„Seht, was wir haben: Die ganze deutsche Geschichte in einer einzigen Stadt“

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Politik und Macht

„Seht, was wir haben: Die ganze deutsche Geschichte in einer einzigen Stadt“

Wenn Weimar deine Heimat ist ...

Profilbild von Josa Mania-Schlegel
Reporter für Ostdeutschland, Leipzig

In einer Nacht im Herbst 2004 stand meine Mutter am Küchenfenster und weinte. Sie blickte über die Dächer Weimars, in das historische Stadtzentrum, wo ein leuchtender Feuerball eine tiefschwarze Rauchwolke in die Luft stieß.

Die Anna-Amalia-Bibliothek, das Herz der Weimarer Klassik, stand in Flammen.

Franz Liszts handschriftlich korrigierte Partituren. Isaac Newtons Entdeckung der Gravitation von 1687. Die Privatbibliotheken von Friedrich Schiller und Friedrich Nietzsche und natürlich von Johann Wolfgang von Goethe, der die Anna-Amalia-Bibliothek 35 Jahre lang persönlich geleitet hatte. Alles brannte.

Meine Eltern fuhren, wie Hunderte andere Weimarer, in die Stadt. Gemeinsam bildeten sie eine Menschenkette und schafften Bücher aus dem in Flammen stehenden Gebäude.

Ein Weimarer Umzugsunternehmer fuhr seine sämtlichen Kartons heran, um die Bücher zu verstauen.

Der Bibliotheksdirektor Michael Knoche rettete, aus dem eigentlich schon abgesperrten Rokoko-Saal im zweiten Stock, noch eigenhändig eine Lutherbibel von 1534.

Und MDR-Kameras dokumentierten, wie die völlig aufgelösten Weimarer noch Stunden danach an ihrer vor Löschwasser triefenden Bibliothek kauerten.

Die Anna-Amalia-Bibliothek, das Herz der Weimarer Klassik, steht 2004 in Flammen.

Die Anna-Amalia-Bibliothek, das Herz der Weimarer Klassik, steht 2004 in Flammen. © Michael Paech

Die Wucht der deutschen Geschichte wird in Weimar in rosa Watte gebettet

Unsere Kultur, und unser Gedenken an den Faschismus, zählen wir Weimarer zu uns. Wir sind stolz darauf. Jedes Jahr aufs Neue, wenn wir mal wieder Bürgerinnen unserer Stadt feiern. (Und es vergeht kaum ein Jahr, in dem wir nichts zu feiern hätten, siehe Anmerkung).

Gerade können, sollen wir mal wieder stolz auf uns sein. Es kommen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Kanzlerin, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und andere Größen der Gegenwart (von der wir eigentlich nicht viel verstehen, aber dazu später mehr) in unsere Stadt – und feiern das hundertjährige Bestehen der Weimarer Verfassung. Weimar, Wiege der Demokratie. Auch das noch.

Ganz nüchtern betrachtet finde ich das ziemlich gut. Über den Weimarer Theaterplatz, wo Goethe und Schiller stehen, schallen an diesen Abenden die Artikel der Verfassung. In einer Zeit, in der viele glauben, Parallelen zur Weimarer Republik zu sehen, ist es wichtig, sich dieser Republik zu erinnern. Auch, um noch einmal zu überprüfen, ob das mit den Parallelen wirklich so ganz stimmt.

Ganz subjektiv, als Weimarer, berauscht mich das Jubiläum aber geradezu. Ganz Deutschland guckt mal wieder auf uns. Wir sind es zwar gewohnt, aber der Thrill ist jedes Mal wieder da. Während andere Städte jahrelang auf ein Jubiläum hinfiebern, reklamieren wir jedes Jahr eines für uns. Dann gibt es Geld, internationale Gäste und Kulturprogramm. Und nachts geht es in den Studentenclubs weiter.

Wenn ich nun mich, den Weimarer, gegen den nüchternen Beobachter in mir ausspiele, verblasst die Euphorie aber. Wenn man nicht aufpasst, bekommt man in Weimar, mit seinen Helden und den ganzen Jubiläen, schnell den Eindruck, die deutsche Geschichte sei eine rosa wattierte Welt.

Weimars Helden konnten sich oft nicht ausstehen

Dabei ist – man muss es eigentlich nicht dazu sagen – die deutsche wie auch die Weimarer Geschichte voller Spannungen. Spannungen, die es gab, als Geschichte geschrieben wurde. Spannungen, die bis heute existieren. Und zu denen man sich bis heute irgendwie verhalten muss.

