Dem Osten ist unrecht getan worden

© Edmund Artmal Kundratek

Politik und Macht

Kommentar: Dem Osten ist unrecht getan worden

Nach den Tagen in Chemnitz hat Edmund Artmal Kundratek diesen Text auf Facebook geschrieben. Kundratek macht es uns Lesern – aus dem Westen und Osten – nicht leicht. Man nickt zustimmend in der einen Zeile, nur um gleich danach mit Wucht widersprechen zu wollen. Aber der Text rührt an den Wurzeln. Genau deswegen veröffentlichen wir ihn hier.

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Dieses Land hat eine historische Chance verspielt.

Der optimistische Idealismus, der die Revolution getragen hatte, die uns die deutsche Wende und die Wiedervereinigung einbrachte, war willens, die befreite Gesellschaft aktiv neu zu gestalten, wurde aber im triumphalen Siegesrausch des Westens einfach überrollt.

Eine sächsische Bürgerrechtlerin aus Coswig, die unter wagemutigem Einsatz zur Wende beigetragen hatte – also eine derjenigen, die in so vielen Sonntagsreden und schwülstigen Dokumentationen vereinnahmt wurde –, erzählte mir, sie habe damals Kohl in Dresden „blühende Landschaften“ versprechen hören und weinen müssen – aber nicht vor Freude.

Im Westen kennt kaum einer die Erfahrungen, die das Leben beinahe jedes Ostdeutschen geprägt haben.

Wie so oft in Deutschland, wird auch in diesem Zusammenhang für blinde und platte Argumentiererei gern die Autobahn angeführt: Jeder Wessi scheint die ach so wunderbaren ostdeutschen Autobahnen zu kennen, aber keiner kennt die Städte und Dörfer – geschweige denn die Menschen, die dort wohnen: Den gut ausgebildeten Arbeiter zum Beispiel, der nach jahrzehntelangem Arbeitsleben in der Metallindustrie mitsamt tausender Mitarbeiter einfach entlassen wurde, weil die Treuhand seinen Betrieb schlichtweg einstampfte und die Reste den schwäbischen Profiteuren hinwarf, die ihr Glück gar nicht fassen konnten, während der Entlassene sich seitdem von seiner mageren Abfindung zehrend durch die Arbeitslosigkeit schleppen muss.

Oder den studierten Englischlehrer aus dem thüringischen Greiz, der in der DDR über Jahre an einer Leipziger Wirtschaftsschule Englisch unterrichtete, bis sie in der Nachwendezeit geschlossen wurde. Bei allen Bewerbungen mit der Frage konfrontiert, ob er denn schon einmal Zeit im englischsprachigen Ausland verbracht habe, ist er seitdem arbeitslos und muss von seiner kümmerlichen Rente leben, während ihn seine sich stetig verschlechternde Gesundheit noch dazu weiter finanziell unter Druck setzt.

Dem Westen geht es in der Mehrheit viel besser – das durchschnittliche Nettovermögen in den reichsten Bundesländern Bayern, Baden-Württemberg und Hessen ist ein Vielfaches dessen, was Ostdeutsche sich zusammensparen konnten.

In diesem anderen, diesem satten, diesem im Glanze seines Glückes blühenden Deutschland kennt kaum einer die Kleinstädte und Dörfer im Osten, in denen der graubraune Farbton der bröselnden Rauhputzfassaden den Bewohnern die vertraute Kulisse des Alltags ist.

Die ostdeutsche Provinz, das sind für die Mehrheit der Westdeutschen böhmische Dörfer. Wer im Stuttgarter Speckgürtel oder in Schwabing kennt die Kleinstädte, aus denen beinahe alle Jungen geflohen sind und in denen fast alle Einrichtungen, die ein bürgerliches Gemeinwesen benötigt, längst geschlossen wurden?

Keiner im Westen will die Ostdeutschen verstehen

Kaum einer im Westen kennt sie, weil die westlich dominierten bundesdeutschen Medien davon größtenteils schweigen und viele Ostdeutsche ihre Herkunft verschämt verschweigen, weil man im Westen nur über Ostdeutsche lachen will, weil man sie nicht verstehen will, weil man sie gar nicht teilhaben lassen will.

Diese Arroganz des Westens, dieser Mangel an Verständnis und Verständigung, diese andauernde Demütigungen eines einstmals kulturell und wirtschaftlich zentralen Teils unseres Landes haben den Graben durch die Republik nur immer weiter aufgerissen, haben uns einander immer weiter entfremdet.

Der große Teil des Ostens ist nie in der Bundesrepublik angekommen, weil (ohne hier mit dem schändlichen Hetzer Sarrazin sprechen zu wollen) die Wende eine feindliche Übernahme war, weil man das Gefühl hatte, bei allen Richtungsentscheidungen übergangen zu werden und nie mit Wertschätzung in den neuen Staat eingegliedert worden zu sein.

Ja, in den ersten Wahlen nach der Wende siegte Kohl und seine Richtung. Aber seine Wahl gründete auf falschen und später schamlos gebrochenen Versprechungen.

Der Ostdeutsche ist der Vergessene, der auf weiter, dunkler Terra incognita Verschollene, der nicht Meister seines Schicksals ist, nicht Schmied seines Glückes und an dem bisher alle Zeit vorübergegangen ist, ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen.

Die östlichen Bundesländer und damit auch das Land Sachsen wurden also entweder nicht beachtet oder lächerlich gemacht, obwohl Deutschland ohne den kulturellen Beitrag dieser Gebiete gar nicht zu denken ist.

