Ignorieren reicht nicht – es gibt einen klügeren Weg, auf den „Vogelschiss“ der AfD zu reagieren

© Martin Gommel

Politik und Macht

Ignorieren reicht nicht – es gibt einen klügeren Weg, auf den „Vogelschiss“ der AfD zu reagieren

Die AfD sagt Dinge über die deutsche Geschichte, die unerhört sind – aber bei einigen Wählern verfangen werden. Denn die Partei macht sich einen allzu menschlichen Impuls zunutze. Darauf gibt es bessere Antworten als Ignorieren und Empören.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Alexander Gauland, Fraktionsvorsitzender der Alternative für Deutschland im Bundestag, sagte am 2. Juni 2018 in Seebach, Thüringen:

Wir haben eine ruhmreiche Geschichte. Daran hat vorhin Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre. (Applaus) Und nur, wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte. (Applaus)

Dieses Zitat hat wieder heftige Reaktionen ausgelöst: Eine Ansicht, die Gauland vor ein paar Mitgliedern der AfD-Jugendorganisation kundtat, erreicht durch den Medienwirbel Millionen Menschen in der Republik. Dahinter steckt Kalkül der AfD, sie macht sich die Mechanismen moderner Medien zu nutze. Deswegen glauben einige, dass die beste Reaktion wäre, solche Aussagen einfach zu ignorieren. Aber wer sich Gaulands Zitat ganz genau anschaut, stellt fest, dass das vielleicht auch die gefährlichste Reaktion wäre. Denn so kann die AfD ohne Widerspruch die deutsche Geschichte verfälschen und umdeuten – und damit plötzlich für uns alle mitbestimmen, was es heißt, in diesem Land zu leben. Die Analyse zeigt: Es gibt eine bessere Antwort.

Lasst uns das Zitat Satz für Satz durchgehen.

1. „Wir haben eine ruhmreiche Geschichte“

Die AfD will, dass die Deutschen anders auf ihre Geschichte blicken. Anstatt die Weltkriege und den Holocaust in den Mittelpunkt zu stellen und deswegen vor allem über Tod und Täter zu sprechen, wollen sie, dass Deutsche stolz sein können auf ihre Geschichte. Das ist das Ziel ihrer Geschichtspolitik.

Wie kann so eine Umdeutung gelingen? Indem man Verknüpfungen im Kopf ändert – wie es die Partei unter umgekehrten Vorzeichen auch in der Flüchtlingspolitik versucht. Wer „Deutschland“ hört, soll nicht mehr an Auschwitz und die Weltkriege denken, sondern das Land und seine Geschichte für vergleichsweise normal halten. Diese Umdeutung ist deswegen so wichtig für die AfD, weil sie eine nationalistische Partei ist. Um ihr Ziel zu erreichen, greifen AfD und ihre neurechten Einflüsterer zu Inszenierungen und nur schwer sichtbaren Lügen. Drei Beispiele belegen das.

Einmal im Jahr trifft sich der rechtsradikale Flügel der AfD in Thüringen, am Kyffhäuser-Denkmal. Das wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, um die Gründung und Einigung des Deutschen Reiches unter Wilhelm I. zu feiern und vereinnahmt dabei ohne echten historischen Bezug den Mittelalter-König Barbarossa. Von diesen Monumentaldenkmälern gibt es mehrere in Deutschland. Sie sind zu Stein gewordener Nationalismus, entstanden zu einer Zeit, als deutscher Nationalismus zwar schon zum Krieg geführt hatte, aber noch nicht in den Wahnsinn von Auschwitz. Sie sind deswegen perfekt, um eine deutsche Traditionslinie zu entwerfen, die frei von dieser Schuld ist.

Die völkischen Ideen der AfD sind nicht neu. In ihren Blogs, Büchern und Veranstaltungen zitieren sie immer wieder die Theoretiker der sogenannten Konservativen Revolution. Damit meinen sie völkische und nationalkonservative Denker, die in der Zwischenkriegszeit wirkten und mit den Verbrechen des Nationalsozialismus angeblich nichts zu tun gehabt hatten. Das ist eine reine „Schutzbehauptung“, wie der Historiker Volker Weiß gezeigt hat. Was bedeutet: Um nicht immer wieder mit Hitler und den Nazis konfrontiert werden zu müssen, haben die Neuen Rechten ihre eigene Geschichte reingewaschen und Jahrzehnte später eine konservative Strömung erfunden, die in dieser Einheitlichkeit nie existierte und natürlich doch sehr eng mit den Nazis zusammenarbeitete. Als ein Beispiel von vielen: der noch heute einflussreiche Staatswissenschaftler Carl Schmitt, eine intellektuelle Ikone der AfD, galt als Kronjurist Hitlers.

