Ein Typ, den sie in Chemnitz den „Ungarn“ nennen, baut sich auf dem schmalen Asphaltweg auf, der zu der Kirche St. Michaelis und dem Friedhof führt. „Haut ab jetzt hier, sonst wirds für euch richtig eklig“, brüllt er, „ihr Leichenfledderer.” Er trägt einen langen Bart und Sonnenbrille und bewegt sich wie ein Braunbär, der sich auf die Hinterbeine gestellt hat.
Die Journalisten, die dem Leichenwagen von der Bundesstraße auf das Friedhofsgelände gefolgt waren, trippeln nun rückwärts aus dem Radius der ungarischen Fäuste. „Schickt die hier weg, bitte!“, ruft er Richtung Polizei. Ein Polizist im schwarzen Einsatzoverall fasst sich ans Schlüsselbein und fragt in einen kleinen schwarzen Kasten hinein, ob man nicht zumindest die großen Kameras „etwas auf Distanz bringen” sollte.
Die Antwort kann ich nicht verstehen, darf aber mit den anderen 10-15 Journalisten am Wegesrand zwischen mächtigen kahlen Ulmen und schmächtigen grünen Tannen stehen bleiben. Der graue Himmel hat sich gelichtet, hinter uns auf der sonnenbeschienenen Bundesstraße warten seit knapp einer Stunde rund 1.000 Menschen, fast alles Männer, fast alle in Schwarz, viele vermummt. Sie haben das Geschrei auch mitbekommen, ein Murmeln mischt sich unter das Verkehrsbrausen, dann verstummt es plötzlich. „Den Blick zur Straße!”, ruft jemand den Trauergästen zu, und die stehen sofort wieder stumm und stramm.
Heute würden sich alle benehmen, das war klar. Das war ganz offensichtlich die Ansage, sich von der besten Seite zeigen, ein gutes Bild abgeben, wenn einer der berühmtesten Hooligans Deutschlands zu Grabe getragen wird: der Chemnitzer Thomas Haller, der vor zehn Tage im Alter von 53 Jahren an Krebs verstarb.
Haller gilt vielen auch als Neonazi, die von ihm gegründete Gruppierung HooNaRa (für Hooligans, Nazis, Rassisten) prügelte 1999 einen jungen Punk zu Tode und zählte zum NSU-Unterstützerkreis. 2007 löste sie sich auf. Haller selbst soll bei den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz im vergangenen August mit dabei gewesen sein. 950 Polizisten sind gekommen, um die Trauerfeier abzusichern, sie haben Wasserwerfer und einen kleinen Panzer mitgebracht.
In Zweier- und Dreierreihen ziehen die Trauergäste nun langsam auf dem schmalen Asphaltweg an uns vorbei Richtung Friedhof. Da sind die Hools vom 1. FC Magdeburg und vom BFC Dynamo Berlin, die gemeinsam einen großen Kranz tragen: „Die Gruppe geschlossen. Die Fäuste geballt. Wir haben geschworen Zusammenhalt.“ Da sind auch die Hools von Lok Leipzig, von Dynamo Dresden und natürlich vom Chemnitzer FC. In den vergangenen zehn Tagen wurde in Fankurven in mehreren Ländern kondoliert: Cottbus, Zwickau, Prag, Braunschweig und Zürich.
Im Chemnitzer Stadion gab es vor dem Anpfiff des Regionalligaspiels gegen Altglienicke eine Schweigeminute und eine Choreografie mit Pyroshow. Rund 4.000 Zuschauer waren dabei. „Wir möchten seiner Familie und allen, die Tommy als Mensch schätzten, hiermit unser tiefstes Mitgefühl aussprechen”, sagte der Stadionsprecher. Hallers Bild auf der Videoleinwand, Musik aus dem Film Gladiator.
Deutschland blickt nun wieder fassungslos auf Chemnitz, und die mehr oder weniger offen gestellte Frage ist: Wie kann diese Stadt zulassen, dass hier so öffentlich einem Mann wie der Hooligan-Ikone Haller gedacht wird? Wo es doch die Hools waren, die im vergangenen Sommer bis zu 11.000 Menschen auf die Straße brachten, die tagelang an ausländerfeindlichen Protesten teilnahmen? Wie konnte der insolvente Chemnitzer FC, der größte Verein der Stadt, nur so dumm sein, einem mutmaßlichen Neonazi in der für 27 Millionen Euro neu errichteten städtischen Arena so die Ehre zu erweisen?
