„Es gab einen Rechtsextremismus-Schock“

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Politik und Macht

Interview: „Es gab einen Rechtsextremismus-Schock“

Nach dem Mauerfall haben die DDR-Bürger den Westdeutschen Grundgesetz-Broschüren förmlich aus den Händen gerissen – wie kann dann heute mangelnde politische Bildung Schuld am Aufstieg der AfD haben? Ein Gespräch über zynische Machtpolitik, schlechte Zielgruppenansprache und die Grenzen politischer Bildung.

Profilbild von Interview von Tarek Barkouni

Der Thüringer Geschichtswissenschaftler Christoph Renner hat die Geschichte der politischen Bildung in der Wendezeit erforscht und sagt: Eigentlich waren alle Beteiligten überfordert. Zusätzlich haben alte Bekannte, wie der heutige AfD-Politiker Alexander Gauland, damals knallharte Machtinteressen in der DDR verfolgt. Fraglich ist aber trotzdem, wie nachhaltig und zeitgemäß politische Bildung heute noch ist.

Wer politische Bildung nur als Sozialkundeunterricht begreift, liegt falsch. Genauso wenig ist es Propaganda. Staatliche politische Bildung soll in Deutschland „Verständnis für politische Sachverhalte fördern, das demokratische Bewusstsein festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit stärken.“ Genau wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Reaktion auf den Nationalsozialismus gegründet worden ist, versucht politische Bildung, Grundsteine für die Demokratie zu legen. Dann kam die Wende – und damit eine Gelegenheit, dass politische Bildung wirklich wieder gebraucht wird, oder? Ein Gespräch.


Regelmäßig fällt Ostdeutschland mit Rechtsextremismus auf. Provokant gefragt: Haben die Westdeutschen in den Neunzigern verpasst, den Ostdeutschen Demokratie beizubringen?

Christoph Renner: Das ist mir zu einfach. Ich habe mich mit der Gründungs- und Aufbauphase der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung von 1989/90 bis 1992 befasst: Dieser Prozess steht symptomatisch für den gesamten, sehr hastig verlaufenden Verwaltungsaufbau der neuen Bundesländer, der vor allem durch Vertreter der alten Länder getragen wurde. Es musste damals alles wahnsinnig schnell gehen, woraus Fehler entstanden.

Also keine Versäumnisse, sondern historische Tragik?

Wir sprechen immer davon, wie überfordert die Menschen im Osten mit der Angleichung an das neue System waren. Über die totale Überforderung der Westdeutschen im Vereinigungsprozess spricht keiner. Im Dezember 1989 wurde zwischen Vertretern der Bundesministerien und der Länder eine Aufteilung vorgenommen, welche Länder beim Aufbau demokratischer Strukturen welche Gebiete der DDR unterstützen sollten. Für Thüringen waren es vor allem westdeutsche „Aufbauhelfer“ aus Hessen und Rheinland-Pfalz, die zunächst auf informellem Weg, ab Spätsommer 1990 dann zu hunderten zum Länderverwaltungsaufbau nach Thüringen abgeordnet wurden. Sie waren psychologisch wie intellektuell völlig damit überfordert, für die Ostdeutschen Orientierungspunkt beim überhasteten Übergang in die Demokratie zu sein. Das wäre uns beiden auch nicht anders gegangen.

Welche Schlüsse können wir daraus für aktuelle Debatten ziehen?

Die Handlungen, Erinnerungen und Erfahrungen dieser westdeutschen „Aufbauhelfer“ sind bis heute nicht historisiert worden – sind also weitgehend geschichtswissenschaftlich Terra incognita. Es wäre schon viel für die aktuelle Diskussion über die Wiedervereinigung gewonnen, wenn anerkannt würde, dass West- wie Ostdeutsche sich damals im Hamsterrad der „geschichtlichen Stunde“ bewegten, die Helmut Kohl im Dezember 1989 in Dresden so pathetisch ausrief. Wir müssen 1989/90 und seine Nachgeschichte als eine gemeinsame begreifen lernen, anstatt ständig nur nach der vermeintlichen Andersartigkeit des Ostens zu fragen.

Welche konkrete Rolle spielte denn politische Bildung im Vereinigungsprozess?

Die hessische Landesregierung orientierte sich unmittelbar nach dem unerwarteten Mauerfall nach Thüringen, mit ihr auch die Mitarbeiter der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Man muss sich das mal vorstellen: Ab Ende 1989 kommen Referenten aus der Landeszentrale nach Thüringen und versuchen, dort politische Bildung zu betreiben. Sie waren völlig unvorbereitet – zu Beginn besteht ihre Arbeit aus dem Verteilen von Broschüren, Büchern und Aufsätzen, die das alte bundesrepublikanische System widerspiegeln.

