Am Sonntag wird wohl wieder jeder fünfte Wähler in Brandenburg, jeder vierte in Sachsen AfD wählen. Auf dem Land ein wenig mehr, in der Stadt weniger. So ist es hier seit 2017 bei jeder Wahl, egal ob es um Europa, den Bundestag oder nun eben das Land geht.
Die AfD gewinnt im Osten so gut wie keine neuen Wähler dazu. Sie verliert aber auch fast niemanden. Das hellblaue Dagegen-Etikett ist Trumpf. Unmöglich da vorbeizukommen, so scheint es. Wirklich?
Ich habe sämtliche Tabellen der ostdeutschen Kommunalwahlen durchforstet. Dort liegt die AfD manchmal über ihrem Schnitt. Manchmal verliert sie auch. Und ich bin dabei auf eine Wahl gestoßen, die die AfD spektakulär verloren hat.
Teilweise, jedenfalls – das macht die Sache so spannend.
In Thüringen liegt, nördlich von Erfurt und Weimar, die Kleinstadt Kölleda. Der AfD sind die Kölledaer durchaus zugetan. Am 26. Mai, zur Europawahl, wählten hier 23 Prozent AfD. Das ist viel, selbst für Thüringen.
Doch am selben Tag wählten die Kölledaer auch ihren Stadtrat – und entschieden ganz anders. Nur noch 8,9 Prozent machten auch auf dem zweiten Zettel ihr Kreuz bei der AfD. Von vier angetretenen AfD-Kandidaten schafften es nur zwei in den Stadtrat.
Die Influencer meckerten, dass nur noch gemeckert, aber nichts getan werde
Es gibt im gesamten Osten keine andere Stadt mit so vielen AfD-Wählern, die ihre Partei aber links liegen ließen, als es um ihre Stadt ging. Dafür bekam „Gemeinsam für Kölleda“ die meisten Stimmen. Der Verein, der sich nur ein Jahr zuvor gegründet hatte, landete aus dem Stand bei 27,3 Prozent.
Ein Verein, mitten im ländlichen Thüringen, der die AfD bezwingt? Wie? „Naja“, sagt Daniela Hofmann und lacht, „so ganz können wir uns das auch nicht erklären.“
Die 41-jährige Vereinsvorsitzende hat einen festen Schritt, spricht schnell und wenn sie sich umdreht, schwingt ihr blondes Haar mit. Wir stehen auf einem Parkplatz in der Nähe von Kölleda, Hofmann kommt gerade von der Arbeit. „Eigentlich war es nur eine verrückte Lagerfeuer-Idee“, sagt sie.
Im Mai 2018 saß Hofmann mit Freunden und bei Bier am Lagerfeuer. Da saßen, zum Beispiel, Christian vom Feuerwehrverein und Christine vom Museumsverein. Oder Peter Nowak, der einen Monat vorher Bürgermeister werden wollte, aber knapp verlor. Lauter Menschen, die man in Kölleda kennt. Und die Kölleda kennen.
Die Influencer einer Nordthüringer Kleinstadt, die gemeinsam ins Feuer guckten und nun anfingen darüber zu meckern, dass heutzutage nur noch gemeckert, aber nichts getan werde.
Sand für den Volleyballverein, Subbotnik auf der Landstraße
Hofmann, die selbst im Faschingsverein, im Sportverein, im Förderverein des Gymnasiums Kölleda ist, sagt: „Wir haben gemerkt, dass uns Vieles stört und wir Einiges ändern können.“ Zusammen wüssten sie eigentlich, an was es in Kölleda fehlt. Und wer das ändern könnte. „Aber bislang“, sagt Hofmann, „hat jeder nur für sich versucht, die Welt zu retten.“
Und so schlossen sich die Kölledaer Influencer zusammen, wie im Superhelden-Film „Avengers“. Sie gründeten einen übergeordneten Superverein, Name: „Gemeinsam für Kölleda“.
Und sie packten an. Der Volleyballverein braucht neuen Sand? Der Verein setzte sich einen Sonntag lang mit Kaffee und Kuchen ins Museumscafé und trug das Geld für neuen Sand zusammen. Die Landstraße hinter Kölleda ist total vermüllt? Der Verein verabredete sich zum Subbotnik und räumte auf.
