Wir jungen Ostdeutschen fühlen uns zu Orten hingezogen, an denen man noch etwas Vergangenheit spüren kann. Leipzigs beste Clubs? Befinden sich in alten Industriehallen. Dort erahnt man noch etwas von der harten, ehrlichen Arbeit von damals, nach der sich die durchdigitalisierte Generation von heute sehnt.
So dachte ich auch, dass der Waschsalon, zu dem ich in Chemnitz fuhr, nur ein leerstehender Waschsalon sein könnte. Vor einigen Wochen war das. Zwei junge Frauen wollten in dem Salon ihre Ost-Podcasts vorstellen.
Ein verlassener Waschsalon, dachte ich mir, das ist doch ein schönes Symbol. Früher, als noch nicht jeder seine Waschmaschine zu Hause hatte, musste an solchen Orten noch das berühmte Miteinander der DDR zu spüren gewesen sein, über das ältere Ostdeutsche heute immer mal ins Schwärmen kommen.
Manche junge Ostdeutsche machen ihren Eltern Vorwürfe
Aber als ich den Waschsalon betrat, hielt mir ein grinsender Kerl die Tür auf, in der Hand seine volle Wäschetasche. Der Waschsalon: in Betrieb. Von schaumiger Nostalgie nichts zu spüren, nur tiefenreine Gegenwart.
Drinnen warteten die Podcasterinnen: Marie-Sophie Schiller, 30, mit „Ost – Eine Anleitung“, die sagt: „Mich interessiert nicht so sehr, wie der Osten mehr wie der Westen werden könnte. Sondern eher, was heute unsere ostdeutschen Besonderheiten sind.“
Neben ihr Anne Ramstorf, 28, Redakteurin der SUPERillu, die mit ihrem Podcast „Ostwärts“ zeigen will, „dass der Osten mehr ist als ein Klischee“.
Ramstorf und Schiller gehören zu einer Generation junger Ostdeutscher, die kurz vor den drei entscheidenden Wahlen des Ostens (Sachsen, Brandenburg und Thüringen) die Geschichte der Wiedervereinigung noch einmal infrage stellt. Neben Podcasts gehen die Ostdeutschen zwischen 20 und 30 auf Lesereisen oder demonstrieren, sie schreiben Romane und Sachbücher, machen Ost-Journalismus oder eröffnen spontane Ausstellungen in der Fußgängerzone.
Die jungen Ostdeutschen vereint, dass sie den Osten nicht länger erklären wollen (wie es nach dem ersten Jahr Pegida und den Erfolgen der AfD in Mode war). Lieber pflücken sie nach und nach die Erzählung der älteren Generation auseinander. Und sie formulieren Forderungen an die ostdeutsche Gegenwart.
Für manche gehört es auch dazu, den eigenen Eltern Vorwürfe zu machen. Wer sind diese jungen Ostdeutschen?
„Was ist von euren Utopien übrig geblieben?“
Sie leben in Görlitz, zum Beispiel Lukas Rietzschel, 24, der 2018 mit seinem Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen” debütierte. Das Buch las sich als eine Art Abrechnung mit einer älteren Generation, die nach dem Mauerfall rasch in den Westen zog und das bröselnde Land zurückließ.
Oder in Gera, wie die Schauspielerin Elisa Ueberschär, 30, die mit Texten einer vergessenen DDR-Schriftstellerin auf Lesereise geht und ihr Publikum fragt: Was ist „von euren Zukunftsplänen und utopischen Vorstellungen“ nach dem Ende der DDR eigentlich übrig geblieben?
Oder in Bautzen, wo Frieda Schiller, 19, lebt, die bald in Leipzig Jura studieren wird, aber vorher mit Freunden eine Konzerttour unter dem Titel „Wann Wenn Nicht Jetzt“ startete, die gerade durch den Osten tourt. Schiller sagt: „Die Motivation ist, dass wir viel Scheiße hier erlebt haben und Leute kennen, die das kaputt gemacht hat – das wollen wir nicht einfach so stehen lassen.“
Da sind junge Leute, die sich an ihren Eltern, an den Älteren abarbeiten und dabei auch manchmal Wut im Bauch haben. Sie alle vereint eines: Die Überzeugung, dass die Wiedervereinigung zum Teil verbockt wurde. Das Projekt, an das ihre Eltern drei Jahrzehnte lang geglaubt haben, versehen sie mit einem Fragezeichen. Wie kommen sie darauf?
