Der Osten muckt auf. Bisher haben wir vor allem auf die laute, demokratiefeindliche, eklige Seite dieses Aufbegehrens geschaut, nach Gründen für Unzufriedenheit und Fremdenhass gefragt.
Aber es gibt auch eine konstruktive Seite des Aufbegehrens. Eine, die neue Ideen für das demokratische Miteinander einbringt und alte Selbstverständlichkeiten hinterfragt.
Einer, der das zeitlebens getan hat, ist Frank Richter. Er gehörte zur „Gruppe der 20”, die 1989 die friedliche Revolution in Dresden gestalteten. Später machte sich der Theologe als Chef der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung einen Namen, stand im Kreuzfeuer der Pegida-Debatten. Zurzeit kandidiert er für das Amt des Oberbürgermeisters von Meißen und hat gerade ein Buch veröffentlicht (hier kannst du einen Auszug daraus lesen).
Herr Richter, Sie wollen über eine neue, gesamtdeutsche Verfassung diskutieren. Was versprechen Sie sich davon?
Zunächst habe ich einfach nur darauf hingewiesen, dass es über das Grundgesetz keine Volksabstimmung gegeben hat. Das ist ein Mangel. Und der Zusammenhalt der Gesellschaft wird ja durch ein Grundgesetz beziehungsweise eine Verfassung maßgeblich bestimmt.
1990 hat man sich dafür entschieden, die Wiedervereinigung auf dem kürzesten Weg umzusetzen und die Frage der gesamtdeutschen Verfassung später wieder aufzugreifen. Aber seither wollte es der Bundestag dann doch nicht mehr ernsthaft besprechen. Was spricht denn dafür, es jetzt zu tun?
Das Verfahren an sich wäre schon wichtig. Gibt es gesellschaftliche und politische Entwicklungen, die so neu sind, dass wir über die Verfasstheit unseres Landes nicht nochmal neu überlegen müssen? Der wichtigste Punkt ist die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Das schwebt mir nach wie vor als Vision vor Augen, man muss das auch nicht Vereinigte Staaten nennen, faktisch wächst Europa in vielen politischen Bereichen bereits zusammen. Grundgesetzlich ist das an vielen Stellen aber noch gar nicht unterlegt. Also spätestens diese Entwicklung sollte uns dazu animieren, über unsere eigene Verfassung mal wieder nachzudenken.
Wie könnte denn so ein Prozess aussehen?
Ich komm nun mal aus der DDR. Eine meiner schönsten Erfahrungen in der zu Ende gehenden DDR war die ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das war ein absolut basisdemokratisch organisierter Prozess. Man hat kleine Büros gebildet und flächendeckend in alle Kirchgemeinden hinein das Signal gesendet: Schreibt uns eure wichtigsten Probleme. Schreibt uns Lösungsvorschläge. Praktische Umsetzungsmöglichkeiten für Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – die großen Menschheitsthemen. Es sind damals über 12.000 qualifizierte Einsendungen eingegangen, die sind gesichtet, geordnet, geclustert, in einem ganz basisdemokratischen Prozess zu einem Ergebnis geführt worden.
Und wissen Sie, was das Erstaunlichste war? Die Stasi hat diesen Prozess als das eigentliche Problem gesehen, hielt das Verfahren für gefährlicher als das Ergebnis. Weil die gemerkt haben, die machen ja wirklich Demokratie. Also, warum soll man nicht solche positiven Erfahrungen in eine gewisse Analogie setzen, um große Teile der Gesellschaft einzubeziehen in die Frage nach der Verfasstheit unseres Landes?
Stefan Heym hat 1994 bei seiner Eröffnungsrede als Alterspräsident des Bundestages gefragt: „Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Der gesicherte Arbeitsplatz vielleicht? Die gesicherte berufliche Laufbahn? Das gesicherte Dach über dem Kopf?” Heym ist geschmäht worden für diese Worte – das sei „symptomatisch für die Mentalität der schlechten Sieger und für die Arroganz der Macht“ damals gewesen, schreiben Sie. Warum waren die Bundestagsabgeordneten damals so unzugänglich gegenüber diesen, eigentlich nachvollziehbaren Erwägungen?