Die hessische Landeszentrale hat 1990 drei Viertel ihres Etats im Bereich Publizistik in Thüringen ausgegeben. Insgesamt hat sie 110.000 Informationshefte zur politischen Bildung, 17.000 Bücher und Broschüren sowie circa 20.000 weitere Informationsschriften verteilt. Eigentlich müsste statistisch gesehen damals jede:r zweite Thüringer:in mal mit einem Text der hessischen Landeszentrale in Berührung gekommen sein.

Wie haben denn die Thüringer auf die einströmenden Westdeutschen reagiert, die ihnen das System beibringen wollten?

Die Zahlen zeigen: Das Interesse für das bundesrepublikanische System war zunächst riesig. In den ersten drei Monaten nach dem Mauerfall war die Ausgabe von Publikationen nach Thüringen so inflationär, dass der damalige hessische Referatsleiter für Publikationen, Klaus Böhme, schon im Februar 1990 intern darauf hinwies, dass man bei der Abgabe deutlich restriktiver vorgehen müsse. Mitarbeiter berichten, wie ihnen auf Thüringer Marktplätzen das Grundgesetz förmlich aus den Händen gerissen wurde. Es ging zunächst um Grundsatzfragen. Um das politische System, Föderalismus, um Wahlen und Demokratie. Aber auch Bücher über Wahlkämpfe wurden stark nachgefragt.

„Man kann so weit gehen, dass die schiere Menge der verteilten Publikationen eine ungewollte Wahlkampfhilfe für jene politischen Kräfte war, die im Volkskammerwahlkampf für eine schnelle Wiedervereinigung eintraten.“

Wegen der Volkskammerwahl im März 1990, der ersten und letzten freien Wahl in der DDR, …

… die mit dem Sieg der CDU-geführten „Allianz für Deutschland“ zur inoffiziellen Volksabstimmung über die Wiedervereinigung wurde. Man kann so weit gehen, dass die schiere Menge der verteilten Publikationen eine ungewollte Wahlkampfhilfe für jene politischen Kräfte war, die im Volkskammerwahlkampf für eine schnelle Wiedervereinigung eintraten. Denn alle Zentralen für politische Bildung haben in ihren „Einflussbereichen“ in der DDR Publikationen und Publikationslisten für Bestellungen aus dem Osten verteilt und untereinander abgestimmt. Diese Listen waren sehr ähnlich, alle hatten die Grundlagen des bundesrepublikanischen Systems zum Inhalt.

Gleichzeitig ist natürlich die ostdeutsche CDU vor den Volkskammerwahlen in der Lage, mit Hilfe der westdeutschen Wahlkampfmaschine den Osten mit Schwarz-Rot-Gold vollzuplakatieren und für eine möglichst schnelle Wiedervereinigung zu werben. Die eher vereinigungs- und kapitalismusskeptischeren DDR-Bürgerbewegungen können auf solche Strukturen nicht zurückgreifen. Und nun kommen Landeszentralen als „unabhängige Institutionen politischer Bildung“ und verteilen massenhaft Publikationen über das bundesrepublikanische System und tragen so dazu bei, dass dieses für die Menschen in Ostdeutschland noch ein Stück alternativloser erscheint.

Also war die politische Bildung doch eine Art Propaganda für das bundesdeutsche System?

Natürlich taten das Akteure politischer Bildung nicht bewusst: Ein Effekt auf die Volkskammerwahl lässt sich empirisch auch nicht nachweisen. Es ist vielmehr ein Prozess wechselseitiger Verstärkung zwischen Angebot und Nachfrage: Die Ostdeutschen orientieren sich mehrheitlich nach Westen, krallen sich buchstäblich an alles, was daher kommt. Und umgekehrt hat man in den Landeszentralen auch erstmal nichts Besseres anzubieten, als Schriften über das bundesdeutsche System zu verbreiten.

„Die Akteure politischer Bildung waren Menschen, keine Zauberer, die aus den Ostdeutschen im Handumdrehen perfekte Demokraten hätten machen können.“

Aber politische Bildung ist doch viel mehr als einfach das Verteilen von Büchern.

Natürlich. Aber die Akteure politischer Bildung waren Menschen, keine Zauberer, die aus den Ostdeutschen im Handumdrehen perfekte Demokraten hätten machen können, was immer das heißt …

Klingt ziemlich fatalistisch.