Das letzte Beispiel: Hier ist es wohl am offensichtlichsten. Vor der Bundestagswahl sagte Alexander Gauland, dass die Deutschen stolz sein dürften auf „die Leistungen deutscher Soldaten“ im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Dabei haben Historiker schon lange gezeigt, dass die Wehrmacht nicht einfach nur eine Armee war, die mit den Nazis wenig zu tun hatte. Sie war fester Bestandteil der NS-Vernichtungsmaschine.

Allerdings: Wer fühlt sich sicher genug, um kompetent zu widersprechen, wenn da einer am Familientisch behaupten würde, was die AfD so den lieben langen Tag behauptet? Der Partei hilft, dass die Zeitzeugen aussterben, die mit ihren Geschichten die Erinnerung an die Verbrechen des Zweiten Weltkrieg wachhielten. Die lebendige Erinnerung wohlgemerkt. Denn es ist etwas anderes, ob jemand aus erster Hand berichtet, wie es war, als die Familie an der Rampe von Auschwitz „aussortiert“ wurde, und die eintätowierte KZ-Nummer auf dem Arm zeigen kann. Oder ob ein Historiker aus zweiter Hand berichtet.

Der Holocaust war ein einzigartiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das versteht aber nur, wer sich mit ihm beschäftigt, wenigstens ein bisschen. Wer es nicht tut, für den wird Erinnerungskultur zur Behauptung, zu einer Pflicht, die immer weiter ausgehöhlt wird, je mehr Jahre vergehen. In diese Lücke stößt Gauland, in dem er einfach behauptet, dass Deutschland eine ausschließlich ruhmreiche Geschichte habe, mit Ausnahme von zwölf Jahren „Vogelschiss“. Er macht sich nicht die Mühe, das zu belegen.

Er schmeichelt einfach seinem Publikum und erfüllt eine Sehnsucht, die verführerisch ist. Gauland will seinen Zuhörern erlauben, stolz zu sein, ohne Scham. Das wirkt, weil einige Menschen in Deutschland den Eindruck haben, nicht offen stolz auf dieses Land sein zu dürfen. Es stört sie nicht, dass mit Cem Özdemir ein Grüner an das Pult des Bundestages treten durfte, um mit leidenschaftlichen Worten zu erklären, wie stolz er auf Deutschland ist. Für keine andere Bundestagsrede in den vergangenen Jahren gab es so viel Applaus. Aber Özdemir hat auch explizit gesagt, dass er auf die Erinnerungskultur Deutschlands stolz ist. Das kann die AfD nicht, weil sie dann anerkennen müsste, dass deutscher Nationalismus das Land an den Abgrund geführt hat.

https://www.youtube.com/watch?v=RIJaB0-Yh_E

2. „Daran hat vorhin Björn Höcke erinnert“

Björn Höcke ist Fraktionschef der AfD in Thüringen und Anführer der Rechtsextremen in der Partei. Er hatte Anfang 2017 bei einer Rede eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert. Der Geschichtslehrer Höcke hat dabei sehr kalkuliert in seiner Rede historische Fehler eingebaut, die allesamt Deutschland als Opfer dastehen lassen. Nach diesem Auftritt begann ein Parteiausschlussverfahren gegen Höcke, vor wenigen Wochen wurde es eingestellt.

3. „Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre (Applaus)“

Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges forderten Politiker, dass es nun mal gut sein müsse mit der Entnazifizierung. In genau diesem Kontext müssen wir Gaulands „verdammt“ lesen. Es ist eine rhetorische Figur, kein Urteil über Hitler und die Nazis. Es ist eine Reaktion darauf, dass sich so viel Erinnerungsarbeit und Forschung auf den Nationalsozialismus konzentriert. Das Publikum versteht das sehr genau: Es brandet Applaus auf.

4. „Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre“

Ja, in Worten bekennt sich die AfD zur Verantwortung für den Holocaust. Aber ihre tägliche Arbeit straft Gauland Lügen. Der Antisemit Wolfgang Gedeon ist immer noch Mitglied der Partei. Höcke sowieso und die Vize-Chefin der Bundestagsfraktion, Beatrix von Storch, arbeitet an einem Internetportal mit, dass den jüdischen Investor George Soros als „Spinne“ bezeichnet und damit ein klassisches antisemitisches Motiv aufgreift. Außerdem …

  • … hat Fraktionsvize Peter Felser an antisemitischen Werbespots für die Partei „Die Republikaner“ mitgearbeitet
  • … hat der AfD-Lokalpolitiker Gunnar Baumgart behauptet, dass kein Jude durch das Gas Zyklon B gestorben sei
  • … hat die AfD im Wahlkampf ein Foto von SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz so verfälscht, dass sie damit antisemitische Klischees bedienen kann:

https://twitter.com/der_rosenkranz/status/843151199331405824

Gauland sagt diesen Satz nur, um danach noch ungenierter reden zu können. Der Satz ist das Äquivalent zu „Ich bin ja kein Rassist, aber… “.

