internet; eigene Schulen und Kindergärten, selbst wenn die Kinder-Sollzahlen nicht jedes Jahr erreicht werden, oder in der Nähe ein „Oberzentrum“ (Stadt, die für eine Region den Mittelpunkt bildet) existiert, in das das gesellschaftliche Leben ausgegliedert werden kann. Außerdem müssten die Ortskerne wieder zum Leben erweckt werden, statt Gewerbeparks und Wohnsiedlungen auf der grünen Wiese neu auszuweisen, nur weil Fertigteil-Neubauten meist billiger sind als Sanierungen alter Gebäude.

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Problem 2: Pressefreiheit

Wer über Rechtsextremismus berichtet, muss nicht nur mit massiven Bedrohungen durch Nazis rechnen, sondern auch mit Schikane durch die Polizei. Mein Kollege Josa Mania-Schlegel hat in diesem Artikel Erfahrungsberichte sächsischer Journalisten zusammengetragen. Schutz gibt es für uns meist keinen, und das Interesse der Justiz, gegen Nazis zu ermitteln, ist nicht nur im Osten Deutschlands gruselig gering. Eine Situation, die sich in den letzten Jahren nicht nur deswegen zugespitzt hat, weil die rechtsradikale Szene immer stärker und professioneller wird (und sich bewaffnet), sondern auch dadurch, dass immer mehr Journalisten keine Festanstellung mehr haben. Gemeinsam mit mehr als 400 Kollegen haben ich und andere Krautreporter-Redakteure deshalb einen Aufruf des Vereins Netzwerk Recherche unterzeichnet, in dem wir von der Politik, aber auch von der Justiz und den Verlagen mehr Schutz für unsere Arbeit einfordern, unter anderem:

  • Bundesweit verpflichtende Schulungen von Polizisten für den Umgang mit Medienvertretern

  • Ein Bekenntnis aller Polizeibehörden zu den Verhaltensgrundsätzen für Presse/Rundfunk und Polizei zur Vermeidung von Behinderungen bei der Durchführung polizeilicher Aufgaben und der freien Ausübung der Berichterstattung von 1993

  • Sensibilisierung von Staatsanwaltschaften und Gerichten für Angriffe auf Journalisten und konsequente Anwendung aller rechtlichen Möglichkeiten

Der konkrete Anlass für diesen Aufruf war übrigens eine Demonstration in Hannover im vergangenen November. Dort gingen Neonazis auf die Straße, um gegen drei freie Journalisten zu protestieren, die aus der rechtsextremen Szene wegen ihrer Berichterstattung bereits Morddrohungen erhielten und auf deren Wohnungen es mehrfach Anschläge gab.

Die Lösung: Polizei braucht echte Kontrolle. Und Aufklärung über die Rechte von Journalisten. Unsere Reporterin Belinda Grasnick erklärt in diesem Artikel, wie und warum ausgerechnet Brandenburg als Beispiel für andere Bundesländer dienen könnte.

Problem 3: Polizeigewalt

Wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln oder vor Gericht aussagen müssen, wird zum Schutz der Kollegen regelmäßig gelogen und verschwiegen und Strafen gibt es auffällig wenige. Die immer noch umfassendste statistische Analyse dazu stammt von dem unabhängigen Recherchezentrum Correctiv. 2015 wertete Correctiv die verfügbaren Daten aus allen 16 Bundesländern aus. Das Ergebnis: Gegen etwa 4.500 Polizisten ermittelten die Behörden im Jahr 2013 wegen Straftaten im Amt. Weniger als 15 Prozent der Verdächtigen wurde angeklagt. Und fast alle kamen ohne Strafe davon. Genauere Zahlen gibt es nicht: Verurteilungen von Polizisten werden statistisch nicht erfasst.

Das Statistische Bundesamt zählte im gleichen Jahr 21 Verfahren gegen Polizisten wegen Tötungsdelikten und jeweils mehr als 2.000 Verfahren wegen Körperverletzung und Nötigung. Von den 21 wegen Tötungsdelikten verfolgten Polizisten klagten die Behörden nur einen einzigen Beamten an. Alle anderen kamen ohne Prozess davon. Auch Polizisten, gegen die wegen Gewalt ein Verfahren eingeleitet wurde, sind so gut wie nie angeklagt worden. Rund 90 Prozent der Polizisten kamen ohne jegliche Folgen davon: Von weit mehr als 2.000 Verfahren landeten 31 Gewalttaten vor einem Richter.

Die Lösung: Seit mehr als 20 Jahren wird Deutschland immer wieder aufgefordert, unabhängige Kontrollinstanzen für die Polizei zu errichten – unter anderem vom Europarat, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und insgesamt drei Ausschüssen der Vereinten Nationen. „Unabhängig“ heißt: nicht so wie in Sachsen. Hier ist die Beschwerdestelle dem Landespolizeipräsidenten beigeordnet. Der wiederum ist an die Weisungen des Innenministeriums – also des Dienstherren der Polizei – gebunden. Besser wäre, die Stelle entweder unter Aufsicht des Landtages oder des Justizministeriums zu stellen, sind sich Experten einig. Als Musterbeispiel gelten Schleswig-Holstein und Bremen.