Politische Bildung nahm sich doch nicht aus dem allgemeinen Umbruchsprozess aus, war vielmehr Symptom für ihn. Der unmittelbare Vereinigungsprozess nach 1989 gilt als „Stunde der Exekutive“, in Bonn werden die wichtigsten Grundentscheidungen für die Wiedervereinigung getroffen. Die Regierungen der alten Länder, wie Hessen, übernehmen dann gewissermaßen nachgeordnet den Verwaltungsaufbau der neuen Länder.

Parallel zu diesem Top-down-Prozess griff auch die politische Bildung auf überwiegend frontale Vermittlungsformen wie das Verteilen von Publikationen zurück. Ab März 1990 unterhielt die Hessische Landeszentrale in Erfurt auch ein „Informationsbüro“, von dem aus sie ab Jahresmitte eigene Veranstaltungen für Thüringer Bürger:innen, vor allem für verunsicherte Lehrkräfte und Angehörige der DDR-Streitkräfte, der Nationalen Volksarmee (NVA), organisierte. Aber auch das waren überwiegend keine interaktiven Vermittlungsformen, sondern Vortragsreihen, bei denen ein Referent vor bis zu 200 Thüringer:innen sprach. Man wollte möglichst viele Thüringer:innen in möglichst kurzer Zeit erreichen, um ihnen bei der Orientierung im neuen System zu helfen.

Wie sind solche Veranstaltungen abgelaufen?

Dazu nur ein Beispiel: Im Juli 1990 hält ein Referent der Landeszentrale einen Vortrag zum Thema „Föderalismus und Demokratie“ vor Erfurter NVA-Offizieren. Später hält er seine Erinnerungen fest: Während des Vortrags hätten die Offiziere vor ihm gesessen, als hätten sie ein Lineal verschluckt, akribisch mitgeschrieben, aber zur Diskussion habe er sie provozieren müssen. Zum Dank für seinen Vortrag bekommt der Referent das Buch „200 Jahre Französische Revolution – Die Französische Revolution als Vorgänger der Weltrevolution“ von den Offizieren überreicht. Hier treffen im Kleinen überzogene Selbstwirksamkeitserwartungen des Westens auf den verunsicherten Osten als Rezipienten – und alle sind mit der Situation überfordert.

„In Wirklichkeit war dieses Programm – wie auch später die vorschnelle Einführung der Währungsunion – zunächst ein versuchter Anreiz des Westens, die ostdeutsche Bevölkerung dazu zu bewegen, doch bitte zu Hause zu bleiben.“

Ging es den westdeutschen Aufbauhelfern denn tatsächlich um die Demokratie?

Ja, jedenfalls in der Hessischen Landeszentrale ist man zunächst über die vielen Anfragen und Reaktionen aus Thüringen begeistert, von einem „Motivationsschub“ durch das große Interesse an der eigenen Arbeit ist immer wieder die Rede. Das war man im Westen übrigens gar nicht mehr gewohnt. Grundsätzlich wurde die Wiedervereinigung dazu zunächst überwiegend mit Freude begrüßt – im Westen wie im Osten. Aber natürlich haben von Anfang an auch knallharte Machtfaktoren eine Rolle gespielt.

Schon im Dezember 1989 setzte die Hessische Landesregierung das Aktionsprogramm „Hessen-Thüringen“ auf, das zunächst als Hilfsprogramm präsentiert wurde, um etwas gegen die marode Infrastruktur, die brachliegenden Gebäude und die verschmutzte Umwelt in Thüringen zu tun. In Wirklichkeit war dieses Programm – wie auch später die vorschnelle Einführung der Währungsunion – zunächst ein versuchter Anreiz des Westens, die ostdeutsche Bevölkerung dazu zu bewegen, doch bitte zu Hause zu bleiben. Es gab keinen Rückhalt in der westdeutschen Bevölkerung für einen weiteren Zuzug von DDR-Bürger:innen über die offene Grenze. In einer Forsa-Umfrage vom Februar 1990 sprachen sich 70 Prozent der Westdeutschen für eine Schließung der innerdeutschen Grenze aus.

Das klingt sehr kolonialistisch und entspricht doch der These, dass vieles einfach über den Osten gestülpt wurde.

In Hessen hat damals Alexander Gauland die Staatskanzlei geführt. Er war einer derjenigen, die besonders schnell und ohne große Achtung dessen, was eigentlich die Thüringer möchten, die Strukturen aus Hessen dort einsetzen wollten. Als es im September 1990 darum ging, welches Bundesland die Federführung beim Aufbau der Landesverwaltung in Thüringen erhalten sollte, und sich der spätere Thüringer Ministerpräsident Duchac diesbezüglich mit Rheinland-Pfalz in Verbindung setzte, drohte Gauland, Hessen werde sich aus Thüringen zurückziehen, wenn nicht die eigenen Vorstellungen umgesetzt würden. „Thüringen gehört uns“, soll er in der Zeit gesagt haben.

