In der Europawahlnacht fühlten sich viele Ostdeutsche (auch ich), als lebten wir in einem anderen Land. Im Westen feierten die Grünen, der Osten war AfD-blau geworden. Der Bielefelder Cartoonist Ralph Ruthe fragte auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Was denkt ihr persönlich, müsste getan werden, damit bei euch weniger Leute die AfD wählen?“ Unter dem Tweet antworteten ihm Hunderte aus dem gesamten Osten. Sie erzählten von schlechten Löhnen, Streit in der Familie und Arbeitslosigkeit. Sie erzählten, was alles besser laufen müsste.
Mich berührten diese kleinen Geschichten. Ich weiß, wie schwer sich hier viele Menschen damit tun, so offen und schonungslos über ihre Heimat oder Familie zu erzählen.
Also erfand ich einen Hashtag; unter #WirimOsten sollten noch mehr Menschen erzählen. Wieder machten Hunderte mit. Fünf von ihnen habe ich angerufen. Ihre Geschichten erzählen sie hier.
Sarah, 20, Auszubildende aus Zwickau, schrieb unter Ralph Ruthes Tweet, sie sei „stinksauer über diese ganzen Sachsen-wählt-nur-Nazis-Tweets“
Ich wohne in einem Viertel, das vor allem grün und CDU gewählt hat. Was auch daran liegt, dass hier keine Platten stehen. Es geht den Leuten etwas besser. Deshalb nerven mich Leute, die den Osten oder eine Stadt wie Zwickau als pauschal rechts abtun.
Wenn man sich so in der Stadt umhört, versteht man aber, warum hier viel AfD gewählt wird.
Nehmen wir das neue Gefängnis, das in Zwickau gebaut werden soll. Mitten in drei Wohngebiete hinein. Natürlich haben die Anwohner dort was dagegen. Und wenn man sich so umhört, ist die AfD die einzige Partei, die ihnen da politisch den Rücken stärkt.
Ich habe manchmal das Gefühl, dass die etablierte Politik absolut blind für solche Probleme ist. So macht man es der AfD verdammt leicht.
Noch ein Beispiel. Kürzlich wurde bei uns ein Abenteuerspielplatz gebaut. Das Geld dafür kam aber nicht von der Stadt. Im Kindergarten haben sie über Jahre hinweg Kuchen verkauft, um das Geld zusammenzubekommen. Mein Eindruck ist: Die Politik verlässt sich im Osten viel zu häufig auf die Zivilgesellschaft.
Warum soll ich eine Partei wählen, die es nicht mal schafft, einen Spielplatz zu bauen?
Manchmal wirkt die Politik auch völlig unbeholfen. Einige Schulen hier in der Region sind radioaktiv belastet. In Zwickau gab es deswegen sogar gehäufte Krebserkrankungen, der MDR hat darüber berichtet. Die Stadt hatte keine richtige Lösung, außer: Macht die Fenster auf, lüftet regelmäßig.
„Wenn die AfD bei 30 Prozent landet, bin ich hier weg.“
Sarah, 20, aus Zwickau
Ich habe das Gefühl, ganz Deutschland hofft, dass Sachsen bei den Landtagswahlen im Herbst wieder CDU wählt. Nur warum haut Annegret Kramp-Karrenbauer dann raus, dass sie die Meinungsfreiheit einschränken will? Glaubt sie, dass sie hier im Osten damit ankommt? Viele Menschen können sich noch gut an die Zeit erinnern, als man seine Meinung zur Politik nicht laut äußern durfte.
Meine Ausbildung mache ich in dem Immobilienbüro, in dem auch mein Vater arbeitet. Ich bekomme 900 Euro, etwa die Hälfte davon geht für Miete drauf. Und da habe ich noch Glück. Bei Aldi bekommt man in Zwickau 350 Euro Ausbildungsgehalt. Das sind 2,40 Euro pro Stunde.
Warum sollen junge Leute eine Politik wählen, die dagegen nix tut?
Ich selbst wähle grün. Die AfD finde ich unerträglich, sie würde gern das Deutschland der Dreißigerjahre zurück. Aber ich kann verstehen, warum manche meiner Freunde AfD wählen. Es ist für viele die letzte Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen. Und es wundert mich fast, dass die AfD nicht noch viel stärker ist.
An meiner Schule haben wir neulich überlegt, ob wir unsere eigene Partei gründen. Wenn die AfD zur Landtagswahl bei 30 Prozent landet, bin ich nach meiner Ausbildung hier weg.
Christiane, 42, kommt aus Brandenburg und beschwerte sich, dass im Radio der Cartoonist Ralph Ruthe über den Osten sprechen durfte – und nicht jemand vor Ort.
Mich hat geärgert, dass Ralph Ruthe so viel Aufmerksamkeit dafür bekommen hat – nur, weil er sich nach dem Osten erkundigt hat. Daran sieht man, wie selten mal jemand ernsthaft interessiert fragt.
