Finanzamt gegen Vereine – wer darf in Deutschland Politik machen?

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Politik und Macht

Finanzamt gegen Vereine – wer darf in Deutschland Politik machen?

Die Finanzämter haben großen Vereinen wie Campact und Attac die Gemeinnützigkeit aberkannt. Die Plattform Change.org könnte sie bald verlieren. Was sich wie ein langweiliger Bürokratenakt anhört, ist mehr. Es geht um die Frage, wer in Deutschland bevorzugt Politik machen darf: Nur Parteien und Wirtschaft – oder auch die Zivilgesellschaft?

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Der Verkehr hat eine Infrastruktur: Autobahnen, Ampeln, Radwege. Das Internet hat eine: Überseekabel, Netzknoten, Sendemasten. Und auch unsere Demokratie hat eine Infrastruktur, ein Rückgrat, das sie trägt. Es besteht aus den Parlamenten, Parteien, Politiker:innen – und Millionen Menschen, die sich jeden Tag zusammentun, um etwas zu verändern. Sie tun das in losen Netzwerken, aber auch in gemeinnützigen Vereinen, Stiftungen und Firmen.

Schalten wir die Netzknoten ab, zeigen unsere Handys nur Fehlermeldungen an; fallen alle Ampeln aus, stehen die Autos in den ewigen Staus still. Ein kleines unscheinbares Teil kann kritisch sein, damit alles funktioniert. Manchmal aber weiß man nicht, welches Teil das ist. Man erfährt es erst, wenn alles zu spät ist.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und seine Kollegen bauen gerade die Infrastruktur der Demokratie um. Sie haben sich das wahrscheinlich unscheinbarste Teil vorgenommen: die gemeinnützigen Vereine, Stiftungen und Firmen. Sie wollen Klarheit schaffen. Wie viel politisches Engagement gilt in Deutschland als gemeinnützig?

Die Frage ist mehr als eine philosophische. Gilt eine Organisation als gemeinnützig, muss sie weniger Steuern zahlen. Außerdem können Menschen, die dieser Organisation Geld spenden, diese Spenden wiederum selbst beim Finanzamt geltend machen. Der Staat sagt mit dieser Praxis also: „Was ihr tut, hilft allen, es nützt der Allgemeinheit. Das finden wir gut, deswegen möchten wir euch finanziell unter die Arme greifen.“

Modellflug zu fördern, gilt als gemeinnützig, der Schutz des Klimas nicht

Was als gemeinnützig gilt, entscheiden die Finanzämter. Sie nutzen dafür die sogenannte Abgabenordnung. Darin sind insgesamt 25 Zwecke festgeschrieben, die sich wiederum nochmal ausfächern in Untergruppen. Heraus kommt ein recht wildes Durcheinander. So ist „die Förderung internationaler Gesinnung“ gemeinnützig genauso wie die Förderung des Amateurfunkens, Modellflugs und des Hundesports, alles ehrenwerte Ziele. Was aber nicht darin steht: Menschenrechte, Frieden oder zum Beispiel Klimaschutz.

Die Finanzämter haben bei ihren Entscheidungen zwar etwas Interpretationsspielraum, aber am Ende müssen sie sich immer wieder auf diese Abgabenordnung berufen. Wer nachweisen kann, dass er einen der 25 Zwecke verfolgt: Bescheid vom Amt. Wer es nicht kann: Pech gehabt. Gerade für kleine gemeinnützige Vereine kann der Verlust der Gemeinnützigkeit einem Todesurteil gleichkommen.

Von den kleinen Vereinen erfährt die Öffentlichkeit aber meistens nichts; Schlagzeilen machten im vergangenen Jahr die Fälle von drei großen, sehr bekannten Vereinen.

Im Januar 2019 bestätigt der Bundesfinanzhof, dass das Anti-Globalisierungs-Bündnis Attac nicht gemeinnützig ist. Im Sommer entzieht das Finanzamt der Aktivistenplattform Campact die Gemeinnützigkeit, 300.000 Euro sind zurückzuzahlen. Seit Oktober droht Change.org, eine weitere Plattform, um politische Kampagnen umzusetzen, ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren. Der entsprechende Bescheid läuft nach drei Jahren aus. Ein neuer wird nicht erteilt. Im Gegenteil: Es fehle nur noch eine Unterschrift aus der Berliner Senatsverwaltung, dann könne auch der Aberkennungsbescheid zugestellt werden, hieß es aus dem zuständigen Finanzamt.

