„Der Osten gehört nicht zu Deutschland“

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Politik und Macht

Interview: „Der Osten gehört nicht zu Deutschland“

Wie bitte? Ein Gespräch mit dem britischen Germanisten James Hawes.

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Wenn wir über die Ost-West-Unterschiede Deutschlands nachdenken, suchen wir nach Erklärungen dafür meistens in der DDR-Zeit oder den Jahrzehnten danach. Der britische Germanist James Hawes meint: Wir müssen viel weiter zurückblicken. In seinem Buch „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ (2017) tat er genau das.

Hawes erklärte, dass Deutschland ein Produkt der Römer war. Daraus folgerte er aber auch: Der slawische Osten gehört gar nicht dazu. Und er hätte 1991 auch nicht Teil der Bundesrepublik werden sollen. Vor einer Weile forderte Hawes daher die CDU auf, den Osten „abzuservieren“. Hat der Historiker dafür auch Argumente? Oder ist er nur ein Ossi-Basher mit reißerischen Thesen? Zeit für ein Gespräch.

Der britische Germanist James Hawes

Der britische Germanist James Hawes © privat

James Hawes, sieht man sich deutsche Wahlkarten an, dann verläuft zwischen Ost und West eine Linie. Sie sagen: Diese Trennung war schon immer da. Wie kommen Sie darauf?

Ich komme nicht darauf, die Geschichte kommt darauf. Die Römer machten vor 2000 Jahren an der Elbe Halt. Und bis 1174 gab es auch keine Deutschen hinter der Elbe. Historisch gesehen ist der Osten kein Teil von Deutschland, er hätte es auch nie werden sollen.

Das müssen Sie erklären.

Bonn, Köln, Mainz, Frankfurt, Stuttgart, das waren alles römische Städte, und das war Westeuropa. Nach dem Fall des römischen Reichs wurde Westeuropa im Jahr 800 von den Franken und der Kirche neu gegründet – und durch Karl den Großen von Aachen aus reagiert. Aber auch dieses Reich endete wieder an zwei Flüssen: der Elbe und der Saale.

Was war hinter der Elbe?

Ostelbien blieb immer von slawischen Stämmen bevölkert, die heidnisch lebten und den Einfluss der römischen Zivilisation nie zu spüren bekommen hatten.

Heute liegt die deutsche Hauptstadt hinter der Elbe …

… ja, ein riesiger Fehler.

Warum?

Die Deutschen waren in Ostelbien nie wirklich zu Hause. Es brauchte erst eine mittelalterliche Warmzeit, die die Gebiete östlich der Elbe landwirtschaftlich interessant machten. Dazu kam, dass der Westen überbevölkert war, also dehnte er sich nun doch gen Osten aus. 

So wurde der Osten deutsch.

Ganz deutsch wurde er nie. Denn die Heiden wehrten sich viel heftiger als erwartet. Letztlich schlossen die germanischen Eroberer lauter einzelne Deals mit den Fürsten Ostelbiens. Die Elbüberquerung sollte sich später als Fehler erweisen.

„Im Osten entwickelte sich ein Gefühl: Wir sind hier nicht sicher.“

Weil Eroberungen nie eine gute Idee sind?

Aber auch für die Eroberer. Denn die Sorben blieben, bis heute. Man sieht es heute an den vielen Ortsnamen, die auf -itz und -ow enden, wie viel Slawisches übrig blieb.

Was ist daran ein Problem?

Weil für die Germanen damit immer die Möglichkeit bestand, dass sich ihre eroberten Nachbarn eines Tages gegen sie auflehnen. Die germanischen Siedler – die heutigen Ostdeutschen – entwickelten über Jahrhunderte ein bestimmtes Gefühl: Wir sind hier nicht wirklich heimisch. Wir sind hier nicht sicher. Übrigens eine ganz typische Angst in kolonialisierten Gebieten wie etwa den republikanischen US-Südstaaten.

Die Ostdeutschen wählen heute AfD, weil sie vor fast tausend Jahren in den Osten kamen und dort nicht sicherfühlten?

Ja, es entwickelte sich über Jahrhunderte hin eine autoritäre, antiliberale Politik. Man sehnte sich nach einem Herrscher, einer Politik, die hart durchgreift, falls die Slawen sie wieder vertreiben sollten.

Das klingt, im besten Sinne: weit hergeholt. Die AfD gibt es seit 2013.

