„In Wahrheit können wir nix richtig außer Baggerfahren“

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Politik und Macht

„In Wahrheit können wir nix richtig außer Baggerfahren“

Wenn Berufe automatisiert werden, sollen Millionen Menschen ihre Jobs verlieren. Die Energiewende zeigt heute schon im Kleinen, was dann auf uns zukommt. Derzeit wird auf der Klimakonferenz im polnischen Kattowitz diskutiert, wie man die Kohle los wird – und ihre Arbeiter, wie den Sachsen Marius Koch.

Profilbild von Josa Mania-Schlegel
Reporter für Ostdeutschland, Leipzig

Wenn Baggerfahrer Marius in den trüben Himmel blickt, dann weiß er, dass er noch gebraucht wird. Wenn andere über die trübe Brühe schimpfen, säuselt er nur: Dunkelflaute. Dunkelheit und Flaute, also: Windstille. Kein Lüftchen weht, kein Sonnenstrahl dringt durch die Wolkendecke. Die fast 30.000 deutschen Windräder und alle Solarpanels produzieren: so gut wie nichts. Bringen kaum mehr als Metallschrott, manchmal für mehrere Tage. Der Strom kommt dann zum Beispiel aus dem Kraftwerk Boxberg, am Braunkohle-Tagebau Nochten im Nordosten von Sachsen. Bei Dunkelflaute fahren wir in Boxberg Vollleistung, sagt Marius. Bei Dunkelflaute weiß er, warum es ihn noch gibt.

Ich bin aus meinem Büro in Leipzig nach Görlitz gefahren, um Marius Koch zu treffen. Der natürlich, Görlitz hat 56.391 Einwohner, selbst Städter ist. Aber der dennoch aus einer völlig anderen Welt kommt. Und dessen Job bedroht ist. Marius, Ende 20, fährt seit sechs Jahren Schaufelradbagger. Wühlt in den braunschwarzen Löchern Ostsachsens, Lausitzer Braunkohlerevier. Marius, Typ Fußballspielerfigur: Die Jahre in der Grube haben Bizeps, Schultern und Hüftmuskulatur geformt. Nein, keine schwarzen Schlieren im Gesicht, wie man sich das vorstellen könnte. Eher Typ Gillette-Model, den Bart akkurat rasiert.

Bald wird es Marius’ Job nicht mehr geben, so viel ist sicher. Aber wann? Die Kohlekommission, eine Runde aus Kohlechefs, Lokalpolitikern und Umweltschützern, sagt: Bis Ende 2038 soll Deutschland, also auch die Lausitz, raus aus der Kohle. Aber die Grünen wollen schon 2020 die ersten Kraftwerke vom Netz nehmen.

Mir egal, ob es in zwei Jahren ist, oder in 20, sagt Marius. Hauptsache, Gewissheit.

Taxifahrer und Kassierer, aber auch Ärzte und Anwälte verlieren ihre Jobs

Nicht nur Marius, sondern seine ganze Branche ist nervös. Vom Chef, meint er, bekomme er nie eine Erlaubnis, öffentlich über seinen Beruf zu sprechen. Deshalb musste ich ihn anonym treffen – auch sein Name lautet in Wirklichkeit anders.

Nach der Atomkraft wird die Kohle das zweite große Opfer der Energiewende. Aber anders als die Atomkraft scheint sich die Kohle nur schleichend zu verabschieden. Für Menschen wie Marius: lähmend langsam. Vielen Menschen wird es in Zukunft ähnlich wie Marius gehen, sie wissen es nur noch nicht. Denn der Wandel, der die Kohle verschlucken wird, ähnelt einem anderen, noch größeren, der schon seit hunderten Jahren läuft. Der noch viel mehr Jobs vernichten wird als die Energiewende: die Automatisierung. Die OECD schätzt, dass in ihren technologisierten Mitgliedsstaaten dann 14 Prozent aller Berufe verschwinden. Dann wären plötzlich 66 Millionen Menschen ohne Arbeit. Ein Nürnberger Institut schätzt mittlerweile sogar 25 Prozent.

Zuerst werden Lokführer, Taxifahrer, Kassierer dran sein. Das sieht man schon jetzt, an selbstfahrenden U-Bahnen und Autos oder an der Self-Check-Out-Kasse bei Ikea oder Netto. Auch höherqualifizierte Berufe sind bedroht. Lawgeex, der virtuelle Anwalt, kann Verträge schneller und genauer auf Schwachstellen prüfen als ein Mensch. In Japan entlassen Versicherungen ihre Schadensbegutachter, weil man heute eine Drohne zum Unfallort schickt. Und sogar Ärzte lassen sich zum Teil ersetzen. Im vollautomatisierten Krankenhaus der Zukunft sprechen Patienten ihre Leiden in Bildschirme und lassen sich Blutproben maschinell entnehmen – und auswerten.