Die Ablehnung war schon entschieden, bevor er gesprochen hatte. Wenn man in die Gesichter der Spitzenpolitiker von damals schaut, sieht man Desinteresse, innere Aversion, „hoffentlich ist es bald vorüber”. Ich glaube, dass es gar nicht in erster Linie die Worte waren, sondern die Person Heyms wurde als störend empfunden in diesem westdeutsch dominierten parlamentarischen Betrieb. Er kam wie ein Fremdkörper plötzlich in die Rolle des Alterspräsidenten, und es war offenbar sehr problematisch für viele, diesem bekennenden Linken auch nur zuzuhören.
https://www.youtube.com/watch?v=UDi33gajkOg
Dabei hat Heym selbst das DDR-Regime immer wieder kritisiert, durch seine Biografie und seinen Erfolg als Schriftsteller konnte er das auch wie kein Zweiter.
Heym war immer ein unabhängiger Geist, der nie mit dem Strom geschwommen ist. Und unabhängige Intellektuelle stoßen in allen politischen Ordnungen irgendwo an und werden als störend empfunden. Aber genau die brauchen wir. Auf der Woge der Wiedervereinigung, die den Eindruck erweckte, der Westen ist der historische Sieger des Kalten Krieges, fühlte man sich ungern gestört von einem, der da aus der Ecke kommt und schon wieder was zu kritisieren hat oder vor der Zukunft warnt. Das meinte ich mit der „Arroganz der Macht”.
Welche Erfahrungen aus dem Leben der DDR lohnten sich denn Ihrer Meinung nach, übernommen zu werden?
Mir ist das Wichtigste: Die Kritik ehemaliger DDR-Bürger an dem Auseinanderdriften unserer Gesellschaft, insbesondere in Hinsicht auf Einkommens- und Vermögensverhältnisse, sollten wir ernst nehmen. Wenn es einerseits so viel unermesslich großen privaten Reichtum in der Bundesrepublik gibt, und andererseits so viel statistisch erfasste Armut, insbesondere auch Armut von Kindern, dann kritisieren das DDR-Bürger vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Erinnerung an ein Land, in dem die Menschen viel näher beieinander waren, was die Einkommens- und Vermögensverhältnisse betraf. Sie waren in anderer Hinsicht sehr weit voneinander entfernt. Aber hinsichtlich dieses Gefühls, dass Gesellschaft sich nicht zu weit auseinander entwickeln darf in Arm und Reich, und dass es so etwas wie gefühlte Verteilungsgerechtigkeit geben muss – diese Kritik ist ernst zu nehmen. Auch dann, wenn sie von jemanden kommt, der sie vor dem Hintergrund seiner DDR-Erfahrung nennt.
Okay, aber nochmal: Welche Erfahrungen aus dem Leben der DDR lohnten sich, übernommen zu werden?
Es geschieht ja teilweise schon. Wenn jetzt die Bundesregierung und auch die Bundesländer erkennen, dass sie dringend etwas für den Ausbau und die Finanzierung der Kindertagesstätten tun müssen, und dass dort nicht nur Betreuung, sondern auch Bildung stattfinden muss, dann ist das – auch wenn man es nicht gern hört – so ähnlich wie das, was in der DDR geschehen ist. Man kann in dem Zusammenhang aber auch auf Frankreich oder Schweden verweisen, also auf Staaten, die unverdächtig sind, eine staatliche Indoktrination der kommenden Generation vorzunehmen.
Frankreich ist tatsächlich ein gutes Beispiel, weil der Ausbau der Kinderbetreuung dort ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die französische Gesellschaft nicht so überaltert ist und Frauen die Möglichkeit haben, auch Karriere zu machen. Sehr ähnlich wie in der DDR. Beim Thema Gleichberechtigung der Frauen hat der Westen insgesamt vom Vorsprung des Ostens profitiert. Es gibt also bereits jetzt schon in der BRD bestimmte politische Entscheidungen, die, wenn man genau hinschaut, daran erinnern, wie es einmal in der DDR war. Die Mehrärztepraxen erinnern an die Polikliniken der DDR, die man ja auch erstmal abgeschafft hat, um sie nun wieder einzuführen. Auch die Unterstützung alleinerziehender Mütter. Das ist ja alles nicht aus dem Lehrbuch des Neoliberalismus abgeschrieben, sondern erinnert eher an die Zeiten der DDR.
Aber zu Ihrer Frage nochmal: Ich weiß gar nicht, ob wir so diskutieren sollten: Was sollte die Bundesrepublik aus den Erfahrungen der DDR übernehmen? Wir sollten eher fragen, was sollen Ostdeutsche aufgrund ihrer Geschichte selbstbewusst und offensiv in die jetzige gesellschaftspolitische Debatte einbringen? Sie sind unterrepräsentiert in den Funktionsetagen dieser Ordnung.