Die Vereinsmitglieder sind nicht nur stadtbekannt – es kann auch jeder von ihnen irgendetwas besonders gut. Einer programmiert die Vereinswebsite, einer kann gut Kuchen backen, einer fährt einen Klein-LKW vor, um Müll wegzufahren. Ja, wirklich: Wenn man mit Daniela Hofmann über ihren Verein spricht, muss man manchmal an Superhelden denken.
Überall, wo die Kölledaer Avengers aufschlugen, sollte Kölleda nun ein Stückchen besser werden. „Gemeinsam für Kölleda“ war ein halbes Jahr alt, da entschied der Verein, die Politik seiner Stadt aufzumischen. Sie stellten eine Liste für die Stadtratswahl auf. Elf Kandidaten, fünf Männer, sechs Frauen. Und an der Spitze Daniela Hofmann, die vor 18 Jahren hier hergezogen war.
„Die AfD schürt Ängste, die in uns allen stecken“
2001 ging Hofmann mit ihrem Freund, einem Kölledaer, in dessen Heimat spazieren. Sie entdeckten ein schönes Haus. „Steht das leer?“, fragten sie sich. Sie kauften es, renovierten, zogen ein, bekamen Kinder.
Als der Sohn in die Krippe kam, wurde Hofmann dort Elternsprecherin. In der Grundschule wieder. Und im Gymnasium. „Organisatorisches macht mir keine Mühe“ sagt sie, die früher als Assistentin in einer Kanzlei arbeitete, heute in einer diakonischen Stiftung.
Hofmann schickte ihre Kinder in den Volleyballverein, in die freiwillige Feuerwehr, in den Faschingsverein. Und jedes Mal trat sie auch selbst mit ein. Das alles neben dem Job. Und neben dem Muttersein. „Ich bin gerne Mama“, sagt sie, „es ist schön, aber nicht alles.“
Die Arbeit, die Ehrenämter, auch der eigene Verein, das alles neben der Arbeit, sagt Hofmann, ging nur wegen ihres Mannes. „Mir war klar“, sagt sie, „dass ich das nur machen kann, wenn ich weiß: Da ist abends jemand zu Hause und macht für die Kinder Abendbrot.“
Hofmann, die schon ihr ganzes Leben lang Thüringerin ist, versteht, warum viele ihrer Landsleute AfD wählen. „Nicht jeder hat das Gefühl, dass die Politik etwas für ihn tut“, sagt sie. Und deshalb AfD wählen? „Die AfD schürt Ängste, die in uns allen stecken“, sagt sie. Ängste, aber, die nicht real seien.
„Den Leuten ist die Lust auf Parteien vergangen“
Die anderen Kandidaten des Ostens stellen gegen die AfD einfach eigene Versprechen auf. „1.000 neue Polizisten“ verspricht Michael Kretschmer seinen Sachsen auf einem Plakat. Daniela Hofmann sagt: „Es gibt nichts Schlimmeres als Wahlversprechen.“ Jedenfalls, fügt sie an, wenn man sie nicht halten kann.
Dass der Osten heute als parteienmüde gilt, sagt Hofmann, habe genau damit zu tun: dass Versprechen zu oft nicht eingelöst wurden. Ihr Wahlkampf-Flyer begann mit dem Satz: „Sicher erwarten Sie in den nachfolgenden Zeilen unser Wahlprogramm.“ Und dann folgt ein Text, der nur eine Sache verspricht: eine „neue Perspektive“.
Was soll das sein? Und warum sollte man Daniela Hofmann dafür wählen?
Nun, das kann Hofmann auch nicht so genau sagen. „Wir haben uns schlimm viele Gedanken gemacht. Aber ich glaube, die Leute wollen einfach ein wenig frischen Wind“, sagt sie. Und dann: „Wir waren auch total von unserem Sieg überrascht.“
Fünf Vereins-Kandidaten zogen letztlich in den Kölledaer Stadtrat ein. So viele wie von keiner anderen Partei. Hofmann ist sonst CDU-Wählerin. Aber eine Fraktion mit der CDU wollte sie auch nach ihrem Triumph nicht eingehen. „Den Leuten ist die Lust auf Parteien vergangen“, sagt sie.
Wahrscheinlich kann die große Politik sich nicht allzu viel vom Wunder von Kölleda abgucken. „Gemeinsam für Kölleda“ verfügt über kein Geheimrezept gegen die AfD. Keinen Leitfaden, wie man im politisch aufgewühlten Osten Wahlen gewinnt. Der Verein ist einfach gut vernetzt. Die Mitglieder wissen über die Sorgen und Wünsche ihrer Stadt bestens Bescheid.