„Aufbruch Ost“ hat 50, vor allem junge Mitglieder
Eine zentrale Figur der jungen, wilden Ostdeutschen, die alles anders machen wollen, ist sechs Jahre nach der Wiedervereinigung geboren und kennt mich seit ein paar Minuten, als er mir eine Flasche Sternburg anbietet, zu der er nur „Sterni“ sagt und Bananen aus seinem Rucksack räumt.
Es ist früher Abend in Chemnitz und jetzt genau ein Jahr her, dass rechte Ausschreitungen die Stadt in bundesweite Negativschlagzeilen brachten. Heute sieht es in Chemnitz anders aus. Anstelle des jährlichen Stadtfestes findet das „Kosmos“ statt, ein Fest „gegen Rassismus und rechte Hetze“.
Ich stehe mit Philipp Rubach, dem 22-jährigen Ostmann mit Sterni und Bananen, vor dem Waschsalon. Rubach trägt eine Lonsdale-Jacke der Band Feine Sahne Fischfilet, vor einem Jahr gründete Rubach „Aufbruch Ost“ – eine Gruppe, der mittlerweile 50 junge Ostdeutsche angehören. Sie ziehen durch ostdeutsche Städte und eröffnen dort temporäre Cafés oder Ausstellungen in der Fußgängerzone. Auch, um mit der älteren Generation ins Gespräch zu kommen.
Seinen Aufbruch nennt Rubach heute eine „Bewegung“. Dabei sollte es sie eigentlich nur für einen Abend geben. Für den 9. Oktober 2018, den Jahrestag der friedlichen Revolution. In Leipzig wird der Tag jährlich als „Lichtfest“ mit viel Pomp in der Innenstadt begangen. Rubach findet: zu unkritisch.
Und so malte er mit Freunden ein Banner: „Treuhand-Aufarbeitung jetzt!” Sie druckten Flyer über die Treuhand – jene Behörde, die nach dem Zerfall des DDR-Staates die Betriebe des Ostens sortierten sollte. Einige ließ sie laufen, oft unter neuer West-Führung. Viele wurden einfach geschlossen. Einige Forscher sagen: zu viele.
Wenn Rubach meint, dass „die Treuhand das eigentliche Trauma der Ostdeutschen“ sei, dann meint er die Tausenden DDR-Bürger, die nach 1991 plötzlich ohne Job dastanden.
Die Familie, die immer links war, wählte 2017 AfD
Rubach meint auch seinen Opa, der Generaldirektor eines DDR-Kombinats war. An jedem Kaffeetisch, sagt Rubach, fängt der Opa heute von Neuem an: Von den Westdeutschen, wie sie mit schwarzen Aktenkoffern kamen. Wie sie sagten: „Jetzt ist Schluss hier.“ Wie sie die Ferienwohnungen des Betriebs in den Westen verkauften.
Aber außer dem Kaffeetisch schien den Opa niemand anhören zu wollen, gerade die Politik nicht. Rubach sagt: „Es gibt für das Thema Treuhand bis heute keinen Erzählraum.“ Und deshalb, glaubt Rubach, ließ sich die Wut der Ostdeutschen jetzt so leicht in eine andere Richtung lenken.“ Rubachs Kampf für den Osten, das merkt man schnell, gilt auch der AfD.
„Ich bin in einer Familie groß geworden, die immer links gewählt hat“, erzählt der gebürtige Thüringer. „SED, PDS, die Linke“. Aber 2017, da wählte die Familie plötzlich AfD. Und der Vater ging einmal, zumindest aus Neugier, zu Pegida. „Da habe ich gemerkt: Hier im Osten bricht gerade alles zusammen.“
Rubach versuchte also zu reden, über Asyl, Migration. „Ich habe gemerkt, ich komme da nicht ran“, sagt er.