5. „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte (Applaus)“

Dieser Teil war es, der für die meiste Empörung gesorgt hat. Wenn man das einfach ignoriert, wie es so viele fordern, um nicht „das Spiel der AfD zu spielen“, schaut man dabei zu, wie das Andenken an 60 Millionen Weltkriegstote durch den Dreck gezogen wird, wie die industrielle Ermordung von sechs Millionen Menschen relativiert wird.

Man könnte sich auch empören, aber für sich allein genommen, spielt blinde Empörung auch bloß direkt in die Hände der AfD.

Was bleibt? Den Kampf um die deutsche Geschichte annehmen und sich nicht in die (im Grunde richtigen) Rituale flüchten. Denn anscheinend ist es in Deutschland keine Selbstverständlichkeit mehr, des Holocausts in Würde zu gedenken und die Verbrechen, die von deutschem Boden ausgingen, in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen. Um den Geschichtsdeutungen von Gauland und Höcke wirklich begegnen zu können, müssen wir akzeptieren, dass eine andere Zeit anbricht, dass die Erinnerung an den Holocaust verblasst.

Der Berliner Tagesspiegel hatte das am Montag nach der Gauland-Rede erkannt. Er hat auf seiner Titelseite gezeigt, was genau für Gauland ein Vogelschiss ist:

Als die Rapper Farid Bang und Kollegah den Musikpreis Echo vor ein paar Monaten bekamen, entbrannte eine heftige Debatte über Antisemitismus im Rap und unter Muslimen. Was dabei klar wurde: Was genau der Holocaust ist, was er für die Opfer bedeutete, wissen immer weniger Menschen. Das belegen auch Umfragen unter Schülern. Deswegen ist die Reaktion des Tagesspiegels so gut. Sie ist pragmatisch, ohne zynisch zu sein, sie gibt Kontext, ohne zu belehren.

Was nun?

Allerdings kann auch bessere Bildung auf Dauer nichts gegen eine sehr menschliche Reaktion ausrichten: Je weiter weg etwas ist, desto unscharfer wird der Blick. In weniger als 30 Jahren jährt sich die Machtergreifung Hitlers zum 100. Mal. Dass Gauland betont, dass es nur zwölf Jahre gewesen seien, macht aus seiner Sicht Sinn. Er setzt der einzigartigen Qualität der NS-Verbrechen ein auf den ersten Blick völlig einleuchtendes Quantitäts-Argument entgegen: Wie kann etwas so dominant sein, wenn es doch nur so kurz gewährt hat?

Mit den klassischen Mitteln der Erinnerungskultur wird man da keinen Erfolg mehr haben, im Gegenteil. Das rechtsextreme AfD-Gequatsche vom „Schuldkult“ zieht seine Wut aus genau dieser Kultur (weswegen wir sie unbedingt beibehalten müssen).

Wenn die AfD versucht, die anderen Teile der deutschen Geschichte für sich zu vereinnahmen, dann kann die Antwort nur eine sein: Diese anderen Teile gegen sie zu verteidigen, vor allem natürlich diejenigen, die zur demokratischen Tradition der Bundesrepublik passen.

Warum stehen im Deutschland des 21. Jahrhunderts Hunderte Türme zu Ehren des Reichskanzlers Bismarck, aber nur eine Handvoll Denkmäler für Robert Blum, der im 19. Jahrhundert für die Republik kämpfte und dafür hingerichtet wurde? Warum wird in Berlin nicht der 18. März ein Feiertag? An diesem Tag im Jahr 1848 starben 200 Revolutionäre im Gewehrfeuer. Wo sind die öffentlich-rechtlichen Dokudramen über die liberalen Aktivisten des Vormärz, die zwanzig Jahre vorher von den Geheimdiensten der Kaiser und Könige gejagt wurden? Warum kennt jedes Kind den Namen von Christopher Kolumbus, aber nicht den des anderen großen Südamerika-Erforschers, Alexander von Humboldt?

Gerade dann, gerade wenn man diese deutschen Traditionslinien sieht, kann man doch erkennen, dass die im Kern anti-parlamentarische und neo-nationalistische AfD mit der dazu passenden Geschichtspolitik vor allem eines ist: ein Rückschritt, im wahrsten Sinne des Wortes.


Redaktion: Sebastian Esser. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Aufmacherfoto: Martin Gommel.