Der Brand der Anna-Amalia-Bibliothek ist ein Weimarer Mythos geworden. Jeder erinnert sich an die rußschwarzen Papierfetzen, die noch wochenlang durch die Stadt wehten. Und die man auflas, um noch zu retten, was eigentlich schon verloren war.

Das Verwunderliche war, dass die Autoren der verrußten Seiten sich zeitlebens häufig neidisch beäugt hatten. Sich sogar ignoriert und angefeindet hatten. Und sich manchmal bis aufs Blut nicht ausstehen konnten.

Isaac Newton etwa war für Goethe ein „Widersacher“ und „Mann, ohne Leidenschaft“. Um Newton zu widerlegen, brachte Goethe seine Farbenlehre in drei krachenden Wälzern heraus, von einem Umfang, das keines seiner anderen Werke annährend erreichte. Er hielt das Werk für wichtiger als seinen Faust.

Nietzsche kam erst spät und geistig umnachtet nach Weimar. Mit den Weimarer Dichtern, Goethe ausgenommen, konnte er nicht viel anfangen. Und schoss scharf gegen jene, die Weimar vor ihm geprägt hatten. Den großen Dichteridealisten Schiller bezeichnete Nietzsche als „Moraltrompeter“ und „Attitüdenheld“.

Weimar war nicht bloß die Kulisse der Geschichte, es mischte selbst kräftig mit

Aber es ist ja nicht nur die Bibliothek, nicht nur die Goethezeit und Nietzsche. Die großen Widersprüche der deutschen Geschichte, so wollte es die Geschichte, prallten in Weimar aufeinander: Neben der Weimarer Klassik sind wir auch die Gründungsstätte der Avantgarde (Bauhaus). Wir verwalten das Erbe der ersten deutschen Demokratie (Weimarer Republik), genau wie das Gedenken an den Faschismus (Buchenwald).

Manchmal glaube ich, dass es scheinheilig ist, wie wir Weimarer auf all unsere Söhne, Töchter, auf Ereignisse und unseren Umgang damit gleichzeitig stolz sein wollen. Wir Weimarer sind wie Eltern, die – während sich ihre Kinder die Köpfe einschlagen – nicht eingreifen, sondern sagen: Ach, wir haben euch doch alle gleich lieb.

Nur ist es nicht so, dass Weimar bloß die Kulisse stellte, während die Geschichte bei uns ausgefochten wurde. Wir Weimarer haben selbst kräftig mitgemischt. Wir haben unsere Söhne und Töchter, denen wir heute stolz den Schädel tätscheln, teilweise aus unserer Stadt gejagt. Und manch ein Sohn, manch eine Tochter, hat uns seitdem verflucht und ist nie wieder zurückgekehrt.

Das beste Beispiel ist das Bauhaus, das dieses Jahr hundertjähriges Jubiläum feiert. Wohlgemerkt: gleichzeitig mit der Weimarer Verfassung. Zwei Hundertjährige feiern gemeinsam, obwohl sie sich bereits im Kleinkindalter zerstritten haben.

Das Bauhaus existierte noch keine fünf Jahre, da strich ihm die DVP die Förderungen zusammen. Die DVP war die Partei Gustav Stresemanns, dem größten Staatsmann der Weimarer Republik. Indem es den Geldhahn abdrehte, zwang Weimar das Bauhaus weiterzuziehen.

Walter Gropius, der sein Bauhaus hier gegründet hatte und großmachen wollte, nannte die Stadt enttäuscht ein „rückständiges Bierdorf“ – und einen „Kulturhort“, der vor seinem Stolz auf Goethe, Schiller & Co blind geworden war. Der nicht wollte, dass eine neue, andere Kunstrichtung sein klassisches Erbe beschmutzt.

Die elitäre Weimarer Republik, die eben nicht deutsche Republik hieß, verneigte sich schon in ihrem Namen vor Weimar. Man müsste sagen: vor einer eigens konstruierten Version Weimars. Trotzdem wird Gropius heute neben Goethe, Schiller, Johann Gottfried Herder, Christoph Martin Wieland und Nietzsche als einer der großen Weimarer geführt.

Die Alliierten verordneten den Weimarern Zwangsbesichtigungen

Nachdem die Nazis gewählt waren, ging Weimar noch härter gegen das Bauhaus vor. Der Typograph Franz Ehrlich wurde nach Buchenwald geschafft. Man zwang ihn, den heute berühmten „Jedem das seine“-Schriftzug zu gestalten. Und er, Ehrlich, wählte dafür eine von den Nazis verbotene Bauhaus-Schriftart. Es wurde von den Nazis nie bemerkt.

Was für ein genialer Typ! Was für eine Geschichte! Sagen wir Weimarer da. Und, leiser: Unser Typ, unsere Geschichte.

