1. AfD-Wähler sind keine Protestwähler mehr
Eine Diagnose war in den vergangenen Jahren nach ostdeutschen Wahlen immer besonders schnell zur Hand: Die wählen doch aus Protest AfD. Die anderen Parteien haben es verpasst, Angebote zu machen – jetzt bekommen sie die Rechnung. Stimmt das?
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Spätestens seit diesen Wahlen muss klar sein, dass es nicht stimmt. Jedenfalls: nicht nur. In Sachsen sagten 70 Prozent der AfD-Anhänger, sie wählten ihre Partei wegen politischen Forderungen, also: aus inhaltlichen Gründen. „Das Protestwähler-Narrativ zerbröselt“, sagt die Chemnitzer Soziologin Susanne Rippl in unserer Facebook-Gruppe Mensch, Sachsen.
In Brandenburg gaben immerhin 43 Prozent der AfD-Wähler an, die Partei wegen ihrer Inhalte gewählt zu haben. Hier lässt sich also schon eher von einer Protestwahl reden. Aber auch dann wird man mindestens 43 Prozent der Wähler nicht gerecht. Lasst uns also versuchen, die AfD-Wähler nicht mehr als Protestwähler zu behandeln, sondern inhaltlich zu fragen: Warum wählen so viele Menschen ausgerechnet AfD?
Ein Indiz gibt es. Das wichtigste Thema des AfD-Wahlkampfs war 1989, die friedliche – und aus AfD-Sicht: unvollendete – Revolution. Warum hatte die Partei damit so viel Erfolg, sogar bei jungen Wählern? Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigte Anfang des Jahres: Nicht einmal die Hälfte der jungen Ostdeutschen glaubt, dass die Wiedervereinigung ihren Eltern gut getan habe. Ein großes Thema, das die CDU aber wohl nie anrühren wird. Denn die Wiedervereinigung ist ihre größte Erfolgsgeschichte.
Dabei müsste die CDU hier, und nicht bei den nationalen und rassistischen Positionen der AfD, eine Flanke schließen.
2. Protestwahl hieß diesmal auch: Stimmen für CDU und SPD
Sachsens stärkste Kraft heißt CDU, in Brandenburg ist es die SPD. Beide Male hätte dieser Titel auch leicht an die AfD gehen können – hätten die taumelnden Volksparteien nicht ungewohnte Unterstützung bekommen. In Sachsen wechselten im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren zur CDU: 34.000 SPDler, 30.000 Linke, 13.000 Grüne, 13.000 FDPler und sogar 162.000 Nichtwähler – aber nur 3.000 AfDler. In Brandenburg wählten die SPD 30.000 Linke, 20.000 CDUler, 9.000 Grüne, aber nur 2.000 AfDler.
Krautreporter-Mitglied Wolfgang Wetzel, der im Wahlkreis Zwickau für die Grünen kandidierte, beschreibt dieses Phänomen sehr schön in einem Facebook-Post: „Die Menschen müssen sich aktuell entscheiden, was ihnen die Demokratie wert ist – und viele tun das auch. Ich erlebe das im Zwickauer Alltag, auch in eher unpolitischen, konservativen, klassisch CDU wählenden Milieus. Dort haben mir etliche Menschen gesagt, dass sie diesmal eigentlich Grün wählen wollten, aber zur Abwehr der AfD bei CDU geblieben sind.”
Vielen Menschen in Ostdeutschland, die ohnehin eine geringere Parteienbindung haben als Westdeutsche, war eine AfD-Niederlage wichtiger als die eigene politische Präferenz. Die eigentlichen Protestwähler dieser Wahl sind die Tausenden, die für die CDU beziehungsweise SPD gestimmt haben – und damit explizit gegen die AfD.
3. Wo die NSDAP ihre Hochburgen hatte, wird heute besonders häufig die AfD gewählt
Deutschland besteht aus rund 11.000 Gemeinden. Die durchschnittliche Gemeinde hat 6.800 Einwohner, die Hälfte der Gemeinden hat 1.700 Einwohner oder weniger. Berlin, Hamburg, Köln und München sind also eher die Ausnahme. Deutschland, das ist eben auch Kölleda, Möhlau, Golßen oder Culitzsch. Die Größe solcher kleineren Gemeinden hat sich seit den 1930er-Jahren kaum verändert.
