Müssten fürs Klima alle Deutschen streiken dürfen?

© gettyimages / Nicolò Campo

Politik und Macht

Müssten fürs Klima alle Deutschen streiken dürfen?

Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future ruft zu ihrem „globalen Klimastreik“ kommenden Freitag auch Erwachsene auf. Deswegen hat eine interessante Diskussion begonnen – darüber, wie weit Streiks in Deutschland gehen dürfen. Klar ist: Sogenannte „politische Streiks“ haben in Deutschland schon einen Putsch verhindert und den Weg für die Soziale Marktwirtschaft geöffnet.

Profilbild von Niklas Bessenbach

Es soll die bislang größte Klimademonstration von Fridays for Future (FFF) werden. Die Aktivist:innen wollen, dass ab dem 20. September in Städten auf der ganzen Welt Menschen jeden Alters auf die Straße gehen. Am selben Tag entscheidet die Bundesregierung über ihre nächsten Klimaschutz-Maßnahmen, einen Tag später beginnt ein Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York. „Wir müssen der Politik zeigen, dass nicht nur Jugendliche auf die Straße gehen“, sagt der Student und FFF-Aktivist Nick Heubeck. Die bisherige Klimapolitik reiche nicht, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten.

Einige Medien verstehen die Pläne von FFF als einen Aufruf zum Generalstreik. Die Frankfurter Rundschau titelt zum Beispiel: „,Fridays for Future’ will Generalstreik fürs Klima – Verdi unterstützt die Idee.“ Die taz schreibt: „Fridays for Future will mit einem Generalstreik die Politik zwingen, mehr fürs Klima zu tun. Das Vorhaben ist richtig und nötig.” Bei einem Generalstreik legen große Teile der Arbeitnehmer:innen die Arbeit nieder, um Handel, Verkehr, Post und Entsorgung lahmzulegen. Ziel des Generalstreiks: der Regierung politische Zugeständnisse abringen.

Streiks für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten oder den Ausbau von Mitbestimmung kennt man in Deutschland – aber ein Generalstreik? Ist das wirklich das, was Fridays for Future auf die Beine stellen will? Denn der letzte Generalstreik auf deutschem Boden fand am 17. Juni 1953 statt, damals demonstrierten in 700 Städten und Gemeinden die Bürger:innen der Deutschen Demokratischen Republik unter anderem für freie Wahlen und den Rücktritt der SED-Regierung.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) unterstützt zwar die Demonstrationen von Fridays for Future. Allerdings werde es keinen Streikaufruf des DGB im eigentlichen Sinne geben. „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich mit den Aktionen von Fridays for Future solidarisieren und an Demonstrationen teilnehmen wollen, sollten das geltende Arbeitsrecht beachten und sich für diese Zeit freinehmen“, schreibt der DGB auf seiner Website. Auch der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Bsirske, sympathisiert mit der Demonstration. „Wir werden zur Teilnahme an den Veranstaltungen aufrufen“, sagt Bsirske, selbst Grünen-Mitglied, der WAZ. Um dann jedoch einzuschränken, dass seine Gewerkschaft nicht zu ordentlichen Streiks aufrufen könne. „Das geht nicht.“ Doch warum geht das nicht?

Generalstreiks haben einen Putsch verhindert – und die Soziale Marktwirtschaft ausgelöst

Abgesehen vom Volksaufstand in der DDR 1953 gab es in Deutschland seit siebzig Jahren keine Generalstreiks mehr. Das war vor und während des Ersten Weltkrieges anders, wie der Politikwissenschaftler Jörg Nowak schreibt. Im Januar 1918 legten Arbeiter der Metallindustrie ihre Arbeit nieder, um für eine offensichtlich politische Forderung zu kämpfen: für das Ende des Krieges. Die Streiks mündeten in der Novemberrevolution, die wiederum zur Gründung der Weimarer Republik führte.

Als rechtsgerichtete, antirepublikanische Militärs die Weimarer Republik im März 1920 zerschlagen wollten, riefen Gewerkschaften und SPD einen Generalstreik aus. Es begann der größte Generalstreik in der Geschichte Deutschlands. Über 12 Millionen Menschen waren auf den Straßen. Der Putsch brach nach vier Tagen auseinander, nachdem die Ministerialbürokratie nicht mit den Putschisten zusammenarbeiten wollte.

