Wir haben in den vergangenen Wochen bei Krautreporter etwas gewagt. Das Wagnis, das vor nicht allzu langer Zeit gar keines war, bestand darin, einen Begriff zu verwenden, den viele nicht mehr hören wollen: Wir haben von „Ostdeutschland“ gesprochen.
Würde dieser Text in einer sächsischen oder einer thüringischen Lokalzeitung erscheinen, er könnte hier aufhören. Jeder und jede Ostdeutsche weiß, dass „Ostdeutschland“ sagen schnell überheblich, oft sogar beleidigend rüberkommt.
Wir sind keine sächsische Lokalzeitung. Daher haben wir unsere Leser gebeten zu erklären, was der Begriff „Ostdeutschland“ für sie bedeutet.
Ostdeutschland? Weg damit!
„Hat immer einen Hauch des Von-oben-herab-Blickes“, sagt unser Leser Max. Und Sandra meint: „Es hat einen negativen Touch.“ Das sind erst einmal Gefühle, aber in Ordnung. Sophia wird da schon konkreter: „Leider hat der Begriff Ostdeutschland nahezu immer einen negativen Beigeschmack“, sagt sie, „ich fühle mich oft beleidigt, wenn meine Freunde mich als Ossi bezeichnen – obwohl wir doch alle um die Wendezeit geboren sind und keinen direkten Bezug mehr dazu haben.“
Das ist also die eine Seite, es geht um Ausgrenzung. Sagt jemand „Ostdeutschland“, bekommen manche das Gefühl, sie würden nicht richtig dazugehören. Diese Stigmatisierung funktioniert so gut, dass der Begriff auch als Schimpfwort taugt. Sogar in meiner Umfrage, wenn mein Leser Paul meint: „Einige Sachsen haben den Begriff verdient!“
Gut, dann weg damit! Wir sagen nie wieder Ostdeutschland, „das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt“, schreibt mir auch ein Leser. Oder?
Der Idee, den Begriff aufzulösen, steht allerdings das Statement einer anderen Leserin gegenüber, die meint: „Das sagen nur Leute, die aus dem Westen kommen und nicht über ihre eigene Perspektive hinwegkommen. Manifeste Unterschiede zu leugnen, das bringt doch auch nichts.“
„Dann müssen wir auch Westdeutschland sagen“
Wer sich gegen den Begriff Ostdeutschland wehrt, könnte man meinen, täuscht damit also über Ungerechtigkeiten hinweg. Dass sich eine solche Haltung auch ändern kann, wenn man erst mal auf der anderen Seite steht, bescheinigt Leserin Leonie: „Ich bin Wessi und fand die Kategorisierung am Anfang bescheuert“, schreibt sie mir. „Jetzt, nach 13 Jahren in Sachsen, spreche ich selbst von ‚drüben‘“.
Ostdeutschland zu sagen, ist also eine ziemlich zweischneidige Sache. Klingt es für die einen nach Ausgrenzung, wollen es andere erst recht hören – damit die Unterschiede nur nicht totgeschwiegen werden. „Ich finde, dass es noch immer Unterschiede zwischen Ost und West gibt – und diese verschwinden nicht, nur weil man nicht mehr Ostdeutschland sagt“, meint Rebekka. Nicht mehr Ostdeutschland zu sagen, „das würde die Realität verleugnen“, meint Amy.
Also, was tun? Zwei Ideen:
Marie schlägt vor: „Wir müssen zuerst die Gegebenheiten verändern, alles andere wäre unehrlich.“
Okay, das klingt einleuchtend. Aber doch etwas utopisch. Und vielleicht sind ja auch gar nicht alle Unterschiede schlecht? Dazu später mehr und an dieser Stelle zunächst der zweite Vorschlag, über den ich mich besonders gefreut habe, weil ich ihn so noch nie gehört habe:
Clara macht das Angebot, dass man gerne weiter von Ostdeutschland sprechen könnte, „wenn man dann auch konsequent von Westdeutschland spricht, um den Osten nicht als Abweichung von der Norm zu kennzeichnen, sondern zu beschreiben, dass Deutschland nun mal aus zwei Teilen zusammengewachsen ist – oder immer noch versucht zusammenzuwachsen.“
Ostdeutschland – ein Fünkchen Stolz
Ostdeutschland, Westdeutschland, kein Deutschland mehr? Einverstanden wäre damit wohl auch Anne, die meint: „Solange man in nahezu jeder einzelnen statistischen Deutschlandkarte den Verlauf der Mauer ablesen kann, hat der Terminus seine Berechtigung.“ Sie würde erst aufhören, Ostdeutschland zu sagen, „wenn die Verhältnisse irgendwann vergleichbar sind – und das werden sie voraussichtlich nie.“
Es gibt da also auch ein Fünkchen Stolz auf den Begriff Ostdeutschland. Manche haben Gefallen daran gefunden, Ostdeutschland zu sagen, etwa um sich der eigenen Identität gewahr zu werden. Das gilt sogar für Zugezogene wie Olivier: „Ich verwende den Bezug selbst gerne und grenze mich selbst vom Westen ab“, schreibt er, „und das, obwohl ich gebürtiger Schweizer bin.“
Wenn also auf nahezu jeder Deutschlandkarte weiterhin eine Grenze zwischen Ost und West verläuft, die sogar für Schweizer sichtbar ist, dann bleibt doch die Frage, wo diese Grenze verläuft. Wo knallt die deutsch-deutsche Unterschiedlichkeit aufeinander? Und ist das überhaupt immer nur schlecht?