Das ist heute. Man kann es aber auch von Wahlkarten aus dem Kaiserreich oder der Weimarer Republik ablesen, es ist immer dasselbe: der Osten als Hochburg konservativer, autoritärer Mächte. 

Man könnte jetzt sagen, dass die Preußen und ihr Konservatismus eben auch ein Teil deutscher Geschichte sind.

Das waren sie aber nie. Schon Goethe fragte, rückblickend auf seine Jugend: „Was ging uns Preußen damals an?“ Ostpreußen kam erst im 17. Jahrhundert, durch die Einigung mit Brandenburg, mit dem restlichen Deutschland Kontakt. Bis dahin war die preußische Geschichte völlig anders verlaufen als die deutsche.

„Der Nationalsozialismus, ein Werk des Ostens“

Gesprochen hat man doch immer ähnlich. Was machte diesen Unterschied genau aus?

Im Westen war Frankreich ein kultureller Maßstab, man tauschte sich aus. In Preußen herrschte dagegen ein Überlebenskampf gegen Polen, Balten, Schweden und Russen. Und die Idee, die beiden zusammenzuwürfeln, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Eine preußische Lüge, die bis heute in unseren Köpfen steckt.

Inwiefern?

Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß gelten heute als deutsch, dabei waren das preußische Tugenden, die aus dem Osten importiert wurden.

Aber was ist deutsch, wenn nicht Pünktlichkeit?

Der Kern Deutschlands war immer der Westen, vor allem das Rheinland und die Gegend, die heute Baden-Württemberg heißt. Die Menschen, die dort lebten, galten vor 1871 als warm, sentimental, redlich. In England spricht man von verträumten Bewohnern des Landes der Dichter und Denker, von Poeten und Philosophen.

Aber diese Qualitäten kamen doch auch aus Preußen! Friedrich der Große, der revolutionäre, liberale König Preußens, schaffte die Folter ab, förderte die Bildung und ließ auf seinem Musenhof sogar Französisch sprechen.

Stimmt schon, das preußische Bildungssystem war technisch vorbildlich. Allerdings durfte man beispielsweise nicht Politik studieren, wenn man nicht auch Preußen ausdrücklich verherrlichte. Ein moderneres Beispiel: Auch Gaddafi war in Libyen ein Segen für sein Land, etwa was Universitäten und Kliniken anging. Aber ein Wort gegen ihn? Niemals!

Ich ahne schon, was Sie über den Nationalsozialismus sagen werden …

Ja, ein Werk des Ostens.

Hitler war Österreicher, die NSDAP eine Idee aus München.

Sicher, Hitler war Österreicher. Aber seine politische Tradition stammt von Georg Schönerer – ein Deutschnationaler, der ganz ausdrücklich dem Preußen Bismarck folgte, nicht dem österreichischen Kaiser. Hätte ganz Deutschland 1933 wie München gewählt, oder wie Köln, wäre Hitler nie an die Macht gekommen. Er verdankt seinen Wahlsieg und seine Koalition den Ost-Wählern. Wie gesagt, man braucht sich nur die Wahlkarten anzuschauen.

Trotzdem kamen die Nazis aus ganz Deutschland, nicht aus dem Osten.

Nazis gab es natürlich überall, zumal nachdem sie an die Macht gekommen waren. Genau wie es heute überall AfD-Wähler gibt. Für einen politischen Sieg braucht es aber Hochburgen, und da bleibt es dabei: Der Osten war und ist eine Hochburg. Westdeutschland war nie Naziland, und es wird nie AfD-Land werden.

Amerikanische und russische Truppen trafen sich an der Elbe

Nach der Befreiung Deutschlands wird die Elbe wieder wichtig – amerikanische und russische Truppen treffen an dem Fluss in Torgau aufeinander und teilen das Land unter sich auf.

Die Teilung war die Anerkennung einer großen historischen Wahrheit.

Sie verlief aber nicht entlang der Elbe.

Tatsächlich hat Adenauer noch versucht, Thüringen und Leipzig gegen Berlin zu tauschen. Leider war es dafür schon zu spät. Aber wenn Adenauer später im Zug über die Elbe fuhr, soll er die Vorhänge zugezogen und gemurmelt haben: „Schon wieder Asien.“

Dennoch: Auf Wahlkarten zeichnet sich heute die DDR ab, nicht Ostelbien.