Es geht noch verrückter. Da ist Flippy, der Burgerbrater. Sam, der Maurer. Emmy, die Komponistin. Radar, der Nachrichtenjournalist. Hinter jedem dieser lustigen Namen steckt eine Maschine. Es gibt auch Hoshi Shinichi, den japanischen Romanautor, der niemals lebte, sondern nur aus Bits und Bytes besteht – was ihn nicht daran hinderte, mit seinem Debütroman beinahe einen Buchpreis abzuräumen.

Tatsache ist: Beinahe jede Tätigkeit, die Maschinen machen können, werden auch irgendwann Maschinen erledigen. Und das nicht seit gestern, sondern mindestens seit dem 3. Jahrhundert, als findige chinesische Bauern ein gefächertes Rad in den Fluss vor ihrer Mühle hängten und so keine Muskelkraft zum Mahlen mehr brauchten.

Welcher Arzt weiß schon, wann sein Krankenhaus auf Automatisierung umgestellt wird? Welcher Anwalt, wann ein Algorithmus ihn ersetzt? Der Schritt ist jedes Mal endgültig. Marius Koch erlebt ein Schicksal, das bis zu 25 Prozent der Menschen bald erwarten könnte, Ärzte, Anwälte, Romanautoren. Wenn ihr Job und alles, was sie gelernt haben, nichts mehr wert ist. Deswegen ist es wichtig, seine Geschichte zu erzählen.

In Ostsachsen ist Kohle Gold wert

Die Energiewende erreicht Marius wie eine tödliche Krankheit. Mit plötzlichem Anfang, schleichendem Verlauf und abruptem Ende. Wie die Taxifahrerin, die ihren Job gerade unwiederbringlich an selbstfahrende Autos verliert, wird auch Marius nicht einfach woanders neu anfangen können. Mit dem Ende der Kohle wird sein Beruf verschwinden. Und damit alles, was er je gelernt hat. Wenn die Kohlekommission es will, sagt Marius, wird es nicht mehr auf ihn ankommen. Dann wird man alle entlassen, bis auf die alten, erfahrenen Arbeiter, die ohnehin bald in Rente gehen. Wenn er daran denkt, sagt Marius, fühlt sich das an, als würde er ins Bodenlose fallen.

Dicht an der Abrisskante des tiefbraunen Tagebau Nochten liegt Marius’ Heimatort. Nochten, das dunkelste Loch Ostdeutschlands. Die schwarze Braunkohle hier, sagt Marius, ist die beste, weil sie tief liegt. Man merke das am Bagger, die Kohle ist knochenhart, wie Beton. Nicht wie im Tagebau Reichwalde, diese verdammte Blumenerde. In Nochten ist das anders, Marius spürt das im Bagger. Wie es scherbelt. Du fliegst hin und her, spürst das Schaufelrad. Wenn es zu krass ist, sagt er, würgst du ihn ab.

Worauf es im Bagger ankommt, sagt Marius, sei Gefühl. Die Wand anfahren, schwenken. Weiterfahren, schwenken. Die Karre nicht übermäßig reinhacken. Gucken, dass die Bandanlage nicht überlädt. Sonst haben die Kollegen hinten zu schippen. Das könne bisher kein Autopilot leisten, sagt Marius.

In Ostsachsen, sagt Marius, ist die dunkle Kohle Gold wert. Ohne sie keine Lausitzer Füchse, die Eishockeymannschaft. Kein Energie Cottbus, der Fußballverein. Keine Filmnächte, Gemeindehäuser, Dorffeste. In der Stadt kann man das kaum nachvollziehen, warum sich die Dörfler wie blöde auf ihr Sportfest im Juni freuen, meint Marius. Hier gibt es den ganzen Sommer, neben Maibaum und Osterfeuer, nix anderes. Und ohne die Kohleindustrie, die fast alles fördert und sponsert, gäbe es noch nicht mal das. Jeder Fünfte aus Marius’ Heimatdorf arbeitet in der Kohle. Für ihn war es damals nur logisch, dass er sich auch dort beworben hat.