Christoph Renner

Christoph Renner © Universität Jena

Es gibt diesen Impuls zynischer Machtpolitik also auch, ganz klar. Ob man das kolonialistisch nennen kann? Ich würde es eher selbstgefällig nennen. In dem Sinne, dass überhaupt nicht mehr die Frage gestellt wird, ob man innerhalb weniger Monate einfach ein ganzes System übertragen sollte. Und so hat man am Ende Strukturen auf den Osten übertragen, die eigentlich schon im Westen einer Überholung bedurft hätten.

Was heißt das konkret?

Der Aufbau der Thüringer Landeszentrale nahm sich aus diesem Prozess nicht aus. In der Besetzung der Leitungspositionen der Hessischen Landeszentrale galt Parteienproporz. Das wurde dann eins zu eins auf Thüringen übertragen, während man in Hessen dieses Prozedere Anfang der 90er schon wieder abschafft, weil es immer wieder dazu geführt hatte, dass politische Bildung in parteipolitische Streitigkeiten verwickelt wurde.

Der unmittelbare Gründungsprozess der Thüringer Landeszentrale vollzog sich zwischen November 1990 und Februar 1991. In die Gründungspapiere der rheinland-pfälzischen Landeszentrale wurden Teile der Satzung der Hessischen Landeszentrale integriert und darüber ein Thüringer Kopf gesetzt. In der Gründungsanordnung der Thüringer Landeszentrale ist bis heute eine fehlerhafte Dopplung zwischen zwei Paragraphen zu finden. So schnell musste das gehen: Die Wiedervereinigung vom Oktober 1990 hatte einen Handlungsdruck geschaffen, dem alle Beteiligten nur hinterherhechelten.

„Die Schubladen waren leer, mit Rechtsradikalismus hatte sich die westdeutsche politische Bildung vorher kaum beschäftigt.“

In den 90ern gab es ja dann auch die ersten Probleme mit Rechtsextremismus. Vor kurzem hat der Journalist Christian Bangel diese Zeit die Baseballschlägerjahre genannt. Wie haben die Landeszentralen darauf reagiert?

Was sie erlebten, nenne ich einen Rechtsextremismusschock. Man war überhaupt nicht darauf vorbereitet und total schockiert von den rechtsradikalen Ausschreitungen, für die Hoyerswerda oder Rostock-Lichtenhagen heute Symbole geworden sind. Die Schubladen waren leer, mit Rechtsradikalismus hatte sich die westdeutsche politische Bildung vorher kaum beschäftigt.

Plötzlich fragte man sich in der Hessischen Landeszentrale, wo man ja gerade Thüringen auch nach der Wiedervereinigung weiter finanziell und personell unterstützt: Wo kommt das her? Warum haben wir das auch für uns selber unterschätzt? Man hat schnell gemerkt, dass man gerade die junge Generation nicht mehr wirklich erreicht, aus der sich ein großer Teil rechtsradikaler Gewalttäter zu rekrutieren schien.

Haben die Landeszentralen denn daraus gelernt?

In den Debatten und politischen Diskussionen wurde an politische Bildung die Erwartungshaltung gestellt, dass sie doch gegen den grassierenden Rechtsradikalismus etwas tun müsse. Man fühlte sich von diesen Erwartungen überfordert und unter Druck gesetzt. Man hat sicher verstanden, dass Bücher nicht genügen, um Rechtsradikalismus entgegenwirken. Und dass die Landeszentralen zielgruppenorientierter agieren müssen.

Deswegen tauchen in den Veranstaltungsbeschreibungen der Hessischen und Thüringer Landeszentrale, die auf diesem Gebiet eng zusammenarbeiten, ganz viele bekannte Namen aus der Rechtsextremismusforschung auf. Zum Beispiel Klaus Farin als Experte der Skinhead-Bewegung, von dem man sich erhofft, dass er schon mit seinem Irokesenschnitt qua seines Aussehens die junge Generation erreicht.

Erfolgreich?

Schwer zu sagen. Die Frage ist, welche Ansprüche man an politische Bildung stellen kann und sollte. Die Erfahrungen der Vereinigungszeit zeigen uns, dass übersteigerte Erwartungshaltungen, die in politischer Bildung gewissermaßen den „Feuerlöscher“ der Demokratie sehen, nichts Neues sind. Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer hat in den Siebzigern schon geschrieben, dass politische Bildung kaum je besser sein wird, als der allgemeine gesellschaftliche Zustand.