Was wir dann nicht erzählen: Als die Nazis ein Konzentrationslager in Weimar planten – in ihrer Stadt, die Hitler seine „Lieblingsstadt“ nannte – begehrten die Weimarer auf. Aber nicht, weil sie kein KZ wollten. Es waren Kulturräte, die bei Heinrich Himmler höchstpersönlich vorsprachen und ihn baten, das Konzentrationslager auf dem Ettersberg nicht „KZ Ettersberg“ zu nennen. Sie könnten doch auch nicht wollen, dass der schöne Name des Ettersbergs, der sich breit durch das Werk Goethes zieht, verschandelt werde. Man kam dem Wunsch nach.

Und dann gab es Bauhäusler, die sich der neuen Führung bereitwillig anschlossen. Ernst Neufert, Co-Chef des Weimarer Bauhauses, baute in Jena, Darmstadt, Heidelberg und Nürnberg, wo sein Schaffen als Aushängeschild des Weimarer Stils gilt. Aber Neufert verstand sich auch gut mit Albert Speer und plante bald im Auftrag der Nazis. Auch sein einstiger Weimarer Mitschüler, Fritz Ertl, designte nun im Bauhaus-Stil Teile des KZ Auschwitz.

Nach Kriegsende, als den Weimarern allmählich schwante, dass Buchenwald allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, nun doch den Ruf ihrer Stadt beschmutzt hatte, wollten viele nichts von dem zehn Kilometer entfernten KZ gewusst haben.

Und das, obwohl die Stadt von Buchenwald und seinen Produkten profitiert hatte. Manch ein Weimarer Küchenschrank oder Nachttisch war Häftlingsfabrikat. Dazu arbeiteten viele Häftlinge in der Stadt. Und umgekehrt besuchten viele Weimarer Bürger den Bärenzwinger auf dem KZ-Gelände.

Auch deshalb ordneten die Alliierten in Weimar Zwangsbesichtigungen an. Wer körperlich fit war, musste sich auf den sechsstündigen Fußmarsch nach Buchenwald begeben und sich die Leichenberge ansehen.

Es war offenbar nötig: Meine Urgroßmutter etwa, aus dem Haushalt eines stolzen NSDAPlers, konnte sich den Besichtigungen entziehen. Sie lebte in einer enteigneten jüdischen Villa in Jena. Sie hat nie wieder über die Nazizeit gesprochen.

Man sorgte sich bis ins Jahr 1999, als Weimar europäische Kulturhauptstadt werden sollte, dass die Nazis das schöne Weimar beschmutzen könnten. Im Bundesinnenministerium warnte man bei der Gestaltung der Festivitäten vor einer „Buchenwaldisierung“ Weimars.

Letztlich wurde trotzdem an vielen Orten in der Stadt daran erinnert. Und als zum 70. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds rund 80 Ex-Häftlinge das KZ besuchten, quartierte man sie im Nobelhotel Elephant ein – wo früher Adolf Hitler seine Suite hatte.

Wir glauben insgeheim, von Goethe abzustammen

Es fühlt sich seltsam an, über die Widersprüche der Weimarer Geschichte zu schreiben, weil diese für mich immer eher ein glücklicher Zufall war. Ich bin 91er Jahrgang, die Eltern vieler meiner Freunde waren zu Wendezeiten als Professoren an die Bauhaus-Uni oder die Hochschule Franz Liszt gekommen und hatten dann Kinder bekommen.

Wir wussten: Ohne die Weimarer Geschichte wären wir uns wohl nicht begegnet. Manche von uns hätte es gar nicht gegeben.

Die Weimarer Geschichte, die schrecklich und gewaltig ist, müsste uns eigentlich lähmen. Genau, wie viele Promi-Kinder im Drogensumpf landen, weil sie in den Fußstapfen ihrer Eltern versinken, könnte man auch an Weimar verzweifeln. Was soll man in der Stadt, in der schon alles gesagt und geschrieben wurde, schon noch groß sagen und schreiben?

Es ist aber völlig anders.

In der Stadt, die so geübt darin ist, ihre Helden zu feiern, wird man irgendwann selbst zu einem. Die eigene Heldenhaftigkeit manifestiert sich schon in der Tatsache, Experte zu sein: Wer hier aufwächst, muss Deutschland ja rundum verstanden haben. Und das kulturelle Weimar, glaubt man, wird immer auch ein bisschen auf seine klugen Bewohner übergehen.