Die heutigen Zustände haben viel weniger mit der DDR zu tun, als wir glauben. Letztlich stand die Mauer nur 28 Jahre, sie änderte nichts an den tausend Jahren davor.

Folgt man ihrer Theorie, hätte Deutschland nie wiedervereinigt werden sollen.

Die Vereinigung war ein Fehler. Ich war damals angehender Dozent für Germanistik. Ich weiß noch, dass wir alle – einschließlich meiner deutschen Freunde – annahmen, dass Ostdeutschland auf Jahre hinweg ein eigenständiger Staat bleiben würde.

Helmut Kohl sah das anders.

Kohl hat Deutschland vereinigt, um wiedergewählt zu werden. Im Westen hatte seine Beliebtheit gewackelt. Aber indem er dem Osten die D-Mark gab und ein Wirtschaftswunder und blühende Landschaften versprach, wählten ihn die Ostdeutschen – und verhalfen ihm somit wieder zur Kanzlerschaft. Natürlich waren Kohls Versprechen völlig unrealistisch.

Wenn man den heutigen Osten betrachtet, muss man Ihnen rechtgeben: Viele Leute fühlen sich betrogen, es gibt nach wie vor keine großen Unternehmen im Osten. Aber was ist mit Berlin, das auch östlich der Elbe liegt?

Berlin war immer eine Ausnahme. In der Kaiserzeit, in der Weimarer Republik, in den Jahren zwischen Nachkriegszeit und Mauerfall, ist sie immer eine liberale Insel im Osten geblieben. Die natürliche Hauptstadt Deutschlands war sie aber nur in der preußischen Staatstheorie.

„Im Rheinland wird die AfD niemals regieren“

Berlin wurde von deutschen Abgeordneten zur Hauptstadt gewählt.

Und die westlichen Abgeordneten hatten auch mehrheitlich für Bonn gestimmt. Nur, weil der Osten für Berlin stimmte, kippte das Votum. Wie schon so oft wurden Deutschland ostdeutsche Stimmen zum Verhängnis.

Sie meinen damit auch AfD-Stimmen, lassen Sie uns darüber reden. Es stimmt zwar, dass der Osten sehr rechts wählt. Die AfD hat aber auch Hochburgen im Südwesten.

In Städten wie Pforzheim oder Heilbronn, wo die AfD Stimmen holt, gibt es tatsächlich eine ähnliche Mentalität wie im Osten: Beide Städte sind protestantische Kreise, die sich im zersplitterten Baden-Württemberg gegen Katholiken behaupten mussten. Aber letztlich holte die AfD hier nie so viel wie im Osten, sondern eher um die 15 Prozent.

Das Eichsfeld, im Norden von Thüringens, ist eine katholische Region inmitten des ungläubigen Ostens. Allerdings hat die AfD hier kaum Chancen.

Mein Eindruck ist, dass Katholiken auf gewisse Weise immun gegen Totalitarismus sind. Sie brauchen keinen autoritären Herrscher oder Parteien, weil sie schon den Papst als Oberhaupt haben. Diese Dualität von Staat und Kirche ist übrigens eine zutiefst europäische Idee, die auf Karl den Großen zurückgeht.

Können Sie das belegen?

Nehmen Sie die Würzburger, die 1941, auf dem Höhepunkt der Nazizeit, ihren Gauleiter steinigten, weil er ihr Kloster schließen wollte. Oder Köln, wo die Silvesternacht 2015 passierte – eigentlich ein starkes Argument für die Anti-Flüchtlingspolitik der AfD. Und was passierte? Nichts. Im Rheinland, der Wiege Deutschlands, wird niemals die AfD regieren.

Aber auch im Osten wählt nun nicht jeder AfD. In Sachsen ist es nur jeder vierte Wahlberechtigte.

Dafür wählen viele andere die Linke, die auch anti-westlich und pro-Putin eingestellt ist. Zusammen haben AfD und Linke in den ostdeutschen Ländern, dem ehemaligen Grenzgebiet des römischen Reichs, das Potenzial für mehr als 40 Prozent der Stimmen. Wir haben hier Gebiete, die sich offenbar nicht westlich demokratisieren lassen. Auch nicht mit viel Geld.

Ist Ostdeutschland deutscher als Österreich?

Leipzig, Rostock oder Dresden beweisen das Gegenteil.