Problem 4: Ostdeutsche sind unterrepräsentiert in Führungspositionen

Die Studie von Michael Bluhm und Olaf Jacobs „Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung“ belegt, dass Westdeutsche die Chefs sind in Ost- wie Westdeutschland sowie in allen Bereichen der Gesellschaft: in der Wirtschaft, der Politik, der Verwaltung, der Kultur, den Medien und der Wissenschaft. Das ändert sich auch nicht von allein, nur weil die Wende inzwischen 30 Jahre her ist: „Nur 23 Prozent beträgt der Anteil Ostdeutscher innerhalb der Führungskräfte in den neuen Bundesländern – bei 87 Prozent Bevölkerungsanteil.“ Und: „Bundesweit sucht man ostdeutsche Führungskräfte vergeblich. Nur 1,7 Prozent der betrachteten Spitzenpositionen auf Bundesebene sind von Ostdeutschen besetzt – bei einem Bevölkerungsanteil von bundesweit 17 Prozent.“ Daraus entstehen zwei Probleme: Wer nicht repräsentiert ist, fühlt sich auch nicht zugehörig. Und Entscheidungsträgern aus der Mehrheitsgesellschaft fehlt oft die Kompetenz und Empathie für die Probleme der Minderheiten.

Die Lösung: Seit einigen Jahren wird bereits über eine Ost-Quote debattiert. Die Linkspartei wollte sie in Bundesbehörden gesetzlich einführen lassen, erreichte dafür aber im vergangenen Jahr mit ihrem Antrag im Bundestag keine Mehrheit. Unklar ist, wie man 30 Jahre nach der Wende überhaupt definieren will, wer Ossi und wer Wessi ist, und ob das nicht Unterschiede zementiert. Besser als eine rigide Quote für Ostdeutsche wäre, dass sich ganz allgemein die Erkenntnis und der Wille durchsetzen, dass Gremien – egal ob Gemeinde- oder Aufsichtsrat – am besten besetzt sind, wenn sie ein Abbild der gesamten Gesellschaft repräsentieren. Nicht nur Ostdeutsche sind unterrepräsentiert, auch junge Menschen, Arbeiter, Frauen, Migranten und Menschen mit Behinderungen sind viel zu wenig in Entscheidungen eingebunden, die ihr Leben, ihren Arbeitsplatz oder ihren Wohnort betreffen.

Problem 5: Zu geringe Steuereinnahmen für Kommunen

Ostdeutsche Kommunen haben im Durchschnitt gerade einmal die Hälfte der Steuereinnahmen (pro Kopf) im Vergleich zu westdeutschen Kommunen. Das steht im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. Dadurch, dass die meisten Betriebe im Osten nicht den Menschen vor Ort gehören, sondern häufig immer noch die verlängerte Werkbank westdeutscher Betriebe sind, zahlen sie auch den Großteil ihrer Steuern nicht im Osten. Denn wenn ein Betrieb in Thüringen Motoren für Mercedes herstellt, die dann im Stammwerk in Stuttgart in die Autos eingebaut werden, dann wird in Thüringen nur der Motor versteuert, in Stuttgart aber das ganze Auto.

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So kommt es, dass Thüringens Steuerkraft pro Kopf bei 53 Prozent des Bundesdurchschnitts liegt, obwohl die Wirtschaftskraft bei 74 Prozent liegt. Das ist Geld, das der öffentlichen Hand für wichtige Investitionen in die soziale Infrastruktur fehlt. Mehr als 90 Prozent der 500 größten deutschen Unternehmen haben ihren Hauptsitz im Westen. Und dort, wo die Konzernzentrale ist, sind in der Regel auch die am besten bezahlten Jobs sowie die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen.

Die Lösung: Gewinne müssen da versteuert werden, wo sie tatsächlich entstehen. Dafür müsste das Steuerrecht geändert werden. Gelingt dies auf europäischer Ebene, könnte somit gleichzeitig das Problem der Besteuerung von Unternehmen wie Google, Amazon oder Facebook gelöst werden. Bei der Ansiedlung von Bundesämtern sowie staatlich geförderten Technologie- und Kompetenzzentren sollten die neuen Bundesländer außerdem bevorzugt werden.


Eine Auswahl der „fünf größten Probleme“ ist natürlich immer zu einem gewissen Grad subjektiv. Die meisten meiner Lesungen fanden in eher ländlichen Regionen im Osten Deutschlands statt. Der erstarkende Rechtsextremismus ist dort in den Diskussionen immer sehr präsent gewesen. Eine wichtige Motivation für das Buch und die Lesetour war, diese Diskussion nicht etwa hinter uns zu lassen oder auszublenden, sie aber eher als ein Symptom der gesellschaftlichen Probleme zu begreifen als deren Ursache. Und dementsprechend den Fokus auf konstruktive Lösungen und die Zukunft zu legen, auf ein Miteinander statt auf ein Gegeneinander. Eine Zukunft, in der die teilweise immer noch recht fragile Zivilgesellschaft noch aktiver und fordernder auftritt, wo sie sich von der Politik nicht mehr vertreten sieht. Dieser Artikel soll einen kleinen Beitrag dazu leisten.

Das Tagebuch schließt sich jetzt, die Tour geht aber noch weiter. Jede einzelne Lesung bisher hat riesigen Spaß gemacht und mir das Gefühl gegeben, Teil eines großen Netzwerks an ehrlichen, schlauen Menschen zu sein, die mehr von Hoffnung als von Angst getrieben sind. Das hat auch meinen Blick auf das Land und meine Heimat verändert. Danke dafür!

Die Tour hat mir auch klar gemacht, dass es zwar nach wie vor große Unterschiede gibt zwischen Ost und West, vor allem in der Art und Weise, wie wir auf die Vergangenheit schauen und wie wir in die Zukunft blicken. Dass das letztlich aber gar nicht so wichtig ist, wie wir es immer nehmen. Wir sind nicht im Wettbewerb miteinander. Die schönste Gemeinsamkeit ist am Ende, seine Probleme zu teilen.

Die nächsten Lesungen

    1. Februar: Weimar, 19 Uhr, Hotel Elephant
    1. Februar: Brandenburg a.d. Havel, 19 Uhr, Haus der Offiziere
    1. März: Reichenbach/Vogtland, 18 Uhr, Altes Wasserwerk

Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.