Praktisch alle Exil-Weimarer haben zu Hause Weimarer Merchandise rumstehen. Eine kleine Schiller-Büste hier, die „Salve“-Fußmatte da. Bei mir hängt ein Bauhaus-Plakat von 1923 im Flur und der Blick durch Goethes Wohnhaus im Arbeitszimmer.

Eine Freundin, der das auch aufgefallen ist, meinte kürzlich, wir Weimarer würden insgeheim glauben, wirklich ein bisschen „von Goethe, Schiller und dem Bauhaus“ abzustammen. Ich musste kurz lachen – verspürte aber absurderweise nicht den Drang, ihr zu widersprechen.

Stamme ich von ihm ab? Goethe-Büste im Innern der restaurierten Anna-Amalia-Bibliothek.

Stamme ich von ihm ab? Goethe-Büste im Innern der restaurierten Anna-Amalia-Bibliothek. © Alexander Burzik

Klar, Geschichte wird immer konstruiert. Aber in Weimar, wo sie die Haupteinnahmequelle ist, umso professioneller. Das färbt auf uns Bewohner ab. Und manchmal kommt es einem aber doch so vor, als lebte man in einer Scheinwelt.

Da wäre Goethe, der noch zu Lebzeiten geplant hat, wie man sein Wohnhaus einmal zum Museum umbauen könnte. Oder wieder die Bauhäusler, die nicht nur wegen ihrer zeitlosen Designs heute so kultig sind, sondern auch, weil sie viel Zeit auf ihre selbstverliebten Manifeste verwendeten und sich so in die Geschichte einschrieben.

In Weimar aufzuwachsen ist, wie in einem Themenpark „Deutsche Geschichte“ groß zu werden. Was nun wirklich nicht verheißungsvoll klingt. Trotzdem erdrückt es einen nicht, wenn man durch Weimar wandelt. In den Gärten der Stadt blühen die Goethe-Ginkgos. In verrauchten Kneipen stehen leuchtende Bach-Büsten auf dem Tresen. Im Sommer hört man aus vielen Fenstern die Musikstudenten Klavierstücke von Liszt proben, die dieser hier komponiert hat.

Niemand kann es mit uns aufnehmen

Für uns Weimarer der letzten zwei Jahrzehnte ist diese Welt wie Watte. Die Wucht der Geschichte erschlägt uns also nicht – aber sie entfremdet uns von der Gegenwart. Wir sind zwar Ostdeutsche, aber wir verstehen nichts von den großen ostdeutschen Debatten und Problemen. Wir kennen keine tristen Plattenviertel, keine leergefegten Landstriche oder rechtsextreme Ausschreitungen.

Wir hatten kein Elbhochwasser, aber Goethes Gartenhaus war einmal der Überschwemmung nahe, als die Ilm überlief. Was war das für ein Drama! Es gibt Exil-Weimarer, die haben nebelig-dystopische Aufnahmen davon als Bildschirmhintergrund.

Manchmal, wenn man Gäste durch die Weimarer Kulisse aus Ginkgos, Büsten und unseren 25 Museen führt und das alles völlig normal findet, bekommt man einen vorwurfsvollen Blick. Ist das euer Ernst? Ein Blick, als hätten wir den Themenpark selbst eingerichtet – und es mit den Attraktionen etwas übertrieben. Euer Ernst?

Und irgendwie, wir wissen es ja selbst, haben sie damit auch recht. Deshalb haben wir uns angewöhnt, unser Über-den-Dingen-Schweben immer mal auf die Schippe zu nehmen. So hängt an manchen Weimarer Häusern eine Plakette: „Hier war Goethe nie.“ Es gibt Topfhandschuhe mit der Aufschrift „Faust 1“ und „Faust 2“. Studenten der Bauhaus-Uni haben einen Jutebeutel entworfen, auf dem steht: „My Bauhaus is better than yours.“

Wenn ich diesen Jutebeutel trage, dann tue ich das zur Hälfte augenzwinkernd: Tja, nicht einmal die anderen Bauhaus-Städte Dessau und Berlin können es mit uns Weimarern aufnehmen. Die Elite der Elite.

Zur anderen Hälfte meine ich das völlig ernst. Seht, was wir haben. Die ganze deutsche Geschichte, in einer 65.000-Einwohner-Stadt.

Wir Weimarer sind stolze Kulturmenschen. Nichts trifft uns so tief ins Herz wie eine brennende Bibliothek. Und wenn ich am Mittwoch nach Hause fahre, weil hier ganz Deutschland die Weimarer Verfassung feiert, dann werde ich insgeheim wissen, dass ich die Demokratie erfunden habe.

Okay, nicht ich allein. Aber wir hier, wir Weimarer.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotos: Michael Paech; Bildredaktion: Martin Gommel.

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