Die Finanzämter begründen ihre Entscheidungen immer gleich: Attac, Change.org und Campact engagieren sich über die gesetzlich zulässigen Zwecke hinaus, also über das hinaus, was in der Abgabenordnung steht. Die Details sind für jeden der drei Fälle verschieden, aber bei allen geht es also um die Frage, wie sehr sie sich in die Politik einmischen dürfen.

Change.org will notfalls bis zum Verfassungsgericht gehen

Unstrittig ist, dass sich gemeinnützige Organisationen öffentlich zu den Themen äußern dürfen, die in ihrer Satzung stehen. Eine Satzung ist eine Art Beipackzettel für einen Verein: Warum gibt es ihn? Wer kann Mitglied werden? Wer darf was entscheiden? Jede gemeinnützige Organisation muss eine Satzung haben.

Auf Basis seiner Satzung kann zum Beispiel der Bund der Steuerzahler Behörden attackieren, wenn sie öffentliche Mittel verschwenden. Denn darin steht: Der Verein macht „macht Vorschläge für die Gestaltung des öffentlichen Finanzwesens“. Auf Basis seiner Satzung kann wiederum der Naturschutzbund (NABU) eine „Moorjungfrau“ vor das Kanzleramt stellen, um für den Schutz der Moore zu werben.

Aber ein Verein wie Change.org kann eben nicht einem Teenager helfen, der Wegwerfbecher aus dem größten Fußballstadion Deutschlands verbannen will, oder zwei Frauen, die dafür kämpften, die Tamponsteuer abzuschaffen (und Erfolg hatten). Jedenfalls können sie das nicht steuerbegünstigt tun. Der entscheidende Unterschied in den Augen der Finanzämter und des Bundesfinanzhofs ist: Die einen kämpfen selbstlos für die Allgemeinheit, die anderen tun genau das nicht. Im Fall von Change.org profitiere nur ein kleiner Kreis von Begünstigten.

Gregor Hackmack, Vorstand bei Change.org sagt: „Unser Vereinszweck ist die Förderung des demokratischen Staatswesens. Was beschreibt das mehr, als wenn Bürger:innen sich auf dem Petitionswege in die Demokratie einbringen können?“ Man werde das notfalls bis zur letzten Instanz durchklagen, so Hackmack. „Wenn sich niemand wehrt, schwächt das die Zivilgesellschaft.“

Stefan Diefenbach-Trommer, der eine Initiative von 150 gemeinnützigen Vereinen vertritt, sagt: „Das Steuerrecht hat gesellschaftliche Veränderungen nicht nachvollzogen.“ Es gebe einen großen Abstand zwischen dem, was in den Gesetzen steht, und dem, was draußen im Land passiert. In den vergangenen Jahren habe sich das „politische Engagement“ in Deutschland revitalisiert, so Diefenbach-Trommer.

Tausende auf den Straßen, aber nur 25 Zwecke in der Abgabenordnung

Worauf beide hinauswollen: Politik wird heute immer mehr von Menschen gemacht, die keiner Partei angehören und die kein Amt innehaben. Dabei ist die Macht der Zivilgesellschaft eher informell: Im Internet können die Bürger sich zwar blitzschnell organisieren und Themen setzen. Fridays for Future hat so mit einem Knall die Klimakrise auf den Kabinettstisch der Bundesregierung fallen lassen, im Frühjahr konnte die Youtube-Szene in wenigen Tagen Tausende Menschen gegen die EU-Urheberrechtsreform auf die Straße bringen, zentral war dabei eine Online-Petition, und selbst Pegida entstand aus einer Facebook-Gruppe. Zwar könnte jede dieser Bewegungen schon heute einen Verein gründen und für ihre Themen werben, aber würde Fridays for Future zum Beispiel dazu aufrufen, an einer Demo gegen Rechtsextremismus teilzunehmen, wäre die Gemeinnützigkeit direkt wieder gefährdet.

Oberflächlich betrachtet ist das ein Konflikt um Paragraf 52, Absatz 2 der Abgabenordnung der Bundesrepublik Deutschland, worin die zulässigen Satzungszwecke für gemeinnützige Vereine festgehalten werden. Aber eigentlich geht es darum, ob Parteien und Staat nun auch offiziell und rechtlich abgesichert mehr Macht an Vereine und die Zivilgesellschaft abgeben.

Eine Differenzierung ist dabei wichtig: Ein Verein kann sich auch heute schon politisch engagieren wie er will, nur kann er eben nicht gleichzeitig gemeinnützig sein. Die Gemeinnützigkeit ist ein Privileg, das der Staat vergibt und im Zweifel wieder einkassiert.

