Es gab diese Woche eine Diskussion über Schweinefleisch. Ausnahmsweise ging es dabei aber nicht ums Klima oder die Frage, ob wir alle Vegetarier sein sollten. Sondern um zwei Leipziger Kindergärten, die Schweinefleisch vom Speiseplan streichen wollten – damit zwei Mädchen aus muslimischen Familien auch mitessen können.
Was als kleine Änderung im Alltag einiger Leipziger Kinder begann, beschäftigte bald das ganze Land. Denn die Bild-Zeitung hob die Geschichte auf ihre bundesweite Titelseite. Die Kindergärten bekamen nun Drohungen aus der rechten Ecke. Der Ex-AfDler André Poggenburg kündigte zeitweise sogar eine Demonstration vor den Kindergärten an. Und schließlich nahm ihr Leiter seine Entscheidung zurück.
Ich glaube, dass diese Geschichte von einem großen, unausgesprochenen Missverständnis handelt: dass Demokratie bedeutet, dass die Mehrheit immer recht hat. Das ist aber nicht so.
Fangen wir mal so an: Vegetarisches Essen an öffentlichen Orten, finde ich, ist gar keine schlechte Option. Mehr als die Hälfte der Deutschen verzichtet ohnehin öfter bewusst auf Fleisch. Und am Buffet sind die Schnittchen mit Tomatencreme und Camembert immer zuerst alle, einfach mal drauf achten.
Nun wollten die Kindergärten gar nicht Fleisch an sich verbannen. Am Montag gab es Geflügelfrikadelle, gestern Seelachsfilet. Es wurden auch nicht wichtige Stoffe wie Kalzium oder Vitamin D aus den Speiseplänen eliminiert. Sondern es gab kein Schwein mehr. Eine Fleischsorte, die wir unter anderem aus Klima- und Gesundheitsgründen ohnehin seltener essen sollten.
Allerdings ging es in Leipzig nicht darum, wie Speisepläne praktischer, gesünder oder klimaneutraler werden könnten. Die Leipziger Kinder, das muss man schon so sagen, sollten sich nicht veggie oder paleo ernähren – sondern halāl. Also nach islamischer Speisevorschrift.
Wie kann man dazu stehen?
Der Kindergarten könnte sich in seiner Entscheidung einfach auf unser Grundgesetz berufen. Da steht nämlich, das niemand aufgrund seiner Religion diskrimiert werden darf. Ein demokratisches Grundrecht, Punkt.
Es ist nicht verfassungsfeindlich, wenn man es etwas drastisch findet, dass sich 300 Kinder nach zwei anderen richten sollen. Allerdings stehen in einer Demokratie nunmal die Grundrechte über der Mehrheitsmeinung.
Anders gesagt: Selbst wenn eine Mehrheit der Deutschen gern die Todesstrafe einführen will, würde man darüber nicht einfach abstimmen können. Weil im Grundgesetz steht: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“.
Nun gibt es eine Gruppe von Menschen, die das stört. Und mein Gefühl ist, dass sie zur Zeit immer mehr werden.
Die Gruppe – ich nenne sie mal: Mehrheitler – behauptet, dass in einer Demokratie stets die Mehrheit recht bekommen sollte, um jeden Preis. Auch dann, wenn Grundrechte verletzt werden. Warum, fragen die Mehrheitler, dürfen wir in einer Demokratie nicht über alles abstimmen?
Das Beispiel der Todesstrafe mag drastisch erscheinen, aber es macht deutlich, um was es hier geht. Man kann Mehrheitler leicht identifizieren, auch ob man selbst einer ist, wenn man, beim Bier mit Bekannten oder am Kaffeetisch mit der Familie, die Todesstrafe-Frage stellt: Würdet ihr eine Abstimmung über die Wiedereinführung der Todesstrafe unterstützen?
Vielleicht werden die Mehrheitler wissen, dass sich jeder vierte Deutsche für die Todesstrafe ausspricht. Vielleicht werden sie argumentieren, dass man sich durch eine Abstimmung noch einmal vergewissern könnte, dass sie zurecht abgeschafft ist.
Allerdings, könnte man dann einwenden, lagen auch die Zustimmungswerte der Briten für einen EU-Austritt einmal bei 25%. Wer weiß schon, was eine geschickte Pro-Todesstrafen-Kampagne in Boris-Johnson-Manier so alles bewegen könnte?