Wählerfrust ensteht, weil viele nicht wissen, was ein Stadtrat überhaupt leisten kann
Aber vielleicht liegt genau darin eine größere Wahrheit.
Hofmann erzählt von der Pfefferminze, die früher rings um Kölleda angebaut wurde. Mit mehr industrieller Landwirtschaft gingen in den letzten Jahrzehnten die Felder verloren. In der einstigen „Pfefferminzstadt Kölleda“, die jedes Jahr eine Pfefferminzprinzessin krönt, gibt es heute kaum noch welche zu pflücken.
„Das macht hier viele traurig, aber im Stadtrat ist es kein Thema“, sagt Hofmann. Gerade sucht sie nach einem Stück Land. Es soll wieder Kölledaer Pfefferminze angebaut werden.
Natürlich fehlt es Kölleda an mehr als nur Minze. Das örtliche Schwimmbad musste vor drei Jahren schließen. Nun hören sich die Mitglieder in ihren Vereinen um: Wer weiß, wo man dafür Fördermittel bekommen könnte? Genauso suchen sie nach Engagierten, die das Schützenhaus Kölledas renovieren würden.
Und was, wenn ihnen die Ideen einmal ausgehen? Oder, noch schlimmer, wenn sie auch irgendwann zu den Etablierten gehören? Die meisten Stimmen verloren bei der Wahl in Kölleda die Freien Wähler. Eine Partei, die sich einst aus lauter örtlichen Initiativen zusammen schloss.
Hofmann und ihr Verein wollen dem zuvorkommen. Sie planen eine Bürgerwerkstatt, in der sie zum einen erklären wollen, was überhaupt in der Macht des Stadtrates liegt. Und was man damit anstellen solle. Viel Wählerfrust, glaubt Hofmann, rühre eben auch aus Unwissen darüber, dass man ein Schwimmbad nicht einfach so wiedereröffnen könne.
Die Kölledaer haben keine Lösungen parat, aber sie laden zum Mitmachen ein
Die Wahlsieger aus Nordthüringen versprechen keine blühenden Pfefferminz-Landschaften. Aber dafür, Probleme nur noch gemeinsam anzugehen. Die „andere Perspektive“ aus dem Flyer bedeutet, dass die Kölledaer ihre Probleme nicht bei der Politik abgeben, wie eine Bestellung beim Pizzaservice. Sondern, dass die Politik nach Problemen fahndet – und sie zu den Bürgern bringt.
Sie fragt nicht: Was können wir für euch tun? Sondern: Wer von euch könnte da helfen?
Wenn in Umfragen die Ostdeutschen gefragt werden, ob sie zufrieden mit der „in Deutschland gelebten Demokratie“ seien und nur 42 Prozent zustimmen, dann heißt es oft: der Osten habe ein Problem mit der Demokratie. Eine Autorin schrieb gar, der Osten sei „unwillig, den Pluralismus zu ertragen“.
Versteht der Osten wirklich die Demokratie nicht? Ist es nicht eher so, dass er 30 Jahre lang nur leidlich darüber mitentscheiden konnte, wie sie auszusehen hat? Repräsentiert haben den Osten immer andere, genauer: der Westen.
Wenn im Innenministerium eines Landes wie Sachsen-Anhalts heute etwa 80 Prozent aller Abteilungsleiter Westdeutsche sind, wen wundert es da, dass der Osten jene Partei wählt, die dieses System am lautesten in Frage stellt?
Wer wissen will, wie es um die ostdeutsche Demokratie steht, muss vielleicht nur nach Kölleda gucken. Auf den Verein, der aus dem Stand Wahlsieger wurde – nicht, weil er die besten Lösungen parat hatte (oder Angst verbreitete), sondern, weil er zum Mitmachen aufforderte.
Auf dem Titel des Wahlflyers sitzen Hofmann und der Verein auf einem Balken, unter ihnen: Kölleda, aus der Vogelperspektive. Die Fotomontage ist der „Mittagspause auf einem Wolkenkratzer“ nachempfunden – die berühmten ölverschmierten Arbeiter, die sich 1932 auf einem Stahlträger des Rockefeller Centers ausruhen. Das Symbol für den „American Dream“, das sie gerade erst aufbauen.
Redaktion: Phillip Daum; Schlussredaktion: Bent Freiwald.