Gedenken weit über die Stadt- und Fußballkreise hinaus
Vertreter aller großen Parteien in Chemnitz – außer der AfD – verurteilten das Gedenken. Die SPD-Landtagsabgeordnete Hanka Kliese sagte: Der „CFC hätte niemals einen offiziellen Trauerakt für einen kriminellen Nazi abhalten und seine angeblichen Leistungen für die Stadt Chemnitz betonen dürfen. Der Vorfall hat mir bewiesen, dass die rechtsextremen Hooligans den Verein fest im Griff haben.”
Die ehrenamtliche Fanbeauftragte des CFC und SPD-Stadträtin Peggy Schellenberger sagte über Haller: „Wir waren immer fair, straight, unpolitisch und herzlich zueinander.” Sie musste zurücktreten, ebenso wie der Stadionsprecher und ein Mitarbeiter des Stadtsportbundes, der auf Facebook geschrieben hatte, Haller sei ein „guter Freund” gewesen und auf dessen „Jungs immer Verlass“.
Ich habe mich gefragt: Warum wird dieser Thomas Haller so verehrt, weit über die Grenzen von Chemnitz, weit über die Fußball- und die rechtsextreme Szene hinaus?
Ich bin nur ein paar Kilometer von Chemnitz entfernt aufgewachsen, habe auch ein paar Jahre in der Stadt gelebt und bin Fußballfan, seit ich denken kann. Ich beobachte seit vielen Jahren die Ultra-Szene und habe für Krautreporter darüber geschrieben, wie sie ab Ende der 90er-Jahre die Dominanz der Rechtsextremen in den Fankurven brechen konnte. Ich habe auch beschrieben, dass das gewalttätige Image der ostdeutschen Fußballfans heute längst zu einer kontrollierten Provokation und nicht zuletzt auch zu einem guten Geschäft geworden ist.
Um Thomas Haller und die große Anteilnahme an seinem Tod zu verstehen, müssen wir aber etwas weiter zurück in die Geschichte gehen, und zwar in die Zeit direkt nach der Wende. Denn die Wahrheit ist: Damals machten sich Typen wie Haller bei den Behörden beliebt, weil sie für Sicherheit gesorgt haben, wo es der Staat nicht konnte. Die DDR gab es nicht mehr, und die neuen Institutionen waren noch nicht angekommen.
Die Hooligan-Bewegung war ab den 80er-Jahren zu einem Sammelbecken von Leuten geworden, denen es gar nicht so sehr um Fußball ging. In der antifaschistischen DDR war es ein Akt der Provokation, rechtsradikale Symboliken zu verwenden und sich zu Massenschlägereien zu verabreden. Und in diesem Überwachungsstaat gab es kaum einen sichereren Ort dafür als das Stadion. Die Staatspropaganda verharmloste rechte Gewalt als Rowdytum, selbst wenn die Hooligans in Innenstädten Jagd auf Gastarbeiter machten.
Nach der Wende war Haller der Mann der Stunde
Nach der Wende fehlte der Polizei das Ansehen, das Personal und wohl auch die Motivation, um im großen Stil gegen die Hooligans vorzugehen, die immer mehr wurden, weil immer mehr junge Männer nicht wussten, wohin mit ihrer Kraft und ihrem Frust. Die Schlägereien weiteten sich zu handfesten Randalen aus, mit Plünderungen, mit Schwerverletzten, mit Toten. In Magdeburg, Dresden, Berlin, Cottbus, Leipzig, Aue, Halle, Zwickau, Erfurt – es entstand eine neue Macht.
Sie nutzte ihre Stärke, um einen stillen Deal mit Politik, Vereinen und Behörden zu machen: „Ihr stellt uns als Security ein, und wir sorgen für Ruhe. Bezahlt uns dafür, dass wir vor der Tür stehen. Oder ihr bezahlt dafür, dass wir reinkommen.“ Natürlich ist das in jeder Stadt etwas anders abgelaufen. Aber wahrscheinlich waren die Bande zwischen der rechtsextremen Szene, der Wirtschaft, dem Fußball und der Gesellschaft nirgendwo so eng wie in Chemnitz.
„Haller war der Mann der Stunde“, erklärt mir Lars Fassmann. Er ist Geschäftsführer eines Software-Unternehmens, Stadtrat in Chemnitz und Genossenschaftsmitglied bei Krautreporter. Er erzählt, wie Thomas Haller sich in Chemnitz eine schlagkräftige Hooligan-Truppe aufbaute und zum Platzhirsch wurde. „Dank ihm konnten Spiele mit einer gewissen Sicherheit vor Übergriffen fremder Hooligan-Gruppen stattfinden.“
Im Stadtteil Sonnenberg kaufte Fassmann denkmalgeschützte Häuser auf, die zu verfallen drohten, und überließ sie jungen Chemnitzern, um sich dort zu entfalten. Es entstanden Bars, Proberäume und Demokratiefördervereine; der Chaos Computer Club ließ sich nieder, es gab Kunst- und Musikfestivals. Fassmann half, der Zivilgesellschaft in Chemnitz wieder Leben einzuhauchen. Mehrfach gab es Anschläge auf seine Häuser.