Zu einem vergleichsweise großen politischen Streik kam es erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Im November 1948 streikten in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone mehr als 9 von insgesamt 12 Millionen Erwerbstätigen für die Demokratisierung der Wirtschaft. Der Historiker Uwe Fuhrmann meint, dass nur wegen dieses letzten Generalstreiks der deutschen Geschichte die Soziale Marktwirtschaft eingeführt wurde.

Am 20. September werden kaum Menschen die Arbeit niederlegen

In der Nachkriegszeit haben Gerichte politische Streiks immer wieder für rechtswidrig erklärt. „Das ist ständige Rechtsprechung“, sagt der Arbeitsrechtler Arnd Diringer, Professor an der Hochschule Ludwigsburg und Leiter der Forschungsstelle für Arbeitsrecht. Ein Generalstreik richte sich nicht gegen das bestreikte Unternehmen, sondern die Regierung und/oder das Parlament eines Landes. Streiks in Deutschland müssten aber ein Ziel vor Augen haben, das der bestreikte Gegner auch umzusetzen vermag. Das heißt, für höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten zu kämpfen ist rechtmäßig, nicht aber für die Erhöhung der Renten oder die Reduktion des CO2-Ausstosses insgesamt. Denn das kann nur der Staat regeln.

Die geplante Klimademonstration hat also nichts mit einem Generalstreik zu tun. Weder FFF noch die Gewerkschaften rufen dazu auf. Daher ist es unwahrscheinlich, dass mehrere Millionen Menschen die Arbeit niederlegen. Zum Wesen des Generalstreiks gehört aber genau das: massenhafte Arbeitsniederlegung. „Juristisch handelt es sich um keinen Streik, was Fridays for Future vorhat“, sagt Diringer.

Warum speziell Deutschland mit der Idee des Generalstreiks Probleme hat

Der Historiker Uwe Fuhrmann hat sich in seiner Forschung mit dem Einfluss eines Generalstreiks auf die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt. Er meint, dass die juristische Frage nicht unbedingt entscheidend sei. Schließlich habe 1920 ein Generalstreik dazu geführt, die Weimarer Republik vor rechten Putschisten zu retten, und ein weiterer 1948 dazu, dass die Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt wurde. Die rechtliche Bewertung habe da auch nicht im Vordergrund gestanden, sondern, dass durch die politischen Streiks gute Ergebnisse erzielt worden sind.

Ein von einer Mehrheit getragener Generalstreik würde laut Fuhrmann an sich selbst demonstrieren, dass er politisch legitim sei. „Er ist an sich der Beweis, dass der Staat gegen die Interessen ,seiner‘ Bevölkerung handelt.“

Fuhrmann sagt: „Ich wünsche mir mehr Mut von den Gewerkschaften, denn nie stand so viel auf dem Spiel.“ Er vermutet, dass Gewerkschaften unter anderem aus Furcht vor Schadensersatzklagen durch Unternehmen nicht zu einem ordentlichen Streik aufrufen.

Verdi-Chef Frank Bsirske hat auf einer Pressekonferenz unter anderem mit FFF in Berlin diesen Montag gesagt: „Ich habe überhaupt keine grundsätzliche Ablehnung gegenüber politischen Streiks“. Doch um als Gewerkschaft dazu aufrufen zu können, brauche man eine „Bewegung, eine Basis in den Betrieben”. Dort fehle es noch an der nötigen Sensibilisierung. Er meint, er leiste einen aktiven Beitrag, „dass sich da was ändert.”

Fuhrmann bringt außerdem das im Grundgesetz verankerte Recht auf Widerstand ins Spiel (Artikel 20, Absatz 4 Grundgesetz). Er meint, das Recht erlaube jedem Menschen Widerstand gegen diejenigen zu leisten, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Auch in Form des Generalstreiks. Die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen sei „inhaltlich gesehen unweigerlich die Beseitigung dieser ‚Ordnung‘, und das Widerstandsrecht müsste greifen“, sagt Fuhrmann.