Der Brexit ist ein gutes Beispiel für die Folgen der Mehrheitler-Denkweise. Denn letztlich war zwar Großbritanniens Entscheidung für den Brexit eine Überraschung. Keine war es, dass dieser das Land anschließend ins politische Chaos stürzte. War es also richtig, überhaupt darüber abstimmen zu lassen?
Oder, anderes Thema: Ist es richtig, dass einige osteuropäische Länder keine Flüchtlinge aufnehmen und EU-Recht brechen – einfach, weil es ihre Bevölkerung so will?
Die Mehrheitler feiern immer größere Erfolge, das hat auch die Europawahl gezeigt. Wenn wir von dem Ungarn Orbán oder der Brexit-Partei sprechen, dann sagen wir oft „rechts“ oder „populistisch“ und meinen damit die Denkweise der Mehrheitler. Personen also, die sich selbst als überzeugte Demokraten bezeichnen, die aber Grundrechte zu Spekulationsobjekten erklären. Weil sie glauben, dass die Mehrheit immer recht haben sollte.
In ihrer schärfsten Ausprägung findet man die Mehrheitler bei der Neuen Rechten, der AfD oder der Identitären Bewegung. Dort sehnen sie sich nach einer geschlossenen europäischen Gesellschaft, in der Fragen nach mehr oder weniger halāl und Flüchtlingen gar nicht erst aufkommen. Dort werden auch längst öffentlich Grundrechten infrage gestellt, etwa das auf Asyl oder die Pressefreiheit.
Um ihrer Vision näher zu kommen, haben sich die Neuen Rechten eine Strategie überlegt: Sie versuchen möglichst dort, wo alles sicher scheint, Unruhe und ein Gefühl der Bedrohung zu erzeugen. Im Moment der größten Verunsicherung präsentieren sie dann sich selbst als Lösung.
Die Idee stammt von Carl Schmitt, einem Theoretiker der Nationalsozialisten. Schmitts Ideal war, dass sich jedes Volk einen gemeinsamen Feind ausdefinieren sollte, um sich so auf eigene Werte zu einigen und besser zu funktionieren. Zu NS-Zeiten waren es die Juden, die erfolgreich zum Feindbild erklärt wurden. Heute versuchen Rechtsextreme den Islam als Feindbild zu stilisieren. Dafür hüllen etwa die Identitären regelmäßig Statuen auf öffentlichen Plätzen in Burkas. Hier gibt es einen sehr guten Text von Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich zum Thema.
Und so passt die Geschichte aus zwei Leipziger Kindergärten auf der Titelseite der Bild-Zeitung wunderbar ins Programm der Neuen Rechten und der Mehrheitler. Martin Sellner, Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, retweetete einen Kommentar dazu: „Krank“, stand da, „300 Kinder und wegen 2 muslimischen Kindern gibt es im Kindergarten kein Schweinefleisch mehr.“ Der Ex-AfDler André Poggenburg meldete seine Demonstration vor den Kindergärten mittlerweile wieder ab.
Es wurde in den letzten Tagen oft betont, dass Schweinefleisch eben ein Sinnbild der deutscher Kultur sei. Frikadellen, Bratwurst, Eisbein - das ist eben alles Schwein. Wenn nun ausgerechnet das Schwein einer islamischen Speisevorschrift weichen muss, dann passt das gut zur rechten Theorie der Islamisierung (die es aber faktisch nicht gibt).
Natürlich ist nicht gleich rechts oder rassistisch, wer sich eine elegantere Lösung vorstellen kann, als Schweinefleisch für alle zu streichen. Natürlich wäre es am besten, wenn man wählen könnte. Wenn man Fleisch individuell weglassen könnte, und so weiter. Vielleicht ging es in den Kindergärten aber nicht anders.
Viel interessanter finde ich, dass wir uns anhand der Leipziger Geschichte einmal vergewissern müssen, was Demokratie eigentlich ist. Warum sie eine Verfassung braucht und ein System, das auch die Grundrechte der Minderheiten im Staat schützt.
Und warum sie nicht bedeutet, dass sich Einzelne dauernd der Mehrheit unterordnen müssen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Foto: Martin Gommel.