Der Historiker Davide Cantoni kam deshalb auf die Idee, die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 in jeder Gemeinde mit den Wahlergebnissen der NSDAP zu vergleichen – besonders mit der Wahl im März 1933, aber auch 1928 und 1930. Er fand heraus: Wo die NSDAP damals besonders erfolgreich war, ist es heute die AfD.
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Und schon damals waren die Nazis besonders in Sachsen stark, sagte Cantoni in einem Interview der Zeit. Natürlich vererben sich politische Vorlieben nicht genetisch. Aber wenn die Eltern rechtes Gedankengut verbreiten, dann hat das großen Einfluss auf die Kinder.
Und aus Cantonis Daten lässt sich noch eine weitere Parallele zu den 1930er-Jahren ablesen: „Ein großer Teil der AfD-Stimmen kommt von Nichtwählern. Auch da sehen wir eine Korrelation. Orte, die in den Dreißigerjahren Nazi-Hochburgen waren, hatten lange Zeit eine eher niedrige Wahlbeteiligung. In diesen Orten ging die Wahlbeteiligung dann zwischen 2013 und 2017 hoch, zugunsten der AfD, während in Deutschland als Ganzes die Wahlbeteiligung eher abnahm.“
4. Was hilft gegen die AfD? Flüchtlinge!
Keine neue Erkenntnis, hat sich aber bei diesen Landtagswahlen wieder bestätigt: Wo es keine Ausländer gibt, wird am häufigsten rechtsradikal gewählt. Besonders deutlich zeigt sich das in Leipzig. Dort, wo die meisten Migranten leben, hatte es die AfD besonders schwer.
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Hier noch der Beweis durch Gegenprobe: Ihr höchstes Ergebnis holte die AfD in Hirschfeld im Nirgendwo von Südbrandenburg. 50,6 Prozent der Wähler gaben ihre Stimme den Rechtsradikalen. Im Umkreis von zwölf Kilometern gibt es dort keinen einzigen Flüchtling, hat der Tagesspiegel recherchiert.
5. Es gibt zu wenig Frauen
Die AfD ist eine Männerpartei. Sie hat in Sachsen die Stimmen von 33 Prozent aller männlichen Wähler bekommen – aber nur 22 Prozent der Stimmen von Wählerinnen, wie eine Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen ergab. Von den 38 Mitgliedern der neuen AfD-Fraktion im sächsischen Landtag sind gerade mal vier Frauen. Die Genderforscherin Katrin Frisch sagte in einem Beitrag der Chemnitzer Freien Presse”, die AfD richte sich besonders an ostdeutsche Männer, weil diese zunehmend das Gefühl hätten, „aus den ihnen zustehenden Positionen verdrängt zu werden – ob von Frauen, Westdeutschen oder Zuwanderern“.
Der ostdeutsche Mann fühlt sich aber nicht nur bedroht. Er ist auch alt: In Sachsen sank der Anteil an jungen Menschen zwischen 1990 und 2017 um 44 Prozent. Brandenburg erlebte 2018 das größte Geburtendefizit seit 1994, als 12.000 Babys weniger geboren wurden als Menschen starben. Und er ist einsam: Unter den jungen Sachsen zwischen 14 und 27 Jahren ist der Frauenanteil deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung – hier kommen auf 52 Männer 48 Frauen. All das sorgt für politische Radikalisierung.
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„Weltweit gibt es kaum Regionen, in denen diese ungünstigen demografischen Entwicklungen so deutlich ausgeprägt sind wie in den ostdeutschen Bundesländern“, schreibt die Jenaer Soziologin Katja Salomo in einer aktuellen Studie.
6. Seit 1989 haben sich nicht mehr so viele Bürger für Politik interessiert wie heute. Das liegt an der AfD – aber nicht nur
Als die Sachsen 2014 zum letzten Mal einen neuen Landtag wählten, stimmten nur 49,1 Prozent der Wahlberechtigten ab – die zweitniedrigste Beteiligung an einer Landtagswahl aller Zeiten. Bei dieser Wahl stimmten so viele Sachsen ab wie zuletzt im Wendejahr 1990. Woher kamen die neuen Wähler?
