Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die sächsische Verfassung gibt dem Landtag das Recht, die Anwesenheit eines jeden Regierungsmitgliedes zu verlangen. Sie, die gewählte Vertretung des Volkes, dürfen mich, den obersten Vertreter der Regierung, jederzeit zur Rede stellen. Und Sie tun das sehr gern, und in der Regel reden Sie dabei mehr als ich.
Ich bedanke mich jedenfalls für die Einladung, heute im Landtag zu Ihnen sprechen zu dürfen. Und ich freue mich, dass über die Social-Media-Kanäle Ihrer Parteien, durch die anwesenden Journalistinnen und Journalisten und offenbar auch über die Smartphones der Schülerinnen und Schüler auf den Besuchertribünen … Ja, hallo, ich meine Euch … wieder viele Bürgerinnen und Bürger in ganz Sachsen, Deutschland und der Welt an dieser Sitzung teilhaben werden.
Auch, oder gerade weil, es heute um ein Thema geht, das mir ehrlich gesagt Angst macht. Und das uns vor eine Herausforderung stellt, die wir uns nicht gewünscht haben, und die die größte unseres Lebens werden könnte. Auch, wenn sie vielen leider immer noch als nichtig oder sogar als eine Verschwörungstheorie erscheint.
„Es tut mir leid, lieber Kurt Biedenkopf, aber das war eine Fehleinschätzung.“
Sie haben mich heute in den Landtag eingeladen, um über den erstarkenden Rechtsextremismus in unserem Heimatland zu sprechen. Und welche Gegenmaßnahmen meine Regierung dagegen treffen will.
Vor genau einem Monat ist in Chemnitz ein Bürger der Stadt am Rande eines Volksfestes erstochen worden. Die Tatverdächtigen stammen aus Syrien und dem Irak und leben als Geflüchtete in Sachsen. Dieser Zusammenhang – der noch nicht bewiesen ist – löste eine Reihe von Demonstrationen aus, an denen Tausende Menschen teilnahmen. Darunter waren auch mehrere Hundert bekannte Rechtsextreme aus verschiedenen Teilen Deutschlands. Während der Demonstrationen zeigten Bürger den verbotenen Hitler-Gruß und skandierten Nazi-Parolen.
Ausländisch aussehende Bürger und Journalisten wurden bedroht, beleidigt, angegriffen und verletzt.
Delegationen bürgerlicher Parteien und Polizeibeamte im Einsatz wurden bedroht, beleidigt, angegriffen und verletzt.
Ein jüdisches Restaurant wurde demoliert, der Inhaber verletzt. Stadtteil- und Bürgerfeste wurden von ihren Veranstaltern abgesagt, weil sie ihre Sicherheit nicht mehr gewährleistet sahen – in Chemnitz! Der „Stadt der Moderne”. Einer Großstadt mit Oper, Theatern, Universität, weltberühmten Museen, hervorragenden Schulen und Sportstätten, einer Stadt mit boomender Wirtschaft!
„Wir haben das Bedrohungspotenzial und die Angst unterschätzt, die von Rechtsextremisten und ihren Verbündeten in diesem Land heute wieder ausgeht.“
Auch nach einem Monat fällt es mir immer noch schwer zu glauben, dass das wirklich so passiert ist. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was da passiert ist. Aber es ist so passiert, leider.
Chemnitz, das ist auch die Geburtsstadt Stefan Heyms, einer der großen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Heym war Jude, und er flog vom Gymnasium wegen eines Gedichts, in dem er sich über Kriegstreiberei lustig machte. Ich habe mir das Gedicht noch einmal angeschaut. Es ist noch nicht mal besonders gut. Es ist ein mittelmäßiges pazifistisches Gedicht eines Schülers.
Noch als Jugendlicher musste Heym Sachsen verlassen, weil er hier sein Abitur nicht mehr machen durfte. Erst floh er vor den Nazis nach Berlin, dann nach Tschechien. Schließlich in die USA.
Als am 1. Mai dieses Jahres 600 Neonazis durch Chemnitz marschierten, trafen sich die Gegendemonstranten auf dem Stefan-Heym-Platz. Ich war mit dabei. Damals waren wir mehr. Und das war schön.