Es gab nur eine Sache, über die er noch mit der Familie reden konnte. Den Osten, die Treuhand.
Und so kam Rubach seine Idee. Wenn er mit „Aufbruch Ost“ durch den Osten tourt und Menschen trifft, dann stellt er immer zwei Fragen: Welche Unterschiede gibt es heute zwischen Ost und West? Und: Was verbinden Sie mit dem Begriff Treuhand? „Da kommen die Leute ins Erzählen“, sagt Rubach.
Die Wut des Ostens kommt vor allem von der Treuhand
Letzten Sonntag konnte man das in Bautzen miterleben. „Aufbruch Ost“ war dort. Auf dem Kornmarkt, einem Platz in der Altstadt, hatten sie ihre Wanderausstellung aufgebaut. Viele Tafeln, vor allem Text. „Die Bilanz der Treuhand: 1 Mio. vernichtete Jobs.“
Aber es geht gar nicht so sehr um die Tafeln. Bei der letzten Stadtratswahl wählten in Bautzen über 40 Prozent AfD. Und nun blieben auch einige Bautzner AfD-Wähler an den Tafeln stehen. Einer, graues Haar, Tanktop, kommt mit einem Aufbruch-Ost-Mitglied ins Gespräch. Thema: Treuhand. Und der Aufbrüchler fragt den Mann ganz direkt: „War das damals alles so alternativlos?“
„Was will man jetzt noch machen, es ist vorbei“, entgegnet der AfD-Wähler. Und, etwas resigniert: „Die Betriebe haben sie ja jetzt verschleudert.“ Er wisse nicht, wer daran verdient habe. Aber in jedem Fall, wer nicht: „Keiner von uns Kleinen.“ Und jetzt?
Anstatt weiter über die Vergangenheit zu mosern, dreht „Aufbruch Ost“ die Gespräche immer ins Hier und Jetzt. Was er denn wähle – und warum? Ganz klar, AfD. Und dann fällt ein bemerkenswerten Satz: „Ich habe die Parteien alle durch“, sagt der AfD-Wähler, „die AfD haben wir noch nicht gehabt. Ob sie was bringen? Weiß ich nicht.“
Auf gewisse Weise ist der kleine Dialog die Bestätigung von Rubachs These: Die Wut der Ostdeutschen entstammt dem Treuhand-Trauma. Weil es keiner Partei gelang, das Thema wirklich aufzuarbeiten, wählen sie nun, was übrig bleibt: die AfD.
Und, darauf legt legt Rubach wert, weil die AfD einen Rassismus bedient, der „sich im Osten meist lauter äußert“ als im Rest der Republik.
Dem „Aufbruch Ost“ gelingt aber etwas, woran viele Parteien, woran die meisten Politiker gerade verzweifeln. Er kommt mit Menschen ins Gespräch, die sich unverstanden fühlen. Deren Wut man nicht sofort versteht, wenn man ihren Ursprung nicht kennt.
Die jungen Ostdeutschen aber scheinen die alten immer besser zu verstehen. Und das liegt wahrscheinlich daran, dass sie selbst erst jetzt zu Ostdeutschen wurden.
Wenn die Kinder sich „ostdeutsch“ fühlen, ist das für die Eltern ein Schlag ins Gesicht
Die Verbundenheit begann, als die jungen sich selbst das erste Mal als Ostdeutsche sahen, beziehungsweise: als solche markiert wurden. Fast alle können diesen Moment beschreiben. Und seitdem wollen sie auch immer mehr verstehen, was mit ihren Alten eigentlich los ist.
Die Podcasterin Marie-Sophie Schiller erzählt an dem Abend im Waschsalon von dem Moment, als sie die westdeutschen Kollegen im Praktikum in Berlin das „Ossi-Mädchen“ nannten. Als sie zur Ostdeutschen wurde.