Die brummende Wirtschaft, RB Leipzig, gute Bäcker
Ich habe meine Leser gebeten zu erzählen, was ihrer Meinung nach in Sachsen gut läuft und was in Sachsen mies läuft. Sachsen, weil hier alles, was den Osten ausmacht, zusammenkommt. Weil hier die Konflikte, die auch in Thüringen oder Brandenburg existieren, erst hochkochen. Es folgen die drei am häufigsten genannten Punkte.
Was läuft gut in Sachsen?
1. Die Wirtschaft. Ein Leser erklärt die brummende Wirtschaft damit, dass man in Sachsen „nicht so viel reden, sondern machen“ würde. Eine Leserin hebt „den kleineren Mittelstand“ hervor, der sich „regelmäßig neu erfindet und tolle Produkte auf den Markt bringt“.
2. Der gesellschaftliche Zusammenhalt. Leserin Jette beobachtet „die Unterstützung engagierter Menschen untereinander“. Elga schätzt besonders „das Miteinander“ der Sachsen.
3. Leipzig, wo es „Raum für kreative Entfaltung“ gibt, wie Lisa meint. Anne nennt „die bunte und offene Kulturszene Leipzigs“, Clemens einfach nur: „RB Leipzig“.
Und sonst? Luise schreibt über Sachsen: „Es gibt ’ne Menge guter Bäcker.“ So viel Gutes. Was läuft da eigentlich mies in Sachsen?
„Unzufrieden mit … was auch immer“
1. Unser Image. Laurentia erzählt, sie sei deswegen „immer wieder gezwungen, meine Heimatstadt zu verteidigen“. Leser Dennis sieht den Grund für das Image der Sachsen in der „schlechten Wahrnehmung in den Medien“.
2. Rechtsextremismus: Leserin Evelyn bemängelt, dass „Fremdenfeindlichkeit gesellschaftlich akzeptiert ist“ und merkt an: „wobei ich das zugegebenermaßen nicht mit anderen Bundesländern vergleichen kann“. Richard meint, es gebe „viele unpolitische Bürger, die sich für ein offeneres Sachsen engagieren könnten“.
3. Die Stimmung im Land. Damit meint etwa Marie „die wachsende Anzahl an Menschen, die schlicht und ergreifend unzufrieden sind mit … was auch immer!“ Eine Leserin schlägt vor: „Man müsste nur die Zufriedenheit der Sachsen stärken – damit wären viele Probleme gelöst“.
Und sonst? Anna sagt: „Mich nervt die Aggressivität im Straßenverkehr.“
Hört auf, uns Ossi zu nennen!
Es mag sein, dass manche Unterschiede zwischen Ost und West nie weggehen. Manche zu Recht nicht, weil sie charmant sind, wegen ihnen wird man stolz von Ostdeutschland sprechen. Andere gehen nicht weg, obwohl sie unerwünscht sind. Dann wird man vorhalten: Hört auf, uns dafür Ossi zu nennen!
Wie lässt sich das lösen? Vielleicht gar nicht. Und vielleicht ist es ja die Diskussion über Begrifflichkeiten selbst, die der Verschmelzung von Ost und West – dort, wo es nötig ist – auf die Sprünge hilft.
Zuletzt eine Vision meines Lesers Matthes: „Ich finde“, sagt er, „dass man den Begriff nicht verbieten, sondern einen Paradigmenwechsel vorantreiben sollte: Das heißt, Ostdeutschland lediglich als geografische Bezeichnung zu verstehen.“
Nur eine Himmelsrichtung?
Tatsächlich schlug mir letztlich jeder zweite Leser vor, man solle eben anfangen, Ostdeutschland als Himmelsrichtung zu verstehen. Der schwierige Begriff, finden sie, sollte nur noch eines meinen: östlich in Deutschland.
Sven: „Ich finde Begriff genauso angebracht wie West-, Nord- und Süddeutschland.“
Textkunst: „Wenn wir damit ungebildet, arbeitslos und rechts meinen, finde ich das auch daneben. Aber als regionale Bezeichnung völlig zulässig.“
Marie: „Wären die Kontraste zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands nicht mehr relevant, wir würden mit Ostdeutschland tatsächlich nur eine Himmelsrichtung assoziieren.“
Redaktion: Christian Gesellmann. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: iStock / MarekKijevsky).