In Brandenburg wie in Sachsen konnten SPD und CDU viele Neuwähler rekrutieren. Die allermeisten – Hunderttausende – stimmten aber für die AfD. Menschen, die in der Vergangenheit nicht gewählt hatten, machten diesmal jeweils fast die Hälfte aller AfD-Stimmen aus. In Sachsen kamen SPD, Linke und Grüne bei der Landtagswahl zusammen auf weniger Prozente als die AfD allein.
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Die AfD hat also einen Teil des Ostens, der sich vorher an politischen Prozessen nicht beteiligt hat, politisch aktiviert. Sie hat aber auch Menschen politisiert, die jetzt zum ersten Mal verfolgen werden, was mit ihrer Stimme geschieht. Das stellt auch eine Chance für alle anderen Parteien dar.
7. Die Jugend wählt grün oder rechtsradikal
Junge Wähler mögen junge Parteien, das ergab die Analyse der Forschungsgruppe Wahlen: In Sachsen gewann bei den 18- bis 29-Jährigen die AfD (21 Prozent) vor den Grünen (19 Prozent). In Brandenburg gewannen bei den 16- bis 29-Jährigen die Grünen (24 Prozent) vor der AfD (20 Prozent).
Die Schriftstellerin Ines Geipel hat in einem Interview der NZZ gesagt: „Neu ist, dass es nun die Einheitskinder und die Ost-Millennials sind, die die AfD gewählt haben. Über beide hat man immer gesagt, dass die mit Diktaturerfahrung nichts mehr am Hut haben, da sie nur noch ein Deutschland kennen. (…) Interessant ist auch, dass bei den ganz Jungen, den Erstwählern, nur 40 Prozent wählen gegangen sind. Ist das ein neues Schweigen? In jedem Fall sagt diese Wahl, wie viel demokratischer Boden vor allem bei den jungen Ostdeutschen weggerutscht ist. Das dürfte uns noch ziemlich beschäftigen.“
Der Politikwissenschaftler und Jugendforscher Alexander Leistner aus Leipzig hat dieses ambivalente Ergebnis für uns noch einmal genauer eingeordnet. Er sagt: „Das Aufbegehren gegen den Rechtsruck ist in dieser Altersgruppe am stärksten. Gleichzeitig ist diese Generation auch am stärksten polarisiert. Diese Gruppe politisierter Jugendlicher hat sich durch die Klimafrage noch einmal vergrößert. Diese Generation trägt eine doppelte Bürde: die Radikalisierung (auch) ihrer Altersgenoss:innen und der ungelöste Generationenkonflikt rund um die großen Überlebensfragen der Menschheit. Die Rede von den großen Erfolgen der AfD gerade bei jungen Menschen ist aber schlicht falsch. In der Altersgruppe (18-24) hat sie die geringste Zustimmung und die geringsten Zuwächse.“
8. Die Linke ist keine ostdeutsche Partei mehr
Die Linke war immer eine ostdeutsche Besonderheit: Nur hier war sie wirklich stark. Die taz beschreibt, dass lange die Faustregel galt: “Um 7 bis 8 Prozent bei Bundestagswahlen zu erreichen, muss die Linke im Osten etwa 20 Prozent einfahren.” Während sie in fast keinem westdeutschen Flächenland auch nur im Landtag sitzt, lag sie bei ostdeutschen Landtagswahlen lange um die 20 Prozent. Vor 15 Jahren holte sie dann auch in Brandenburg ihr bestes Ergebnis: Fast 30 Prozent. Und dieses Mal? 11 Prozent in Brandenburg und 10 Prozent in Sachsen. Damit ist sie auf dem Niveau der westdeutschen Stadtstaaten angekommen.
Wie ist es dazu gekommen? Auf den ersten Blick scheint der Grund klar: Die Leute haben mit der AfD eine neue Partei gefunden, um ihren Frust auszudrücken. Die Linke ist inzwischen zu sehr Teil des Establishments: In Thüringen stellt sie den Ministerpräsidenten, in Berlin, Bremen und Brandenburg ist sie Teil der Regierung.
