Vor einer Woche bekam ich einen Brief zugesteckt, der nicht an mich adressiert war. Der Brief ist auf den 9. Oktober 2018 datiert und darin sammelte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer Ideen für die Zeit nach der Kohle. Adressiert war der Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
Kretschmer erwartete damals die Ergebnisse der Kohlekommission, die gerade darüber berät, wie Deutschland der Kohleausstieg gelingen kann. Rund 10.000 Menschen arbeiten in sächsischen Kraftwerken und Tagebauten. Wenn etwa ab 2035 keine Kohle mehr gefördert werden soll, müssten viele Sachsen für ihren neuen Job wegziehen. Ganze Landstriche könnten dann veröden.
Um das zu verhindern, verlangt der sächsische Ministerpräsident 60 Milliarden Euro an Hilfen. Die Kommission hat bisher veranschlagt: 1,5 Milliarden. Mit seiner Ideenliste will Kretschmer Druck machen, um mehr Geld zu bekommen. Zum Beispiel müssten zwischen der Lausitz und Berlin mehr Züge verkehren. Wenn die Ostsachsen nicht mehr in der Kohle arbeiten, könnten sie für einen anderen Job nach Berlin pendeln – anstatt gleich dort hinzuziehen. Außerdem, schwärmte Kretschmer, sollte man die schmucke ostsächsische Grenzstadt Bad Muskau zu einem „herausragenden touristischen Ziel“ machen. Mit Touristen ließe sich Geld einnehmen, das die Kohle nicht mehr einbrächte. Alles gute Ideen, alle in Sachsen unstrittig. Aber Kretschmer warb in dem Brief auch für die Einrichtung einer privaten Hochschule im Landkreis Leipzig, für die „Chappe University“ – und da beginnen die Fragen.
In manchen Regionen gibt es außer der Kohle fast nichts
Denn drei Wochen nach Kretschmers Brief veröffentlichte die Kohlekommission ihren Zwischenbericht. Dieser geriet in die Kritik – auch, weil die Lausitz, wo Dreiviertel der sächsischen Kohleindustrie beheimatet ist, darin kaum auftaucht. Von der schmucken Grenzstadt Bad Muskau ist erst gar nicht die Rede. Dafür hat es Kretschmers Wunsch nach einer privaten Hochschule in den Bericht geschafft. Und zwar mit fast den gleichen Worten, die Kretschmer in seinem Brief an Scholz benutzte.
Mich hat das gewundert. Mit der Arbeit der Kohlekommission, dachte ich, sollen Regionen gestärkt werden, in denen es außer der Braunkohle fast nichts gibt. Während ich diesen Text schreibe, bin ich unterwegs in Richtung Görlitz. Ich treffe dort einen jungen Baggerfahrer, in dessen Heimatdorf jeder Vierte in der Kohleindustrie arbeitet. Und der keine Ahnung hat, was kommen soll, wenn es den Bergbau einmal nicht mehr gibt.
Warum, frage ich mich, setzt man sich nicht für ihn ein? Warum fördert die Kohlekommission den Aufbau einer Privatuni im Umland des blühenden Leipzigs – der sächsischen Vorzeigestadt, in der ohnehin alles bestens läuft?
Als ich mich bei sächsischen Ministerien und Politikern über den Plan von der Chappe University erkundige, ernte ich vor allem fragende Blicke. Der Name sollte eigentlich noch geheim sein. Aber die Pläne für ein neues privates Institut gibt es schon länger.
Die Professoren gründeten ihr eigenes Institut
Die Idee für die Chappe University reifte 2013 an der Hochschule für Telekommunikation. Die ist auch in Leipzig beheimatet und wird von der Deutschen Telekom betrieben, die sich dort Nachwuchs heranzieht, um ihn möglichst schnell in den eigenen Konzern zu übernehmen. Deshalb investierte die Telekom auch nur wenig in Forschung und Wissenschaft. Die Hochschule selbst ist eine GmbH, also wie ein ganz normales Unternehmen organisiert.
Einige Professoren und Mitarbeiter der Hochschule für Telekommunikation ahnten damals, dass dieses Konzept ihr Institut ins Wanken bringen könnte. Schließlich muss jede private Hochschule in Deutschland vom Wissenschaftsrat genehmigt werden. Die Bedingung dafür ist: Es findet Lehre statt und Forschung, die wissenschaftlichen Maßstäben genügt. So jedenfalls erzählt es Michael Rode, der bei der Telekom-Hochschule gearbeitet hat. „Man hat damals erkannt, dass es wissenschaftlich so nicht weitergeht“, sagt Rode, der nicht öffentlich über die Pläne sprechen will. Deshalb habe ich seinen Namen in diesem Text geändert.