In Deutschland gibt es andere Gruppen, die privilegiert sind und Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen dürfen. Am prominentesten: Parteien. Ihr Status ist im Grundgesetz verankert, sie bekommen vom Staat Geld, und wer an sie spendet, kann das beim Finanzamt geltend machen. Es gibt aber auch noch eine zweite Gruppe, die Einfluss nimmt und dafür privilegiert wird: Unternehmen und ihre Verbände.

Große Unternehmen können die Kosten für ihre Lobbyisten einfach von ihren Ausgaben abziehen und so ihre Steuerschuld senken. Der Staat unterscheidet grundsätzlich nicht, ob eine Firma nun für 100.000 Euro einen neuen Ingenieur einstellt oder einen Lobbyisten in Berlin. Parteien und Unternehmen haben also gesetzlich verankerte Vorteile, die die Zivilgesellschaft so nicht hat.

Man könnte also sagen: Der Streit um Paragraf 52 läuft auf einen Schwur hinaus. Mehr Demokratie wagen. Oder vielleicht lieber nicht.

Was eine Reform hemmt: Die Angst vor Geisterparteien

Dabei wenden die Verteidiger des jetzigen Systems immer ein, dass man eine Sache unbedingt vermeiden müsse: Organisationen, die wie Parteien agieren, aber nicht genau wie sie Rechenschaft über ihre Finanzen ablegen müssen. Nennen wir sie der Einfachheit halber Geisterparteien. Mit ihnen könnten sich Menschen unter dem Schutz des Gemeinnützigkeitsrechts zusammentun, um nur für ihren eigenen Vorteil nach politischer Macht zu streben.

Florian Brechtel berät gemeinnützige Organisationen und führte einmal die Geschäfte des CDU-Kreisverbands in Limburg-Weilburg. Er kennt also beide Seiten und sagt: „Wenn man als Verein politische Ziele erfüllen kann, warum sollte man dann noch in eine Partei gehen?“ Diefenbach-Trommer von der Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung kämpft dafür, gemeinnützigen Organisationen mehr Freiraum zu geben. Er wendet ein: „Mit einer Parteispende kann ich theoretisch eine politische Entscheidung kaufen, das ist bei Vereinsspenden nicht möglich..“ Was er meint: Vereine haben keine direkte politische Macht, anders als Parteien mit ihren Bürgermeistern, Abgeordneten und Ministern.

Damit Parteien nicht käuflich werden, gibt es sehr weitgehende Transparenz-Regeln. „Sie müssen bis runter zur Kreisebene für jeden Cent Rechenschaft ablegen“, sagt Brechtel. Wenn auch Vereine diese Anforderungen erfüllen müssten, gäbe das noch weiteren Druck auf die Zivilgesellschaft. Würden Vereine das „gleiche Geschäft betreiben“ wie Parteien, wäre das aber auch gerechtfertigt, so Brechtel.

Es gibt, das kann ich nach meiner Recherche sagen, keine offensichtliche Lösung, die allen Seiten gerecht wird. Das hat auch schon Bundesfinanzminister Olaf Scholz zu spüren bekommen. In dessen Haus ringen die Beamten und Staatssekretäre seit Monaten um eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Die Sachlage ist unübersichtlich, immer wieder gehen neue Gesetzes-Entwürfe im Ministerium herum. Erklärtes Ziel des Ministers ist es, „die Vereine zu schützen und ihnen auch weiterhin politisches Engagement zu ermöglichen“.

Politisch sensible Fälle landen bei den Vorgesetzten

Diefenbach-Trommer sagt: „Die Politik sagt immer, dass es nur um Organisationen wie Attac gehe, aber das stimmt nicht.“ Die Entscheidungen der Finanzämter und des Bundesfinanzhofs hätten Unsicherheit geschaffen. Tatsächlich haben mir mehrere KR-Leser:innen, die in Vereinen tätig sind, besorgte Mails geschrieben. Was dürfe man jetzt noch, fragten sie. Eine Unsicherheit, die es seit mehr als zehn Jahren gebe, so Diefenbach-Tromer. Immer wieder gebe es Probleme mit der Anerkennung der Gemeinnützigkeit.