Städtische Inseln kann es in Dunkeldeutschland immer geben, und es hat sie auch immer gegeben: Königsberg und auch Berlin waren liberale Hochburgen, während um sie herum der Erzkonservativismus gedieh. Ähnlich ist es mit Liverpool oder Manchester im sonst verlorenen Brexit-Norden Englands.

Ich muss gestehen, dass Ihre These mich ein wenig wütend machen. Der Osten gehört für mich ganz selbstverständlich zu Deutschland, allein der Sprache wegen.

Das verstehe ich durchaus. Es liegt an der preußischen Geschichtsschreibung, an der ersten sogenannten „Einigung“, dass die Deutschen es nicht anders gewohnt sind. Adenauer hat sich davon aber bekannterweise nicht beirren lassen. Ich stelle Ihnen, Ihren Lesern aber die folgende Frage: In welcher Hinsicht ist Ostdeutschland deutscher als Österreich? Ganz offensichtlich können ja mehrere deutschsprachige Staaten bestehen, ohne, dass man sie gleich vereinigen müsste.

Müsste man die Wiedervereinigung rückgängig machen?

Geschichte ist nicht rückgängig zu machen. Es muss aber erlaubt sein, über Ereignisse wie die Wiedervereinigung oder die Asylkrise von 2015 zu sagen: „Es hätte anders laufen müssen, und wir müssen daraus Lehren ziehen.“ 

Stimmt Ihnen überhaupt jemand zu?

Ach, würde nur Adenauer noch leben. Alexander Gauland scheint mir mit seinem „Der Osten wacht auf“ rechtzugeben – aber Spaß beiseite: Aus der deutschen Tagespresse ist zu entnehmen, dass ich kaum der einzige bin, der über den Osten verzweifelt.

Wenn man Ihnen folgt, muss man annehmen, Sie würden die Ostdeutschen gern einmal über ihre Unabhängigkeit abstimmen lassen.

Wenn schon, sollten die Westdeutschen abstimmen, sie wurden damals nicht gefragt. Aber nein, das ist Quatsch. Wahrscheinlicher ist doch, dass die Zeit der Nationalstaaten zu Ende geht. Dann wäre es zumindest möglich, dass sich der Osten, mit Stimmen von AfD und Linke, nicht der EU anschließt – sondern Putin.

Dass sich AfD und Linke verbünden halte ich für unwahrscheinlich. Eher schon CDU und AfD. Letztes Jahr forderten Sie deshalb auch in einem Essay, die CDU solle den Osten „ditchen“ (= abservieren). Was meinten Sie damit?

Ich meinte nicht, dass die CDU ihre Parteibüros in Sachsen schließen sollte. Sondern, dass sie dort keinesfalls mit der AfD koalieren soll, nur einer starken Regierung wegen. Das wäre das Ende von Europa.

„Warum regiert eine katholische, westdeutsche Partei den heidnischen Osten?“

Das Ende Europas lauert in Sachsen?

Bei der Europawahl hat sich gezeigt, dass Deutschland die letzte Hoffnung Europas ist, weil rundherum die Populisten gewannen. Nun darf den deutschen Konservativen nicht passieren, was in England passiert ist: sich von den Populisten anstecken lassen. Genau das wäre aber der Fall, wenn sich die Ost-CDU mit der AfD verbündet. In Großbritannien hat man sich so den Brexit eingehandelt.

In Thüringen oder Brandenburg könnte die CDU mit der AfD eine Regierung bilden, andernfalls bliebe ihr die Opposition. In Ländern wie Sachsen müsste sie mit beinahe allen anderen Parteien regieren …

… was doch völlig in Ordnung ist! Die CDU muss kapieren, dass es nicht schlimm ist, den Osten zu verlieren. Historisch gesehen ist es sogar logisch. Warum sollte die katholische, westdeutsche Partei allein über den heidnischen Osten regieren?

Sie hat es ja 30 Jahre getan.

Ja, mit falschen Versprechen und dem Populisten Kohl. Eine Art Vorläufer der AfD. Das fällt der CDU jetzt auf die Füße. Sie können den Osten nicht zurückgewinnen.

Haben Sie überhaupt Hoffnung für den Osten?

Vielleicht ist es ein Trost, wenn ich sage: In jeder Demokratie gibt es Menschen, die Demokratie hassen. Das müssen wir, muss die Demokratie und der Osten vielleicht einfach aushalten. Bleiben die Konservativen hart, wird die AfD niemals regieren.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.