2016 gründeten die abtrünnigen Professoren deswegen ihre eigene Einrichtung, das Leipziger „Chappe Institute“. Und 2018 trat dann ein, was sie schon geahnt hatten: Der Wissenschaftsrat entzog ihrer Schule die Zulassung. In der Begründung wird auf die „starke Abhängigkeit“ von der Telekom verwiesen. Michael Rode sagt: „Es hat uns das Genick gebrochen, dass der Träger keine Hochschulstrukturen zugelassen hat.“
Die private Hochschule soll in den noblen Vorort Markkleeberg
Warum aber landete nun ausgerechnet die Chappe University in diesem Bericht? Das hat mit einem Mann zu tun, der in Sachsen eher im Verborgenen regiert. Henry Graichen steht als Landrat des Landkreises Leipzig nicht in der vordersten Reihe der Lokalpolitik. Trotzdem konnte er dem Chappe Institute helfen. Er erfuhr erstmals 2017 von den Plänen, eine private Hochschule zu eröffnen. Man habe die Idee „sehr schlüssig und realistisch“ an ihn herangetragen, sagt er – und ihn überzeugt, sich dafür politisch zu engagieren. Man habe ihn auch „gebeten, bei der Suche nach einem geeigneten Standort behilflich zu sein“, so Graichen. „Wir haben versucht, politischen Support zu kriegen“, formuliert es Michael Rode.
Graichen erkannte, dass man sich nicht die Schule selbst, aber immerhin ihre Infrastruktur von der Kohlekommission finanzieren lassen könnte. Schließlich arbeiten im Mitteldeutschen Braunkohlerevier südlich von Leipzig auch an die 2.000 Menschen. Und Sachsen suchte zu diesem Zeitpunkt gerade Ideen, die als Argumente für eine Erhöhung des Budgets der Kohlekommission dienen könnten. Er schlug die private Hochschule vor – und sorgte so dafür, dass es die Chappe-Initiative in die Ideensammlung der Kommission schaffte.
Ein möglicher Standort für die private Hochschule, die sich ausschließlich aus den Studienbeträgen ihrer internationalen Studierenden finanzieren soll, wurde auch schon genannt: die Koburger Straße 62, im schnieken Leipziger Vorort Markkleeberg.
Michael Kretschmer, warum tust du nichts für uns?
Dass man dem Kohleausstieg, der einige arme Regionen noch ärmer machen könnte, ausgerechnet mit einer Privatschule in einem wohlhabenden Vorort entgegenwirken will, wirkt bizarr. Aber dass die Schule ausgerechnet in Markkleeberg stehen könnte, würde gut passen, denn dort wurde früher Kohle abgebaut. Aus dem stillgelegten Tagebau ist ein See mit exzellenter Wasserqualität geworden. Am Ufer reihen sich die nobelsten Villen des Leipziger Lands auf. Bald könnten sich hier betuchte internationale Studierende für Technikseminare einschreiben. Und das, genau wie die Villen, als offizielles Nachfolgeprojekt der Kohleindustrie.
In Leipzig sorgt der Plan von der Chappe University mittlerweile für Ärger. Das hat mit der Erklärung zu tun, die im Bericht der Kohlekommission für die Errichtung der Privatschule angeführt wird: Es müsse das „Defizit ausgeglichen werden“, das durch die Schließung der Telekom-Schule entsteht.
Das klingt zunächst logisch. Allerdings stiftet die Telekom bereits, als Ersatz für ihre schließende Hochschule, eine neue Fakultät – und zwar an der Leipziger Technik-Hochschule HTWK. Professoren, die durch das Negativurteil des Wissenschaftsrates ihren Arbeitsplatz verlieren, können dort weiter unterrichten. Und Studierende weiterstudieren. Von der HTWK, die es – mit heute mehr als 6.000 Studierenden – seit 1992 gibt, ist im Bericht der Kohlekommission aber nichts zu lesen.
Deshalb setzte im November wiederum die HTWK-Rektorin Gesine Grande gemeinsam mit Beate Schücking, der Rektorin der Universität Leipzig, einen Brief an Michael Kretschmer auf. In dem Brief, der mir vorliegt, schreiben die Rektorinnen, sie hätten den Zwischenbericht „mit Verwunderung“ gelesen. Immerhin stehe die Gründung der neuen Stiftungsfakultät mit der Telekom kurz vor Abschluss.
Man könnte das so übersetzen: Wir gleichen hier bereits das Defizit aus. Wir tun etwas für Sachsen. Warum tust du, lieber Michael Kretschmer, dann nichts für uns? Für bestehende Strukturen? Warum wirbst du für eine Privatschule?
Man erwarte, heißt es in dem Brief weiter, „eine entsprechende Überarbeitung“ des Berichts. Auf eine Antwort von Kretschmer, so hat es mir Beate Schücking ausrichten lassen, warten die Rektorinnen bis heute.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.