Zudem argumentiert er, dass für das Verbot von politischen Streiks auch der „NS-Karrierist” Hans-Carl Nipperdey verantwortlich sei. Der war der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts und habe das Streikrecht sehr eng gefasst. „Ohne diese ‚NS-Kontinuität‘ ist das derzeitige illiberale Verständnis von Streik nicht zu verstehen”, sagt Fuhrmann.

Arbeitsrechtler hält Generalstreiks in einer Demokratie für sinnlos

Der Arbeitsrechtler Arnd Diringer hält dagegen. Für ihn ist Hans-Carl Nipperdey „einer der ganz, ganz großen Arbeitsrechtler“. Es stimme, dass Nipperdey die Grundlagen des Streikrechts stark geprägt habe. „Das heißt aber nicht, dass das unter einem anderen Richter anders gewesen wäre”, sagt Diringer. „Die Entwicklung des Streikrechts ist systemimmanent, sie beruht auf allgemeinen Grundsätzen der Verfassung.”

Er widerspricht auch den historischen Vergleichen, mit denen Fuhrmann die positiven Effekte von politischen Streiks zeigen will. Denn die politischen Streiks hätten sich in einer Zeit ereignet, als noch keine freiheitlich-demokratische Grundordnung herrschte. „Die Streiks früher wollten eine freie Gesellschaft herbeiführen, heute leben wir aber in einer“, sagt Diringer. Für ihn ergeben politische Streiks in einer Demokratie keinen Sinn. Das Grundgesetz garantiere alle wichtigen Grundrechte, politische Streiks seien nicht nötig.

Außerdem meint Diringer, dass politische Streiks, die zum Ziel haben, direkt Veränderungen herbeizuführen, undemokratisch seien. Politische Veränderungen fänden laut Grundgesetz durch Wahlen und Abstimmungen statt. Nicht durch eine Minderheit, die meine, sie wisse, was gut für unsere Gesellschaft sei. In der Demokratie gehe es darum, Mehrheiten zu erringen.

Das in Artikel 20 Absatz 4 garantierte Recht auf Widerstand gewährt politische Streiks nur unter engen Voraussetzungen. Dafür muss der Staat oder ein Dritter die Demokratie beseitigen wollen. „Das tut er aber nicht, wenn er nicht die Klimapolitik betreibt, die sich einige wünschen“, sagt der promovierte Arbeitsrechtler.

Wäre mehr direkte Demokratie besser?

Diringer fordert stattdessen mehr Möglichkeiten für Bürger:innen, an politischen Entscheidungen zu partizipieren. Das Grundgesetz erlaube auch Volksentscheide. „Die direkte Demokratie wäre als Korrektiv zum Parlamentarismus das perfekte Mittel“, sagt der Arbeitsrechtler. Dann könnten Bürger:innen auch zwischen den Wahlen ihren Willen besser zum Ausdruck bringen und könnten nicht nur alle vier Jahre sagen, was sie wollen. Zum Beispiel könnte man ausgehend von den Pariser Klimazielen konkrete Forderungen aufstellen und den Bürger:innen zur Wahl stellen.

Politische Streiks sind im heutigen Arbeitsrecht rechtswidrig. Wer ohne Absprache mit dem Chef oder der Chefin nicht zur Arbeit geht, um an den Protesten teilzunehmen, also wild streikt, riskiert eine Abmahnung oder eine Kündigung. Alternativen listet das Umweltinstitut München auf: sich Urlaub nehmen – oder den Arbeitgeber überzeugen, selbst mitzumachen. Das funktioniert auch.

Zahlreiche Firmen wollen sich an der Demonstration am 20. September beteiligen. Das Bündnis Entrepreneurs for Future, zu dem ungefähr 2.500 Unternehmen gehören, ruft Arbeitnehmer:innen auf, sich am Protest zu beteiligen. Mit dabei sind Firmen wie das Busunternehmen Flixbus, der Online-Händler Zalando oder die Crowdfuding-Plattform Startnext. Noch weiter geht die Suchmaschinenfirma Ecosia. Sie erlaubt es allen ihren Mitarbeitern, unter der Woche an „Klimaschutzveranstaltungen“ teilzunehmen. Sollte angemessener und gewaltfreier ziviler Ungehorsam dazu führen, dass ein:e Ecosia-Mitarbeiter:in inhaftiert wird, zählt die Zeit hinter Gittern als „Arbeitszeit“.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Verena Meyer.