Aber allein die Tatsache, dass wir in Deutschland wieder Rassisten beim Marschieren zuschauen müssen, die unsere Demokratie abschaffen wollen, obwohl wir doch heute das Wissen und die Erfahrung der Vergangenheit mit uns tragen – durch Menschen wie Stefan Heym – das hat mich damals zum ersten Mal so wirklich, ernsthaft gegruselt. Das fühlte sich nicht wie eine Ausnahme an.
Trotzdem habe ich nie damit gerechnet, dass es schon wenig später in Chemnitz wieder zu Jagdszenen auf Ausländer und Journalisten kommen könnte, zu Hitler-Grüßen und antisemitischen Attacken. Und dass Tausende Bürger dieser Stadt dabei zuschauen würden, ohne etwas zu unternehmen. Ohne sich zu distanzieren.
„Dem Schutz von Gruppen, die von rechtsextremer Gewalt betroffen oder bedroht sind, gilt oberste Priorität.“
Das war eine Fehleinschätzung von mir, meiner Regierung und unseren Vorgängern. Wir haben die Wut und den Hass unterschätzt, die sich in der Mitte unserer Gesellschaft breitgemacht haben.
Wir haben das Bedrohungspotenzial und die Angst unterschätzt, die von Rechtsextremisten und ihren Verbündeten in diesem Land heute wieder ausgehen. Und wir haben wiederholt antifaschistische Initiativen, die in ihren Kommunen uneigennützig wichtige Bildungs- und Sozialangebote machen, zu Unrecht verunglimpft und in eine kriminelle Ecke gezogen, in die sie nicht gehören.
Ich möchte mich als Ministerpräsident bei all denen entschuldigen, die Opfer dieser Fehleinschätzungen geworden sind. Und ich möchte mich bei all denen entschuldigen, die Opfer rechtsextremer Aggressionen geworden sind. Wo so etwas passiert, muss sich eine Regierung auch nach ihrer Mitverantwortung fragen.
In der sächsischen Verfassung, wie auch im Grundgesetz, steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” Sie kennen das. Sogar die Schüler da oben hatten das schon dran – hoffe ich. Aber der Satz geht noch weiter: „Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist Quelle aller Grundrechte.”
„Manchmal frage ich mich, was aus mir geworden wäre, wäre ich damals, Anfang der 90er in meinem Beruf geblieben?“
Quelle ALLER Grundrechte! Die Väter und Mütter unserer Verfassung haben das ganz bewusst so formuliert. Wer an der Würde EINES Menschen rührt, der rührt an den Grundrechten ALLER Menschen. Wenn Neonazis heute wieder durch unsere Innenstädte marschieren und einer Gruppe von Menschen – Ausländern, Schwulen, Juden, Muslimen, Grünhaarigen oder wem auch immer – die Würde aberkennen, sie jagen und vertreiben wollen, dann stehen die Grundrechte von uns allen auf dem Spiel.
Im Übrigen auch, und vielleicht sogar zuerst, die Grundrechte derjenigen, die mit diesen Neonazis mitlaufen, die ihnen mit angebundenem rechten Arm hinterherlaufen oder schweigend vor ihnen herlaufen.
Laut Artikel 5 der sächsischen Verfassung gehören dem Volk des Freistaates Sachsen „Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an”.
UND Bürger anderer Volkszugehörigkeit!
Man muss kein Deutscher sein, um Sachse zu sein. Man muss kein Deutscher sein, um Grundrechte zu haben.
Seit der Wende hat diese Regierung Schulen schließen und Gemeinden zusammenlegen müssen, weil die Menschen von hier weggegangen sind. Besonders der ländliche Raum hat darunter stark gelitten. Sachsen hat nach der Wende etwa 15 Prozent seiner Bevölkerung verloren! Fast jeden Tag spreche ich heute mit sächsischen Unternehmern, die sagen: Uns fehlen die Arbeitskräfte.
„Sachsen erlebt eine Phase bisher nie dagewesenen Wohlstands und Friedens. Aber manche haben dabei auch verloren. Und die haben wir vergessen.“
Heute wollen wieder Menschen zu uns kommen, und wir haben Angst, wir kriegen das nicht hin? Wir können die nicht integrieren? Heute können sich Menschen aus Sachsen, Deutschland und der ganzen Welt wieder vorstellen, hier ihre Zukunft aufzubauen, und das Bild, das wir nach außen abgeben, ist geprägt von Ablehnung? Das macht keinen Sinn. Und man muss kein Politikfuchs sein, um zu wissen, dass das keinen Sinn macht. Wir brauchen Zuwanderung! Wir sind doch selbst alle irgendwann mal Zuwanderer gewesen.