Vor allem aber hat die Linke ihren Status als Kümmerer-Partei verloren. In der Linkspartei denken einige, sie hätten seit der Vereinigung mit der WASG 2007 ihre ostdeutschen Zielgruppe vernachlässigt. Die Brandenburger Linken-Vorsitzende Anja Mayer sagt der taz, sie hätten zu viele Debatten geführt, die nichts mit den Leuten zu tun haben. Zum Beispiel, ob „Freiheit und Sozialismus“ oder „Freiheit durch Sozialismus“ der treffendere Slogan sei.
Auf jeden Fall ist die Linke in den vergangenen Jahren jünger und urbaner geworden, was ihre ostdeutsche Stammwählerschaft abschreckt. Es gibt inzwischen mehr westdeutsche als ostdeutsche Linken-Mitglieder. Und bei der Bundestagswahl 2017 kamen immerhin fast zwei Drittel der Linken-Stimmen aus dem Westen. Die Linke hat sich also von einer großen Ostpartei zur gesamtdeutschen Kleinpartei gewandelt.
9. Wir können nicht mehr einfach annehmen, dass Parteien unsterblich sind
Zum zweiten Mal nacheinander ist die FDP sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen an der Fünfprozenthürde gescheitert. FDP-Chef Christian Lindner erklärte das schwache Wahlergebnis in der Bundespressekonferenz mit der „Polarisierung“ der Wähler (siehe Punkt 2).
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Mit fast identischen Worten redete sich Sachsens SPD-Chef Martin Dulig das katastrophale Ergebnis von 7,7 Prozent bei der Landtagswahl im Stammland der Sozialdemokratie schön (ja, die SPD gründete sich 1863 in Leipzig). Wieder mal waren es also die Umstände. An der letzten Wahlmisere war die Flüchtlingskrise schuld gewesen. Und davor war es die Wirtschaftskrise. Was die Parteien sich bis heute nicht eingestehen wollen, ist, dass das politische System in einer Krise ist, die für sie existenzbedrohend werden kann. Das liegt daran, dass die politische Entwicklung im Osten immer noch als Sonderfall betrachtet wird, und das vermeintlich stabilere Westdeutschland als der Normalfall.
Dabei zeigt die Entwicklung auch in anderen Demokratien, dass die großen Parteien eben nicht mehr unsterblich sind. Die Sozialisten in Frankreich stellten zum Beispiel bis vor zwei Jahren noch den Präsidenten. Um dann bei der Wahl 2017 in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Ähnliche Erfahrungen mussten Volksparteien unter anderem in Tschechien, Polen und Italien längst machen.
10. Gegen die AfD gewinnt man, indem man sie angreift
In sieben Wahlkreisen war Hans-Georg Maaßen, der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, vor den Landtagswahlen zu Gast – sechs davon verlor die CDU an die AfD. Und die Kandidaten, die sich besonders von Maaßen abgrenzten? Sie gewannen haushoch: Stephan Meyer und Michael Kretschmer, beide im eigentlich tiefblauen Görlitz.
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Heißt das, dass ein rechtskonservativer Wahlkampf, so wie ihn Maaßen verkörpert, der CDU im Osten schadet? Dass es der AfD sogar nützt, wenn man beispielsweise laut darüber nachdenkt, mit ihr zu koalieren? Ganz so einfach ist es nicht. Immerhin gewann Landtagspräsident Matthias Rößler seinen Meissner Wahlkreis – auch er hatte Besuch von Maaßen. Und alle anderen, bei denen der Ex-Verfassungsschutz-Chef zu Gast war, standen ohnehin auf der Kippe.
Man muss nach Brandenburg und nach Bayern gucken, um zu verstehen, dass Abgrenzung, nicht Annäherung, das probateste Mittel gegen die Rechtspopulisten ist.
Zum einen ist da also Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke, der einen Wahlkampf führte, in dem er häufiger auf die AfD drosch, als seine eigene Partei zu loben. Und es funktionierte – die SPD blieb stärkste Kraft im Land. In Bayern greift Markus Söder die AfD an, wie man es sonst nur von Linken kennt, NPD-Vergleiche inklusive. Und bei der Landtagswahl 2018 kam die bayerische AfD auf 10 Prozent, obwohl ihr schon 14 vorausgesagt wurden.
Redaktion: Phillip Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Verena Meyer.