Man darf sich politische Bildung nicht als Lokführer:in vorstellen, die Leute in die Demokratie bringt, sondern eher gemeinsam mit den Menschen als Passagiere. Eine ehrliche Debatte darüber, was politische Bildung leisten kann, täte heute nach meiner Einschätzung bitter Not.

„Das Land erlebte in den Neunzigern eine extrem vergiftete Debatte darüber, wer sich nun wie im DDR-System schuldig gemacht hatte.“

Manche machen ja die fehlende Erinnerungskultur im Osten für den Rechtsradikalismus verantwortlich. Wenn ich mir jetzt vorstelle, nach der Wende wurde einfach die westdeutsche Erinnerungskultur dem Osten übergestülpt, dann kann das doch nicht gut gehen.

Der Umbruch bedeutete natürlich auch diesbezüglich eine Verunsicherung. In den Akten gibt es den Bericht des stellvertretenden Leiters der Thüringer Landeszentrale über Lehrer:innen, die auf einmal fragen: Darf ich mit meinen Schüler:innen noch nach Buchenwald fahren? Buchenwald war fester Bestandteil der DDR-Staatspropaganda, wobei der Fokus in der NS-Erinnerung natürlich auf dem kommunistischen Widerstand lag und nicht auf den jüdischen Opfern.

Buchenwald wurde ja dann neu konzipiert.

Die Geschichte der Neukonzeption dieser Gedenkstätte ist eine Erfolgsstory des vereinigten Deutschlands: In der Gedenkstättenarbeit war die Wiedervereinigung einen wichtigen Impuls. In den Achtzigerjahren hatten die NS-Gedenkstätten der alten Bundesrepublik mit zahlreichen Problemen zu kämpfen, beginnend schon bei der unklaren Finanzierungsfrage zwischen Bund und Ländern. Buchenwald als Gedenkstätte von nationaler Bedeutung, die übrigens ab 1992 auch mit der Thüringer Landeszentrale zusammenarbeitete, wurde zum Vorbild für die gesamte Republik.

Und doch bildete sich in den Neunzigern in der DDR ein gefährlicher Rechtsradikalismus, der bis heute nicht überwunden zu sein scheint.

Und der damalige Leiter der Gedenkstätte wurde immer wieder von Rechtsradikalen bedroht, die den Zusammenbruch der DDR als Freifahrtsschein verstanden. Auch von historischen Erinnerungsstätten konnte und kann man nicht verlangen, dass sie alleine Brücken über tiefe gesellschaftliche Gräben bauen. Der Rechtsradikalismus konnte sich im Osten nach 1990 auch deshalb ausbreiten, weil die Ostdeutschen zunächst einmal mit sich und ihrer eigenen DDR-Vergangenheit beschäftigt waren, die sie mit den Westdeutschen und ihrer gewachsenen NS-Erinnerungskultur nicht teilten.

Vielen westdeutschen Intellektuellen war es nach 1990 ein Anliegen, dass man die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert nicht wieder wie beim Nationalsozialismus um Jahrzehnte verpasst. Und ja, über die DDR-Vergangenheit wurde nach dem Mauerfall nicht der Mantel des Schweigens gelegt. Und doch erlebte das Land in den Neunzigern eine extrem vergiftete Debatte darüber, wer sich nun wie im DDR-System schuldig gemacht hatte. Die Diskussion hat keinerlei Grautöne zugelassen und ist zum Teil völlig irrational geführt worden, tiefe persönliche Verletzungen eingeschlossen, die bei Ostdeutschen bis heute nachwirken.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Im Februar 1992 erhängte sich das thüringische PDS-Mitglied des Deutschen Bundestags, Gerhard Riege, in seinem Garten – eine nicht enden wollende mediale Diskussion um seine Jahrzehnte zurückliegende IM-Tätigkeit war vorausgegangen. Der damalige Präsident des Thüringer Landtags, Gottfried Müller, kondolierte der Witwe und mahnte an, bei der weiteren DDR-Aufarbeitung müsse humaner vorgegangen werden.

Müller (CDU) musste es wissen: Als sich im April 1991 das Kuratorium der Thüringer Landeszentrale im Landtag zusammenstellte, war es ein CDU-Abgeordneter, der den PDS-Kandidaten, den ehemaligen stellvertretenden Bildungsminister der DDR, mit Joseph Goebbels verglich. Er erhielt keinen Ordnungsruf, denn man war diesen Ton gewohnt – im Parlament wie in der Öffentlichkeit.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.