Wenn man Westdeutschen den Osten erklärt, hören viele zwar kurz zu, haben aber nach zwei Minuten wieder alles vergessen. Wenn man ihnen den Osten erklärt, muss man jedenfalls oft wieder bei Null anfangen.
„Ich werde derzeit jeden Tag etwas mehr zur Ostdeutschen.“
Christiane, 42, aus Brandenburg
Aber seit einem Jahr erlebe ich, dass die ostdeutsche Debatte einen neuen Drive kriegt. Ich weiß allerdings nicht, ob da nicht nur die Ostdeutschen mitmachen. Bei mir auf der Arbeit erlebe ich, dass die westdeutschen Kollegen schon sagen: Ist doch jetzt mal wieder gut mit eurem Osten.
Ich werde dadurch gerade jeden Tag etwas mehr zur Ostdeutschen. Früher habe ich da nie darüber nachgedacht; mir ist nie aufgefallen, dass wir in Führungsetagen völlig unterrepräsentiert sind.
Vielleicht liegt auch darin ein Problem: Wir Ossis kriegen den Mund nicht auf. Der Ex-Bundesliga-Torwart René Adler sagte vor kurzem in einem Interview im Stern: „Vielleicht rühren meine Selbstzweifel daher, dass ich „ostdeutsch geprägt bin: sich lieber kleiner machen, als man ist, nicht negativ auffallen.“
Eines verstehe ich trotzdem nicht. In meiner Heimat Brandenburg, wo niemand mehr Stimmen bekam als die AfD, bin ich fast jedes Wochenende unterwegs. Ich verstehe die Ungleichheit zwischen Ost und West, aber ich verstehe meine Brandenburger nicht mehr.
Ich würde sie gern fragen: Was erhofft ihr euch durch das AfD-Wählen?
Tobias Prüwer, 41, Redakteur beim Leipziger Stadtmagazin kreuzer, fand #WirimOsten „ärgerlich anmaßend und falsch“.
Ich finde das „Wir“ des Ostens extrem schwierig. Zum einen, weil da Identitäten und Weltbilder zusammengeschnürt werden, die gar nicht zusammenpassen. Was haben wir denn gemeinsam, nur weil wir geografisch in der gleichen Region geboren sind? Lutz Bachmann und ich?
Zum anderen war ich als Kind bei den „Pionieren“. Ich habe heute kein Bedürfnis mehr, zu einem Kollektiv zu gehören. #IchimOsten, das hätte mir besser gefallen.
Ich finde es gut, wenn Ostdeutsche ihre Geschichte erzählen und Westmedien dadurch genauer auf die Einigungsprozesse gucken. Manchmal wird aus dem Ossi dann eine Art Migrant gemacht. Das haut für mich nicht hin.
„Ich fühle mich nicht vom Westen unterdrückt.“
Tobias, 41, aus Leipzig
Klar, die Ostdeutschen sind irgendwie in dieses vereinigte Deutschland reingerutscht. Ich fühle aber mich nicht vom Westen unterdrückt. Die Ostdeutschen sind keine Opfer von Rassismus.
Noch was: Mir werden die Ostdeutschen nicht genug ernst genommen. Sie werden politisch entmündigt.
Als Helmut Kohl 1990 vor der Leipziger Oper sprach und ihm Tausende zujubelten; als er die blühenden Landschaften versprach und die Leute ihr Kreuz bei der CDU machten – da hat sich die Mehrheit der Ostdeutschen doch für genau diesen Einigungsprozess entschieden.
Die jetzt als Opfer hinzustellen? Sagen, die sind alle betrogen worden? Nein, die wollten das doch mehrheitlich. Die Mehrheit der Sachsen wählt seit 30 Jahren CDU.
Früher gab es ein pädagogisches Konzept – „akzeptierende Jugendarbeit“. Da hieß es: Lass die Jungen mal machen, das wächst sich schon raus. Man müsse nur mal reden. Als in Lichtenhagen Menschen gejagt wurden, besuchte Merkel Skinheads in deren Jugendclub. Aber Gewalt wächst sich nicht raus.
Wer in der Identität der Ostens nach Gründen für AfD-Stimmen sucht, blendet auch den Rechtsextremismus des Ostens aus. Klar, es gibt ein paar Protestwähler. Aber wir haben in Sachsen nun mal 15 bis 25 Prozent Leute, die rechts-national drauf sind. Da lässt sich nichts schönreden.
Yannic Hannebohn, 29, Podcast-Produzent und Hesse, schrieb: „Ich habe lange geschwiegen zum Osten, aber ich hab auch wenig Ahnung über die Hintergründe und höre deswegen lieber Leuten zu, die sie haben.“
Zuerst habe ich mich über das Wahlergebnis gefreut – die AfD war nicht mehr so stark. Allerdings bin ich Halb-Franzose, ich interessiere mich immer für ganz Europa. Und da sah ich, dass fast überall die Rechten gewonnen hatten – genau wie in Ostdeutschland.