2008, Marius Koch beginnt bei Vattenfall seine Ausbildung zum Mechatroniker. Die haben uns das schöngequatscht, sagt er, wir könnten danach alles ein bisschen. Bisschen Schlosser, bisschen Elektriker. In Wahrheit, sagt er, können wir nix richtig außer Baggerfahren. Und das ganze Drumherum. Warum genau er damals dort anfängt, warum er dafür eine Ausbildung bei Airbus in Hamburg ausschlägt, weiß er heute nicht mehr. Hat man damals halt so gemacht. Die Kohle schien vor zehn Jahren wie eine sichere Bank.

Auf wenig bauten die Menschen in seiner Heimat so sehr wie auf das braune Gold unter der Erde. Für wenig mussten sie so sehr leiden. Marius’ eigene Oma wurde in den Siebzigern umgesiedelt. Der Kohlebagger musste an die Erdschichten unter ihrem Dorf. Trotzdem will sie, sagt Marius, dass die Braunkohle in der Region bleibt. Er will es auch.

Alleingelassen? Eher: gar nicht gewollt

Ich steige mit Marius ins Auto, er will mir was zeigen. Görlitz, Zgorzelec, ist eine geteilte Stadt. Eine Hälfte in Sachsen, die andere in Polen. Wir fahren über eine Brücke ins andere Land, und überqueren dabei auch eine blaue Linie. Der Meridian, die Markierung der Mitteldeutschen Zeit, auch: Görlitzer Zeit. Hier geht Europas Zeit genau richtig, sagt Marius. Einige Kilometer weiter hinten schon wieder ein paar Sekundenbruchteile falsch. Marius gibt Gas, wir brausen weiter Richtung Osten. Die Zeit richtet sich also nach Görlitz. Er muss ein bisschen lachen. Das Gegenteil ist der Fall, findet er.

2012, Marius wird mit der Ausbildung fertig – und hat Glück. In den Lausitzer Tagebauten sollen bald viele Baggerfahrer in Rente gehen, die in den 80er Jahren alles mit aufgebaut haben. Die irrsinnig großen Schaufelradbagger zusammengebaut, mitgedacht, auch mal modifiziert, auseinander- und wieder zusammengebaut haben. Ich bekam einen wunderbaren Vertrag, sagt er, unbefristet.

Wir fahren durch auf die polnische Seite, Zgorzelec. Wer von hier nach Berlin will, muss kompliziert über Dresden kurven oder ewig Landstraße fahren. Eine neue Autobahn, als Direktanbindung? Keine Chance. Mobiles Internet? Marius weiß, wo man in Görlitz den besten Empfang hat. Man muss es wissen. In seinem Heimatdorf ist komplett Funkstille. Man fühlt sich hier alleingelassen, sage ich. Nein, nicht alleingelassen, sagt Marius. Eher gar nicht gewollt. Wären viele ganz froh, wenn die Lausitz doch noch in Polen liegen würde, sagt er. Wir fahren zurück nach Deutschland.

2014, in Schweden sind die Grünen an die Macht gekommen. Und sie nehmen die stolze Braunkohle ins Visier. Wenige Wochen nach Amtsantritt verkünden die Schweden, das staatseigene Unternehmen Vattenfall zu verkaufen. Der Energiekonzern fördert und verheizt in der Lausitz Braunkohle. Zu Hause Klimaschutz predigen, aber in Ostdeutschland mit Dreck schleudern, das passt nicht zu den Schweden. Ein Jahr später einigen sich 196 Staaten in Paris auf das Klimaabkommen. Mit einem übergreifenden Ziel: weniger Emissionen. Innerhalb kürzester Zeit ist die Welt sich einig, die Kohle muss weg. Aber wann? Wie?

2018, Marius bekommt Kündigungsschutz. Bis 2022. Und dann?

Aufs richtige Pferd gesetzt und trotzdem verloren

Marius Koch ist einer, der immer Sicherheit wollte, und sie doch nicht bekam. Warum passiert einem das? Vielleicht, weil einer aufs richtige Pferd setzte, und Pferd trotzdem nicht gewann. Der Spruch stammt vom vielleicht berühmtesten Lausitzer Baggerfahrer, dem DDR-Musiker Gerhard Gundermann. Tagsüber saß Gundermann im Bagger, nachts schrieb er seine Lieder. Bei Marius’ Vater, einem Lehrer, saß Gundermann mit seinem Sohn manchmal abends auf der Couch. Elternabend. Man schwieg sich vor allem an. Gundermann besang schon 1992 das Ende der Kohle: „Die Gleise rosten und das Förderband ist leer / Die braune Kohle von hier will jetzt keiner mehr.“