Ich verabrede mich mit Fassmann nach der Beerdigung auf eine Pizza. Er hat nur wenig Zeit, am Abend soll er im MDR über die Ereignisse der letzten Tage diskutieren. „Haller schaffte über Jahrzehnte eine recht bequeme Situation für Polizei und Ordnungsamt”, sagt er. „Sie waren gar nicht in der Lage, die Massen von Hooligans unter Kontrolle zu bringen. Während der Spiele vernetzte sich dann die Szene: Man musste sich ja irgendwie zum nächsten Event verabreden, und man pflegte einen kameradschaftlichen Kontakt.“
Der arbeitslose Fleischer Thomas Haller gründet in den 90ern eine Sicherheitsfirma, die im Stadion eingesetzt wird, bei Stadtfesten und beim Pressefest der Lokalzeitung. Mehrere Veranstalter aus Chemnitz erzählen mir, dass es bis heute praktisch unmöglich ist, Security zu buchen, die nicht zu Haller gehört. Selbst als Haller sich 2007 im Fußballmagazin Rund als Gründer der später verbotenen Organisation HooNaRa („Hooligans Nazis Rassisten”) outet und vom CFC gefeuert wird, bedeutet das keinen echten Bruch. Eine neue Firma wird angeheuert, die Mitarbeiter sind Hallers Leute.
Nach der Trauerzeremonie im Stadion kündigt der Chemnitzer Fußballclub seine Securitys erneut. „Keine Ahnung, wo die Stadt jetzt plötzlich jemand anders finden will“, sagt Fassmann und spricht etwas aus, was in diesen Tagen kaum jemand in Chemnitz laut sagen möchte: Es wird auch in nächster Zukunft nicht so schnell ohne Hallers Leute gehen. Und erst recht nicht gegen sie.
Als Hallers HooNaRa 1999 einen Punk im Nachbarort Limbach-Oberfrohna mit einem Baseballschläger brutal zu Tode prügeln, steht er zunächst selbst unter Verdacht, doch Zeugen widerrufen später ihre Aussage, ihn gesehen zu haben. Auch in den Ermittlungen zum Terrortrio NSU taucht Hallers Name mehrmals auf. In Chemnitz stellte die rechte Szene den flüchtigen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe die erste Wohnung zum Untertauchen.
Vermittelt wurde diese von Thomas Starke, Hallers Name findet sich in dessen Adressbuch. Hallers Name fand sich auch in den Handy-Speichern von weiteren NSU-Unterstützern, zum Beispiel bei Ralf „Manole“ Marschner, der zehn Jahre V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz war, dem NSU-Trio Jobs und Tatfahrzeuge beschafft haben soll und außerdem in der Hooliganszene des FSV Zwickau aktiv war. Marschner hat sich in die Schweiz abgesetzt, wurde zum Thema NSU nie gehört, fährt aber auch heute noch gelegentlich mal zu Auswärtsspielen des FSV.
Bis heute weisen Nebenklagevertreter und Familien der NSU-Opfer darauf hin, dass die Verflechtungen zwischen dem NSU und HooNaRa von den Ermittlern nicht ausreichend beachtet wurden.
Symbiose von Politik, Verwaltung und Hooligans
Zur Geschichte von Thomas Haller gehört aber auch, dass er zum Synonym für die lokale Fußballszene geworden ist, wie mir langjährige Beobachter in Chemnitz erklären. Er brachte nicht nur eine Menge Rechtsextreme in Lohn und Brot sowie unter eine gewisse Kontrolle, er sponserte auch zahlreiche Amateur- und Nachwuchsfußballteams und betrieb die Fußballkneipe „Dritte Halbzeit“. Nicht zuletzt wird er in Nachrufen als jemand beschrieben, der seinen Job verstand und mit Politik nichts am Hut hatte. So schreibt zum Beispiel der Journalist Robert Dobschütz, Mitinhaber der unabhängigen Leipziger Internet Zeitung, über Haller, den er bei einem VW-Treffen in Bautzen kennenlernte:
„Haller war dort als Security-Chef genau das, was man einen fleißigen Deutschen und ‚die richtige Besetzung‘ nennt. Sehr darauf bedacht, die gestellten Aufgaben gemeinsam mit den mitgebrachten Mitarbeitern möglichst genau umzusetzen. Manchmal überrascht, aber da schon älter geworden, eher froh, dass es auch friedliche Lösungen gibt. Aber immer dienstbeflissen, möglichst akkurat, manchmal fast schon unterwürfig. Niemals politisch, natürlich ordnete er sich auch einem türkischstämmigen Security-Gesamtleiter in der Nacht unter. Oder half dabei, Hooligans aus anderen Regionen des Landes bei auffälligem Gewaltverhalten in der Nacht zuvor am Morgen vor die Tür zu schaffen. Danach gabs eine Zigarette zum Runterkommen.”