In den überregionalen Medien hatten die Ostdeutschen keine vernehmbare Stimme, Berichte aus dem Osten kamen meistens von westdeutschen Journalisten und glichen Expeditionsberichten aus fernen und lichtlosen Gefilden.

Zu einer gemeinsamen, neuen Gesellschaft ist es nie gekommen

Die tiefe Entfremdung, die viele jetzt erst zu bemerken scheinen, besteht schon viel länger – oder genauer gesagt: Zu einer Vereinigung, zu einem tatsächlichen verständnisinnigen Übergang in eine gemeinsame, neue Gesellschaft ist es nie gekommen.

Zum Teil wurden die Stimmen des Ostens aus dem gesamtdeutschen Diskurs ausgeschlossen (wohl mehr aus Unkenntnis denn aus Vorsatz), zum anderen Teil führte aber auch das fortgesetzte Gefühl der Fremdheit dazu, dass sich die Ostdeutschen immer weniger darum bemühten, Teil des Diskurses und aktive Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden. Die Enttäuschung wuchs, als die Landschaften nicht aufblühten und man davon auch immer weniger redete, weil die Sache für den Westen mit den Autobahnen längst abgehakt war.

Immer, wenn sich Stimmen aus dem Osten melden, die diese Zustände beklagen, die eine wirkliche Wiedervereinigung fordern, die zum Beispiel mit Lohnangleichungen einhergehen müsste, dann kommt aus dem Westen unweigerlich die unwirsche Antwort, die Wende sei nun doch schon so lang her, es gebe keine Unterschiede mehr, das ganze Thema habe längst keine Relevanz mehr – das kann nur sagen, wer im Westen sitzt und von der Wende sowieso nur vorwiegend aus der Zeitung und dem Fernsehen erfahren hat. Mit welchen tiefgreifend existenziellen Konsequenzen diese geschichtlichen Umwälzungen durch so viele Leben gepflügt sind, kommt diesen Bilderbuch-Deutschen gar nicht zu Bewusstsein.

Warum nun ist die Neue Rechte im Osten so stark? Zuerst einmal der wirtschaftlichen Lage wegen – und das ist auch der Grund, wieso die Wende eben doch immer noch höchst relevant ist.

Die weisen westlichen Apostel können sich ihre Illusionen über den freien Westen aus dem Kopf schlagen und ihre Fantasien über eine rechte Veranlagung der Ostdeutschen gleich mit: Wäre der Westen nicht so satt, stünde es wirtschaftlich um den Westen, wie es um den Osten steht – die Wahlergebnisse für die AfD gingen ebenso in die Höhe (und selbst im reichen grünregierten Baden-Württemberg blieb die AfD 2017 in mehreren Wahlkreisen nur ganz knapp unter den 20 Prozent).

Und außerdem ist mittlerweile die AfD im Osten die Partei, die als einzige einen andauernden, wirklich flächendeckenden und aktiven Wahlkampf betreibt.

Und sie ist auch die einzige Partei, die dem Ostdeutschen auch auf Bundesebene mit Wertschätzung begegnet.

Sie öffnet dem einfachen Ostdeutschen erstmals die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, sie bietet die Stoßrichtung hin zu einer aktiven Einflussnahme auf das eigene Geschick, sie erzählt dem Verschollenen endlich von Stolz und hört auf seine Sorgen, die er sich macht, weil sich die Welt um ihn immer schneller wandelt und er nicht gefragt wird.

Und die AfD nährt diese Sorgen. Sie lässt sie hochkochen und bietet die pseudowissenschaftlich und pseudoargumentativ konsolidierten Feindbilder, gegen die all der jahrzehntelang aufgestaute Frust endlich ein Ventil findet. Endlich hat man nicht mehr das Gefühl, sich immer anstrengen zu müssen, zu schweigen, sich zu verbiegen, um anzukommen, um aufgenommen zu werden.

Auch der radikale Kern der Heimatvertriebenen ist nie angekommen

Bezeichnenderweise tut sich bei der AfD und im weiteren rechten Lager eine andere Gruppe hervor, die sich auch immer fremd gefühlt hat in diesem Land: Die Heimatvertriebenen aus dem ehemals deutschen Osten und deren Nachkommen. Eine Gruppe, deren radikaler Kern nie ganz auf dem gestutzen bundesdeutschen Staatsgebiet und in der liberalen Demokratie angekommen ist. Man wünschte sich immer zurück in die Heimat, die es nicht mehr gab, zurück in eine für immer vergangene, verklärte Vergangenheit. Daher rührt zum Teil dieser jetzt plötzlich hervorbrechende, aber nur offenbar werdende Radikalismus bei Höcke, bei Kubitschek, bei Steinbach. Dort hat er seine Wurzeln.

Entschuldigt also jetzt all das Dargelegte diejenigen, die in zünftigem, gutem altem Furor teutonicus verbissenen Hass auf die Straße tragen und am liebsten sofort alles zerschlagen würden, was ihnen nicht passt?

Nein, niemals.

Aber wenn man sich all dessen bewusst ist, mag es leichter fallen nachzuvollziehen, warum so viele (aber beileibe nicht alle Ostdeutschen!) sich von rechten Seelenfängern und Kulturfeinden verführen lassen oder mit ihnen liebäugeln.

All die Ungerechtigkeiten anzuerkennen und zu versuchen geradezubiegen, was geradezubiegen ist, wäre die Grundlage einer ehrlicheren, einer neuen Politik.

Und eine neue Politik ist nötig – bitter nötig, brennend nötig –, wenn man den Osten nicht ganz für unsere Demokratie und für unseren Rechtsstaat verlieren will.


Redaktion: Christian Gesellmann; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel; Aufmacherbild: Edmund Artmal Kundratek.