Ich habe mir in den vergangenen Tagen noch einmal die großartige Autobiografie des Chemnitzers Stefan Heym vorgenommen. Ich musste noch einmal nachlesen, wie das war, in den 20er und 30er Jahren in Chemnitz. Kann man das mit heute vergleichen? Ab wann kannte man das wahre Gesicht der Nazis? Und wer lief warum dennoch den Nazis hinterher – oder voraus?
Damals wie heute haben Rechtsextreme keinen Hehl daraus gemacht, was sie vorhaben. Damals wie heute gibt es Mitläufer, die mit den Nazis auf die Straße gehen, um sich selbst Gehör zu verschaffen. Diese Menschen nehmen im Gegenzug in Kauf, dass sie von Neonazis als ihre Gesinnungsgenossen gezählt werden. Wäre Stefan Heym heute noch am Leben, ihm käme das alles sehr bekannt vor. Er würde uns wohl daran erinnern, dass aus Mitläufern irgendwann Mittäter werden.
Einer meiner Vorgänger im Amt des sächsischen Ministerpräsidenten hat einmal behauptet, wir Sachsen sind „immun” gegen Rechtsextremismus.
Es tut mir leid, lieber Kurt Biedenkopf, aber das war eine Fehleinschätzung. Wir müssen leider sehen, dass sich der Rechtsextremismus in Sachsen wieder wie ein Virus verbreitet. Es wird Zeit, entsprechend zu handeln.
„Die Rechtsextremen sind das Symptom eines größeren Problems: der Spaltung unserer Gesellschaft in diejenigen, die vom Wohlstand profitieren können, und denen, die das nicht schaffen.“
Die sächsische Verfassung weist mir als Ministerpräsidenten die Aufgabe zu, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Nach den Vorkommnissen von Chemnitz können wir nicht einfach so weitermachen. Es muss von nun an zu den vordersten Aufgaben dieser Regierung gehören, die Feinde unserer Verfassung und unserer Grundrechte mit allen Mitteln zu bekämpfen, die uns der Rechtsstaat zur Verfügung stellt.
Wir haben bereits mit integrierten Ermittlungsgruppen innerhalb der Strafverfolgungsbehörden Schnellverfahren gegen die Täter von Chemnitz einsetzen können, sodass rechtsextreme Straftäter die Härte des Gesetzes unmittelbar zu spüren bekommen. Wenn ein Hitler-Gruß plötzlich nicht mehr irritierte Blicke, sondern ein paar Tausend Euro Strafe oder gar Gefängnis bedeutet, ist das hoffentlich schon mal ein deutlicher Schuss vor den Bug.
Ich habe darüber hinaus in Gesprächen mit den Ministerien des Inneren und der Justiz vereinbart, dass sämtliche offene Haftbefehle gegen Rechtsextreme zu vollziehen sind. Des Weiteren sind die Waffen und Waffenscheine bekannter Rechtsextremer einzuziehen. Außerdem gilt dem Schutz von Gruppen, die von rechtsextremer Gewalt betroffen oder bedroht sind, oberste Priorität. Polizeikräfte werden vorrangig und nach Absprache mit lokalen Bürgervertretern zu deren Schutz abgestellt. Auch, wenn deshalb das eine oder andere Fußballspiel verschoben werden muss.
Der Etat des Landesprogramms „Weltoffenes Sachsen”, aus dem Demokratie- und Kulturarbeit gefördert wird, wird aus Steuermehreinnahmen um jährlich fünf Millionen Euro aufgestockt und damit verdoppelt. Die Bewerbungsmodalitäten sollen weiter vereinfacht werden. Alle Ministerien sind zudem aufgefordert, ihre eigenen sozialen Kanäle dafür zu nutzen, das Angebot dieser Förderung noch bekannter zu machen, insbesondere in den kleineren Kommunen nochmal ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen. Ziel ist es, die Zahl von aktuell 90 geförderten Projekten bis zum Ende der Legislaturperiode zu verdoppeln.
Die Staatsregierung wird diesem Haus zudem noch in diesem Jahr einen Gesetzesentwurf vorlegen, der die sächsische Polizei unter parlamentarische Kontrolle stellt und eine neutrale Beschwerdestelle für Bürger wie auch für Beamte schafft. Die bisherige Lösung, mit dem Innenministerium als Dienstherrn und Kontrollinstanz, entspricht nicht mehr internationalen Maßstäben an transparentem Handeln.