Marius kann mit dem Kohle-Romantiker Gundermann nicht viel anfangen. Vielleicht eher mit dieser Zeile: „Ich warn Bergmann, weiter hab ich nüscht gelernt.“ Eigentlich würde Marius der Kohle gar nicht nachtrauern. Ich würde sofort was anders machen, sagt er, auch für weniger Geld. Das Problem ist, dass es außer der Kohle hier nichts für ihn gibt. Und von hier weg, das will er keinesfalls. „Die Frau will wegziehen, aber ich bin angebunden hier“, singt Gundermann.

Lausitzer Kohle wird seit dem 20. Jahrhundert abgebaut, da lief die Wohlstandsmaschine, die industrielle Revolution, schon längst. Seit 1800 hatten die Menschen in den vergleichsweise bevölkerungsarmen, aber hoch entwickelten Länder – USA, Deutschland Großbritannien – immer mehr Geld. Der Grund waren die starke Industrie und die arbeitende Mittelklasse, die vom Aufschwung profitierte. Aber seit einigen Jahren nimmt der Wohlstand dieser Länder wieder ab, obwohl die Wirtschaft weiter steigt. Warum?

Ein Prinzip des Kapitalismus ist, dass er immer effizienter, man könnte auch sagen: immer böser wird. Zu Zeiten der industriellen Revolution bedeutete das, dass er immer mehr Menschen für sich arbeiten ließ. Dass er die Welt globalisierte. Aber heute, mit unseren technischen Möglichkeiten, ist es plötzlich lohnender, weniger Menschen zu beschäftigen. Die amerikanische Produktion hat seit 1995 ihre Umsätze verdoppelt und dabei ein Drittel ihrer Arbeiter verloren. Die Regel, dass eine boomende Wirtschaft auch eine reiche Mittelschicht produziert, wird damit zum Mythos. Wenn Politiker sie als Erfolg verbuchen, wie Donald Trump es gern tut, dann muss man heute fragen: Boomt denn auch das Einkommen der Angestellten?

Bei der Energiewende ist das ganz ähnlich. Seit 1990 ist der Stromverbrauch in Deutschland gestiegen. Trotzdem bangen heute Menschen wie Marius Koch, die Strom produzieren, um ihren Job. Das große deutsche Projekt Energiewende, die in Deutschland als Erfolgsprojekt gilt, bekäme auch eine Schattenseite. Jedenfalls, wenn man es nicht schafft, Menschen wie Koch etwas anderes anzubieten.

Eine ganze Region ist abhängig von der Braunkohle

Nur was? Was wird aus einem wie Marius, und den 8.000 anderen Lausitzer Braunkohle-Arbeitern, wenn die Kohle einmal nicht mehr ist? Mit den geschätzt 25.000 Menschen, die hier indirekt von der Kohle abhängig sind? Im Zwischenbericht der Kohlekommission ist von „Weiterbildungen und Qualifizierungen“ die Rede. Nichts Konkretes. Marius weiß es auch nicht.

Wenn in Sachsen frischer Wind aufkommt, dann machen fährt Marius seinen Bagger oben in Nochten schon mal zwei Stunden früher runter. Dann ist Strom da. 10, 12 mal im Jahr passiert das. Bislang weiß niemand so richtig, wie man diesen Strom für später speichern könnte. Wenn die Dunkelflaute kommt. Wenn man das herausfindet, ist die Dunkelflaute auch für Marius nur noch trübe Brühe. Er zieht an der dünnen polnischen Zigarette. Drüben sind sie billiger. Ich weiß schon, sagt er, dass wir aus der Kohle rausmüssen. Ich bin ja selbst dafür.

Marius guckt in den trüben Himmel. Wenn die Windräder stillstehen und weder Braunkohle noch Atomkraft einspringen, dann kauft Deutschland Strom aus dem Ausland. Strom aus französischen Atomkraftwerken, die dicht an der deutschen Grenze liegen. Oder aus polnischen Kohlekraftwerken, die viel älter und klimaschädlicher sind als die hochmodernen Werke in Ostsachsen.

Vielleicht frustriert das den Baggerfahrer Marius Koch am meisten. Nichts, sagt er, wäre schlimmer als sinnlos den Job aufzugeben. Von seinem Bagger verwiesen zu werden, während andere weiter baggern.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.