„Bisher sind diese Fälle nicht an die Öffentlichkeit getragen worden, weil man Spender nicht verschrecken oder laufende Prozesse nicht stören wollte. Aber wir erleben jetzt einen Umschwung, denn mehr und mehr Vereine gehen an die Öffentlichkeit und sagen: ‚Es ist nicht unser Fehler, dass wir Probleme mit der Gemeinnützigkeit haben‘.“

Ob eine Stiftung oder ein Verein gemeinnützig ist, entscheiden Beamte in den Finanzämtern allein, in Berlin werde etwa werde nur in „Einzelfällen“ ein Bescheid der Finanzverwaltung vorgelegt, schrieb mir ein Sprecher des Berliner Senats. Da der Fall Change.org gerade beim Senat liegt, liegt ein Schluss nahe: Politisch sensible Fälle landen bei den Vorgesetzten.

Aber was ist mit kleineren gemeinnützigen Organisationen, die nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen können? Sie sind der Gnade ihrer Finanzämter ausgeliefert, der teure und langwierige Rechtsweg über die Verwaltungsgerichte bleibt natürlich immer offen.

Die Finanzämter machen mit jeder Entscheidung Politik

Was aber passiert: Ein sehr kleiner Kreis Finanzbeamter kann zunächst allein darüber entscheiden, was gut für die Allgemeinheit ist und was nicht. Zum Vergleich: Gut 2.500 gewählte Bundes- und Landtagsabgeordnete in Deutschland werden mit ihrem Amtseid auf das gleiche Ziel eingeschworen. Und man könnte nicht sagen, dass dadurch für jeden eindeutig zu erkennen ist, was genau nun dem Allgemeinwohl dient und was nicht. Es ist eine politische Frage, und die Entscheidung über Gemeinnützigkeit ist deswegen immer auch eine politische Entscheidung mit großem Interpretationsspielraum, der im Zweifel ausgenutzt werden könnte, zu Lasten der Allgemeinheit.

Auf dem CDU-Parteitag in Dezember 2018 hatte der Kreisverband Nord-Württemberg, in dem der ehemalige Autolobbyist Matthias Wissmann Ehrenvorsitzender ist, in einem Antrag gefordert, der Deutschen Umwelthilfe (DUH) die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Die DUH hat sich einen Namen gemacht, weil sie immer wieder Städte verklagt, damit diese gesetzlich vorgeschriebene Grenzwerte der Luftverschmutzung auch einhalten. Wissmanns Antrag schloss sich die Mehrheit der Delegierten der Regierungspartei an. Vielleicht wollten sie damit nur die eigene Basis zufriedenstellen. Aber auch Finanzbeamte schauen Nachrichten.

Dass die Finanzämter politische Entscheidungen treffen, wird vielleicht am deutlichsten, wenn man sich andere Organisationen anschaut, die auch als gemeinnützig gelten. Die Stiftung Familienunternehmen zum Beispiel, mit der die reichsten Familien des Landes Politiker beeinflussen können, selbst das Rechtsextremisten-Netzwerk Uniter konnte mindestens bis Frühjahr 2019 Spendenquittungen ausstellen.

Warum sind diese Organisationen gemeinnützig? Das wissen nur die zuständigen Finanzbehörden. Die Bürger, in deren Namen hier Politik gemacht wird (und die Gemeinnützigkeit mit ihren Steuern indirekt subventionieren), bleiben außen vor.

Ein Vorschlag von erstaunlicher Klarheit

Etwas muss sich ändern. Deswegen wollen einige gemeinnützige Vereine, dass die Abgabenordnung um vier bis fünf Punkte ergänzt wird: Frieden, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Klimaschutz sollen aufgenommen werden. Andere gehen noch einen Schritt weiter: Man streicht den Zweckkatalog komplett und arbeitet mit dem, was übrigbleibt. Jeder Verein, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung achtet, überparteilich ist und nicht nur einer kleinen Gruppe zugutekommen kann, wäre dann gemeinnützig. Die Fälle Attac, Change.org und Campact wären damit vom Tisch und mit ihnen Hunderte andere, von denen die Öffentlichkeit nie erfahren hat. Dieser Vorschlag ist von erstaunlicher Klarheit, radikal und genau deswegen wohl nicht umsetzbar.

Als ich nach den Feiertagen nochmal beim Finanzministerium nachfrage, ob es Neuigkeiten bei der Reform gibt, heißt es bloß: „Die Arbeiten dauern an.“ Viel mehr ist nicht zu erfahren.

Und im Grunde ist das ein gutes Zeichen. Denn wer an der Infrastruktur arbeitet, muss vorsichtig sein. Ganz besonders, wenn es sich um die Infrastruktur der Demokratie handelt. Denn ihr wahrscheinlich kritischstes Teil kann nicht einfach ersetzt werden wie eine defekte Ampelanlage oder ein Sendemast: das Engagement ihr Bürger.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Verena Meyer.