„Warum haben wir, die Politiker dieses Landes, das bisher nicht ernst genommen?“
Die Staatsregierung wird diesem Haus außerdem noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf vorlegen, der sich mit einer Reform des Verfassungsschutzes unseres Landes beschäftigt, insbesondere unter Berücksichtigung der Erkenntnisse, die die Untersuchungsausschüsse im Zusammenhang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund gesammelt haben.
Je größer unser Wissen über die Welt wird, desto offensichtlicher wird auch unsere Ignoranz. Das hat Kennedy gesagt.
Und unser Wissen über die Welt wächst so schnell wie nie zuvor, unser Leben ändert sich so schnell wie nie zuvor. Nicht jeder kann mit dieser Entwicklung Schritt halten. Diese Entwicklung verläuft mitunter so schnell, dass für manche Menschen die Zukunft zur Vergangenheit wird.
Ich weiß nicht, ob sie das wussten, aber ich habe eine Berufsausbildung zum Büroinformationselektroniker abgeschlossen. Das war 1995, da war ich 20 Jahre alt. Damals speicherte man Sachen noch auf Disketten ab. Floppy Discs. Das klingt wie ein Witz heute. Kann sich jemand von Ihnen erinnern, wann er das letzte Mal eine Diskette in der Hand hatte? Die Schüler oben auf der Tribüne fragen sich wahrscheinlich gerade, wovon der alte Mann da spricht.
Ich habe gelernt, Faxgeräte, Diktiergeräte und Registrierkassen zu reparieren. Das alles gibt es nicht mehr. Den ganzen Ausbildungsberuf des Büroinformationselektronikers, der damals noch ganz neu war, gibt es heute nicht mehr. Heute laufen Sie in ein Büro, und da sitzt eine Gruppe Zwanzigjähriger mit ihren Laptops und Latte Macchiatos und spielt in der Mittagspause kabellos mit größeren Datenmengen herum, als zu meiner Zeit in eine ganze Lagerhalle mit Starkstromanschluss gepasst hätte.
Sachsen ist eine der Regionen, in denen Enormes dafür geleistet wurde, damit diese neuen Technologien unser Leben heute erleichtern und bereichern. Wir sind aber auch eines der Länder, in denen nicht alle Menschen von diesem Fortschritt profitiert haben.
Manchmal frage ich mich, was ich heute machen würde, wäre ich damals, Anfang der 90er Jahre in meinem Beruf geblieben?
Wenn ich damals nicht jung und ungebunden genug gewesen wäre, meinen Hochschulabschluss nachzuholen und zu studieren?
Wenn ich es mir damals nicht hätte leisten können zu studieren? Wenn ich damals vielleicht die falschen Freunde gehabt hätte, den Rückhalt meiner Familie nicht gehabt hätte?
Vielleicht säße ich dann heute – ein Mann im besten Alter – im Hinterzimmer eines Handyladens in Görlitz und würde kaputte Smartphone-Bildschirme austauschen. Vielleicht wäre ich auch gerade aus einer unserer großen Maschinen- oder Waggonbaufabriken meiner Heimatregion entlassen worden, weil diese ihre Arbeitsplätze ins billigere Ausland verlegt haben.
Deutschland und Sachsen erleben eine Phase bisher nie dagewesenen Wohlstands und Friedens. Aber manche haben dabei auch verloren. Und die haben wir vergessen. Die Alters- und die Kinderarmut ist gestiegen. Und trotz des Aufschwungs sind die vielen jungen Menschen, und vor allem die jungen Frauen, die in den Jahren der wirtschaftlichen Krise in den Westen gezogen sind, eben nicht wiedergekommen.
Gleichzeitig hat sich eine Schicht der Gesellschaft abgekehrt und isoliert, weil wir ihr die Möglichkeit zur Teilhabe erschwert haben. Darunter sind besonders viele Männer meiner Altersgruppe. Und wir wissen aus Studien, dass es genau diese Menschen sind, die sich nun rechtsextremen Parteien und Slogans zuwenden. Die Rechtsextremen sind weder das eigentliche Problem, noch können sie zu dessen Lösung beitragen.