Auch die Journalistin Valerie Schönian schreibt von ihren Münchner Freunden, die den Osten zu Pegida-Land erklärten. „Ich war gegen Pegida“, schreibt sie. „Aber auch gegen die, die aus Pegida einen pauschalen Vorwurf an die gesamte Region ableiteten. Ich fing an, den Osten zu verteidigen.“
Schönian schreibt auch: Dass ihr die Eltern die Ost-Werdung übelnahmen. Nach der anstrengenden Wiedervereinigung habe ihnen das wohl bedeutet, „es nicht geschafft“ zu haben.
Auch Philipp Rubach von „Aufbruch Ost“ sagt: „Wenn junge Leute aus dem Osten heute sagen ‚Ich fühle mich ostdeutsch‘, dann ist das für ihre Eltern ein Schlag ins Gesicht. Dann merken die: Wir haben es wirklich nicht geschafft.“
Die jungen Ostdeutschen mussten sich die Welt allein erschließen
Es ist normal, dass eine Generation der älteren ihre Versäumnisse vorwirft. Die 68er bekämpften den „Muff von 1.000 Jahren“ und meinten damit auch die zugedeckte Nazi-Vergangenheit ihrer Eltern. Über jetzige Generationen wird man wohl sagen: Ihr habt zu verschwenderisch gelebt und unseren Planeten ruiniert.
Uns junge Ostdeutschen unterscheidet, dass die Rollen vertauscht sind. Anderen Generationen mag es rebellisch vorgekommen sein, sich von ihren Ernährern, ihren Welterklärer, ihren Behütern loszusagen: Seht her, ich stehe auf eigenen Beinen.
Wir jungen Ostdeutschen können aber längst alleine stehen. Wir mussten das früh lernen. Die wenigsten unserer Eltern besitzen ein Haus oder ein Vermögen. Die Welt haben wir uns ohne Ratschläge von oben erschlossen. Unsere Eltern hatten in der DDR fast nie gelernt, worauf es bei einem Kredit oder einer Geldanlage ankommt. Oder wie das Quellenverzeichnis einer Bachelorarbeit auszusehen hat.
Und manche unserer Eltern macht es heute traurig, dass sie ihren Kindern die Welt, in der sie selbst nie so richtig Platz gefunden haben, nicht zeigen konnten.
Wenn die jungen Ostdeutschen jetzt den Eltern sagen „Ihr habt es nicht geschafft“, dann dürfen die das aber nicht missverstehen. Wir lehnen sie nicht ab, sondern wir solidarisieren uns mit ihnen.
Kommt, sagen die jungen Ostdeutschen, diesmal schaffen wir es gemeinsam.
„Pegida 2.0“
Philipp Rubach trifft mit „Aufbruch Ost“ den Nerv dieser Generation. Und seine Bewegung wird immer bekannter. Letzte Woche war das MDR da, 3Sat macht auch einen Beitrag. „Die vom Fernsehen wollen immer, dass wir Transpis malen“, sagt Rubach. Mittlerweile hat „Aufbruch Ost“ allein 15 Transparente, die vor laufender Kamera entstanden sind.
Ein bisschen lustig ist es ja, aber es wirft eine Frage auf: Wie lange wird „Aufbruch Ost“ seine Banner überhaupt noch brauchen? Was wird aus den jungen Ostdeutschen? Anders gefragt: Wer will noch einen Ost-Podcast über Chemnitz hören, wenn die Wahlen erstmal vorbei sind und die CDU die nächsten fünf Jahre weiterregiert?
Was bleibt sind auch Utopien. „Pegida 2.0“ nennt das Rubach. Man müsste, sagt er einmal, ganz runterscrollen auf der Facebookseite von Pegida. Sich ansehen: Wie haben die angefangen? Seine Vision für „Aufbruch Ost“ wäre dann „ein linkes Pegida“. Eine Bewegung, die nicht gegen Flüchtlinge hetzt, sondern gegen die aus seiner Sicht wahren Schuldigen: die Treuhand, den Kapitalismus.
„1989 ist die Stimmung auch innerhalb kürzester Zeit von links nach rechts umgeschlagen“, sagt er. „Warum heute nicht wieder, nur umgekehrt?“
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Josa Mania-Schlegel.