Haller selbst sagte einmal, er habe die Bezeichnung HooNaRa nur gewählt, weil man damit am besten Angst und Schrecken verbreiten könnte: „HooNaRa ist keine Organisation, die in eine Burschenschaft oder Kameradschaft mündet. Die Seelenfänger von NPD oder DVU gibt es hier auch nicht. Ich weiß nicht, ob Einzelne zu Kameradschaftstreffen gehen, aber der geschlossene Mob geht nicht nach dem Spiel zur NPD.“
Es ist auf jeden Fall nicht nur die Fußballszene, die nun im St. Michaelis Friedhof schweigend an mir vorbeizieht: Da sind Rocker in Kutten, da sind Mitglieder der Chemnitzer AfD und der rechtsextremen Partei Pro Chemnitz, da ist die Rechtsrockszene um den ehemaligen Landser-Sänger Michael Regener und dem Chef des Musiklabels PC Records, Yves Rahmel, da ist Pegida-Vize Siegfried Däbritz. Was Rang und Namen hat in der rechten Szene Ostdeutschlands ist gekommen und läuft nun mit Blumen in der Hand an den Kameras der Journalisten vorbei. Eine Gruppe ganz in Schwarz, vermummt und austrainiert wie ein Sondereinsatzkommando. Sie sehen genauso aus wie die Typen, die im August durch Chemnitz marschierten und dabei skandierten: „Wir sind die Fans – Adolf Hitler Hooligans.”
Es sind aber auch viele ältere Menschen gekommen, die keine Szenemarken tragen, sondern Jeans und internationales Rentnerbeige. Es ist die gleiche Gruppe Menschen, die sich nach dem Tod von Daniel H. im Sommer 2018 am Karl-Marx-Kopf versammelte und später durch die Innenstadt zog und „Ausländer raus” rief.
Die Angst vor dem Freispruch
Während der Trauermarsch an mir vorbeizieht, beginnt in Dresden der Prozess gegen den tatverdächtigen Syrer Alaa S., den die Staatsanwaltschaft für den gewaltsamen Tod des 35-jährigen Daniel H. auf dem Stadtfest verantwortlich macht. Aus Sicherheitsgründen ist das Gerichtsverfahren dorthin verlegt worden, in einen Hochsicherheitssaal, der vor zwei Jahren extra für den Strafprozess gegen eine rechtsextreme Terrorgruppe aus Freital gebaut worden war: für 5,5 Millionen Euro.
An diesem Tag, mehr als eine Woche nach der Trauerzeremonie im CFC-Stadion, äußert sich auch Chemnitz’ Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) zum ersten Mal. Sie war im Urlaub. Die „öffentliche Ehrung eines über Jahrzehnte bekannten Rechtsextremisten“ sei für sie „eine bewusst angelegte Grenzüberschreitung der Organisatoren“. Darauf angesprochen, was passieren würde, wenn Alaa S. beim Prozess in Dresden freigesprochen wird, sagt sie der taz: „Dann würde es schwierig für Chemnitz. Aber so wäre der Rechtsstaat.“ Der Düsseldorfer Insolvenzverwalter des CFC sagt, man brauche jetzt professionelle Hilfe, in der Vereinsführung fehle die Ortskenntnis. Außerdem erstattete er Anzeige gegen unbekannt wegen Nötigung.
Lars Fassmann sagt: „Genaugenommen haben Politik und Verwaltung mit Hooligans in einer Symbiose gelebt und werden dies wahrscheinlich auch weiterhin tun müssen. Fußball und Hooligans lassen sich nicht mit ein paar Lippenbekenntnissen oder Beschlüssen auseinanderdividieren.”
Thomas Haller würde ihm wohl zustimmen. 2007 sagte er Rund: „Die jungen Leute verstehen ja nur eine Sprache. Wenn wir nicht präsent wären, würden die Fans irgendwann sagen: ‚Was willst du von mir, du Wichser.‘ Wenn der weiß, wer ich bin, wagt der das niemals. Die Leute müssen wissen: Der macht keinen Spaß. Der holt mich noch drei Wochen später ab, auch von zu Hause, auch vom Nachtschrank. Ich bin nicht irgendein Wichser, den man anlachen kann. Wir gehören zur Stadt, wir gehören zum Verein.”
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion Martin Gommel.