Die Rechtsextremen sind lediglich das Symptom eines größeren Problems: Der Spaltung unserer Gesellschaft in diejenigen, die vom Wohlstand profitieren können, und denen, die das nicht schaffen.
Es reicht nicht, die Arbeitslosenzahl von fünf Prozent im Auge zu haben und zu denken: Ist doch alles gut! Es reicht nicht, auf die schön sanierten Marktplätze und die neuen Autobahnen zu zeigen und zu fragen: Was habt ihr denn bloß?
Ja, der allgemeine Trend zeigt nach oben. Aber für einen Teil unserer Bevölkerung zeigt er seit Jahren nach unten. Das sind vor allem die Älteren, es sind vor allem die Alleinerziehenden, es sind vor allem die Männer, es sind vor allem diejenigen mit niedrigen oder entwerteten Bildungsabschlüssen.
Diese Leute, die in Chemnitz auf die Straße gehen, die gehen deshalb auf die Straße, weil sie sich seit geraumer Zeit von NIEMANDEM hier in diesem Landtag vertreten fühlen. Von keiner Partei hier, und auch nicht von dieser Regierung. Diese Leute, die in Chemnitz auf die Straße gegangen sind, haben sich von Neonazis instrumentalisieren lassen, damit wir hier merken, dass es sie überhaupt noch gibt: die Verlierer der Wende, die Verlierer der Globalisierung und Digitalisierung. Dabei kennt doch jeder hier, wenn nicht aus seinem eigenen Bekanntenkreis, dann doch wenigstens aus seinem Wahlkreis, genügend solcher Schicksale, und weiß, wie schnell es gehen kann, wie schnell man auf dem Abstellgleis landen kann. Wie konnten so viele Menschen aus dem Blickfeld unserer Politik geraten?
Ich möchte aus einer Rede Stefan Heyms zitieren, die er 1994 als Alterspräsident des Deutschen Bundestages gehalten hat:
„Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenen Lande. West – Ost. Oben – Unten. Reich – Arm. Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht, weil jeder als erstes nach den materiellen Vorteilen geschaut hat, die die Sache ihm bringen würde. Den einen Märkte, Immobilien, billigere Arbeitskräfte, den andern, bescheidener, harte Mark und ein grenzenloses Angebot an Gütern und Reisen.
Zuwenig wurde damals nachgedacht über die Chancen, die durch die Vereinigung unterschiedlicher Erfahrungen, positiver wie negativer, sich für das Zusammenleben und die Entwicklung der neuen alten Nation ergeben könnten und, wie ich hoffe, noch immer ergeben können.
Die gewaltlose Revolution vom Herbst 1989 hat den Menschen der alten Bundesländer Möglichkeiten zur neuen Expansion gebracht und denen der Ex-DDR Rechte und Freiheiten, die keiner von ihnen mehr missen möchte und die, ich betone das ausdrücklich, sie sich selber erkämpften.
Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Der gesicherte Arbeitsplatz vielleicht, die gesicherte berufliche Laufbahn, das gesicherte Dach überm Kopf? Nicht umsonst protestieren ja zahllose Bürger und Bürgerinnen der Ex-DDR dagegen, dass die Errungenschaften und Leistungen ihres Lebens zu gering bewertet und kaum anerkannt oder gar allgemein genutzt werden. Unterschätzen Sie doch bitte nicht ein Menschenleben, in dem trotz aller Beschränkungen das Geld nicht das all entscheidende war. Der Arbeitsplatz ein Anrecht von Mann und Frau gleichermaßen. Die Wohnung bezahlbar und das wichtigste Körperteil nicht der Ellenbogen.”
Zitat Ende. Wie prophetisch diese Worte heute wirken!
Kein Land, das eine solche Geschichte hat wie Deutschland, das eine so bedeutende wirtschaftliche Stellung hat wie Deutschland, und das eine solche Vorbildrolle für andere Länder hat und auch in Zukunft behaupten will, kann sich erlauben aufzuhören, über die Zukunft nachzudenken.
„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat. Es kommt darauf an, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“
Die Krise, in der wir heute stecken, ist keine zyklische, die kommt und geht.
Sie ist eine strukturelle, eine, die ihre eigene Dynamik entwickelt und die weltweit die Errungenschaften der Demokratie bedroht: in den USA, in Russland aber auch vor unserer Haustür in Polen und Ungarn.