Natürlich gingen dann auf Twitter wieder die Witze los. Zieht die Mauer wieder hoch, so was. Ich habe selbst mal im Osten, in Weimar, studiert. Ganz ehrlich, die Witze: Denkt euch was Neues aus.
„Mein Kollege sagt: Ich habe keinen Bock mehr auf diesen Osten.“
Yannic, 29, aus Hessen
Als vor ein paar Jahren die Debatte um den Osten hochkochte, war ich erstmal überfordert. Gefühlt jede Woche gab es ein Ost-Kaff, in dem was Schlimmes passierte. Heidenau, Bautzen, diese Orte kannte ich vorher alle nicht.
Und ich verstehe es auch bis heute nicht. Bei uns in Gelnhausen, meiner hessischen Heimat, wurde auch der Nahkauf wegrationalisiert. Aber die wählen deswegen nicht plötzlich alle AfD. Da muss also noch tiefer etwas sein.
Das müssen wir verstehen, und deshalb finde ich es wichtig, wenn Ostdeutsche konstruktiv aus ihrem Leben erzählen.
Das Ziel muss aber sein, dass Leute wie ich niemals aufhören, sich für den Osten zu interessieren. Mein Bürokollege hat gesagt: Ich habe keinen Bock mehr auf diesen Osten. Die lamentieren ja nur. Er hätte auch sagen können: Die jammern.
Jetzt findet mir findet die Debatte ein bisschen zu sehr unter Eliten statt. Journalisten, Forscher und so weiter. Und vielleicht bräuchte es, als Gegenstück, noch #IhrimOsten. Weil wir im Westen vielleicht – immer noch – überhaupt keine Ahnung haben.
Louis Krüger, 22, Lehramtsstudent aus Wilhelmshorst bei Potsdam, schrieb, er würde seine Freunde und Verwandte gern fragen, ob sie AfD wählen und „Nazis in ihrem Parlament haben wollen.“
Dass meine Mutter nicht AfD wählt, hat mir mein kleiner Bruder verraten. Bei meinen Großeltern bin ich mir nicht sicher. Als sich in der Wahlnacht der Osten blau färbte, fragte ich mich: Waren das Oma und Opa? Aber ich hätte mich nie getraut, sie zu fragen.
Warum nicht? Ich hatte zu große Angst vor der Antwort.
Meine Großeltern kommen aus der Ostprignitz, Nordwestbrandenburg, wo viel AfD gewählt wird. Mein Opa war Maurer, meine Oma half bis vor Kurzem noch bei der Pilzernte. Das sind fleißige Leute, denen es viel bedeuten würde, ihren Kindern etwas zu hinterlassen. Und das, obwohl sie selbst nie wirklich viel hatten.
Seit Geflüchtete in die Ostprignitz gekommen sind, gibt es einen neuen Bus im Ort meiner Großeltern. Er hält genau vor der Erstaufnahme. Meine Großeltern sagen: Für uns hätten sie nie einen neuen Bus angeschafft. Aber für die machen sie es.
Eine Freundin meiner Oma arbeitet als Putzkraft in der Erstaufnahme. Angeblich hat sie erzählt, dass die Geflüchteten dort einfach auf den Boden machen.
„Ich weiß nicht, ob ich meine Großeltern AfD wählen. Ich traue mich nicht zu fragen.“
Louis, 22, aus Berlin
Es sind solche Geschichten, wegen denen meine Großeltern womöglich AfD wählen. Es ist auch überhaupt nicht leicht, dagegen zu argumentieren. Und auf geselligen Familienfeiern kommt es zu solchen Themen ohnehin nicht.
Ich glaube nicht, dass so viele im Osten AfD wählen, weil sie die DDR erlebt haben. Es sind vielmehr die Jahrzehnte nach der Wende schuld. Viele bekamen das Gefühl, dass sie nicht wirklich dazugehören. Natürlich ist das kein Grund, AfD zu wählen. Aber vielleicht ist es eine Erklärung.
Andererseits gibt es auch viele Menschen mit biografischen Brüchen, die trotzdem nicht AfD wählen. Und genauso kommt, wer AfD wählt, nicht unbedingt aus schlechtem Hause.
Manchmal frage ich mich, warum aus mir kein AfD-Wähler geworden ist. Ich bin schwul und war deshalb schon früh in linken Kreisen unterwegs – vielleicht liegt es daran. Die AfD will, dass sich homosexuelle Menschen verstecken.
Ich weiß nicht, ob meine Großeltern AfD wählen. Ich traue mich nicht zu fragen. Aber ich weiß: Würde ich meiner Oma erzählen, dass die AfD nicht will, dass ich so leben darf, wie ich lebe – sie würde ganz sicher nicht AfD wählen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.