Von Sachsen aus hat sich Deutschland, hat sich Europa schon mehrfach erneuert. Von hier ging die Reformation aus. Hier wurde die Sozialdemokratie groß. Hier wurden die ersten Genossenschaften und Versicherungen gegründet. Von hier ging die friedliche Revolution von 1989 aus.
Im Moment spüren wir auch die politische, die gesellschaftliche Krise, in der Deutschland steckt, hier am deutlichsten. Auch, weil nach der Wende hier Bedingungen entstanden sind, die diese Krise verstärken. Welcher Ort, welche Menschen wären also besser geeignet, sich die Lösungen für diese Krise auszudenken, als Sachsen, als wir?
Ich möchte Ihnen, liebe Mitglieder des Landtages vorschlagen, eine Enquete-Kommission einzusetzen, die sich damit beschäftigt, wie der soziale Frieden in unserem Land wiederhergestellt werden kann. Dies ist ein Prozess, der nicht von der Regierung ausgehen kann, sondern der von unten anfangen muss, an den Wurzeln. Alle Macht geht vom Volk aus. Und der Landtag repräsentiert dieses Volk.
Aus dem Sachsen-Monitor, einer repräsentativen soziologischen Studie, die diese Regierungskoalition in Auftrag gegeben hat, wissen wir bereits seit mehreren Jahren, dass sich drei Viertel aller Sachsen mehr Beteiligungsmöglichkeiten an den politischen Entscheidungen ihrer Kommunen wünschen. Warum haben wir, die Politiker dieses Landes, das bisher nicht ernst genommen? Ergibt sich daraus nicht ein klarer Auftrag?
„Für mich und mein Heimatland gilt: Der Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen Extremismus jeder Art, ist eine ganz zentrale Aufgabe, und wir stellen ihr uns jeden Tag, und wir werden es in Zukunft noch viel mehr machen!“
Die Enquete-Kommission aus Mitgliedern aller Parteien sollte einen beispielhaften Prozess entwickeln, in den die Wünsche und Bedürfnisse so vieler Bürger wie möglich in Zukunft systematisch einfließen können. Es soll dabei keine Denkverbote und Parteigrenzen geben. Es sollen dabei Ideen aus der Bürgerschaft aufgegriffen werden. Wir selbst haben doch schon einmal bewiesen, dass wir das können. Viele der heute hier Anwesenden waren selbst dabei.
Eine der beeindruckendsten Leistungen der friedlichen Revolutionäre in der zu Ende gehenden DDR war die ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das war ein absolut basisdemokratisch organisierter Prozess. Man hat kleine Büros gebildet und flächendeckend in alle Kirchgemeinden hinein das Signal gesendet: Schreibt uns eure wichtigsten Probleme. Schreibt uns Lösungsvorschläge. Praktische Umsetzungsmöglichkeiten für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – die großen Menschheitsthemen.
Es sind damals über 12.000 qualifizierte Einsendungen eingegangen, die sind gesichtet, geordnet, geclustert, in einem ganz basisdemokratischen Prozess ausgewertet worden. Nichts hat der Stasi damals mehr Angst gemacht als das.
Ich habe das damals, zur Wendezeit, alles nicht gewusst. Ich war damals 14 Jahre alt. Heute frage ich mich, wie unser Land aussähe, hätten wir damals die Zeit und die Möglichkeit gehabt, die Wiedervereinigung in Ruhe zu planen, so schön ordentlich und sauber, wie man eine Schreibmaschine reparieren kann, damit wieder jeder Buchstabe im Alphabet zur Geltung kommt. Wir hatten damals nicht die Zeit. Und es wurden auch Fehler gemacht.
Aber je größer unser Wissen wird, desto offensichtlicher wird unsere Ignoranz. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir aus unseren Fehlern lernen können. Denn es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat. Es kommt darauf an, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.
Lasst uns gemeinsam klüger werden! Lasst uns gemeinsam die Zukunft gestalten, in der wir leben wollen, bevor sie zur Vergangenheit wird. Aber wir müssen endlich anfangen! Ein „Weiter so!” kann es nicht geben.
Für mich und mein Heimatland gilt: Der Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen Extremismus jeder Art, ist eine ganz zentrale Aufgabe und wir stellen ihr uns jeden Tag, und wir werden es in Zukunft noch viel mehr machen!
Redaktion: Josa Mania-Schlegel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Wikipedia / RalfR)