Warum ist es so schwer, daraus konstruktive Politikideen zu formulieren?
Die politische Willens- und Meinungsbildung wird stark von den Parteien dominiert. Und die Parteien, wenn man auf ihre Mitgliederzahlen schaut, repräsentieren einen ganz kleinen Anteil an der Bevölkerung. Im Osten etwas mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Dass eine so kleine Gruppe die politische Willens- und Meinungsbildung so stark dominiert, ist eigentlich nicht vorgesehen. Das Grundgesetz sagt, die Parteien wirken bei der politischen Meinungsbildung mit, nicht: sie dominieren sie.
Junge Menschen haben vor dem Hintergrund einer äußerst schwierigen Lebensplanung oft keine Zeit und auch gar keine Kraft, sich längerfristig in Parteien zu engagieren. Parteien verschließen sich gegen Seiteneinsteiger, die neue Ideen reinbringen könnten. Die haben wenig Chancen, in Parteien Karriere zu machen, folglich fehlt es ihnen an interner Innovationskraft. Das heißt, sie sind politisch sehr konservative Politikmaschinen, diese Parteien. Hier sind Verkrustungen, die aufgebrochen werden müssten.
https://twitter.com/Hannah_LBerg/status/978636516074442752
Das wird im Osten stärker wahrgenommen als im Westen, aber es ist überall in Deutschland dasselbe Problem. Und es ist wirklich nicht ungefährlich für die Demokratie, wenn große Teile der Bevölkerung sagen, „wir wollen mit diesem ganzen etablierten Betrieb nichts mehr zu tun haben”. Sie neigen dann natürlich dazu, alternative Parteien zu wählen.
Wie könnte denn dieser Prozess der politischen Willens- und Meinungsbildung wieder besser organisiert werden?
Also ich sehe die größten Hoffnungszeichen auf der kommunalen Ebene. Wie schon immer in der Geschichte: Das Gute wächst von unten. Das heißt: Demokratie ist eine Graswurzelangelegenheit. In kleinen Städten, in kleinen Kommunen, in NGOs, Vereinen, Verbänden usw., oft auch von der Not getrieben, entstehen neue Formen des Zusammenlebens, demokratische Prozesse am Rande der Parteien oder ohne die Parteien. Das strukturiert sich noch nicht so einfach, aber der Ruf nach direkter Demokratie geht durchs ganze Land. Wir sind doch nicht dümmer als die Schweizer! Wir könnten viel mehr Formen direkter Demokratie gut vertragen.
Welche Formen der direkten Demokratie?
Die Parteien müssen sich öffnen für Seiteneinsteiger, für kurzfristiges Engagement, für basisdemokratische Prozesse. Die Abstimmung innerhalb der SPD über die GroKo war so ein Prozess, das fand ich bemerkenswert. Auch wenn er die Entscheidung natürlich verzögert hat, hat das gezeigt, dass Parteien viel demokratischer werden können, als sie schon sind.
„Wenn die Bundeskanzlerin von der AfD kritisiert wird, und manche Beobachter daraus den Schluss ziehen, dass jeder andere, der die Kanzlerin kritisiert, nun automatisch in der Nähe der AfD angesiedelt ist, dann führt das in letzter Konsequenz dazu, dass wir die Bundeskanzlerin überhaupt nicht mehr kritisieren dürfen.”
Frank Richter
Warum kandidieren Sie für das Amt des Oberbürgermeisters von Meißen?
Personen aus dem Bündnis „Bürger für Meißen – Meißen kann mehr“ haben mich angesprochen und darum gebeten, als ein von ihnen unterstützter, unabhängiger Kandidat anzutreten. Ich empfand das als sehr ehrenvoll. Meißen ist eine wunderschöne Stadt, die 2019 das 1.100-jährige Jubiläum feiert. Außerdem finde ich es immer der Unterstützung wert, wenn sich Bürger für das Gemeinwohl engagieren.
Wie würden Sie direkte Demokratie auf kommunaler Ebene fördern wollen, wenn Sie gewählt werden? Was unterscheidet Sie von den Kandidaten der etablierten Parteien?
Auf vordergründige Unterscheidungen zu anderen Kandidaten kommt es mir nicht an. Bei der letzten Wahl zum Oberbürgermeister gaben weniger als 40 Prozent der Berechtigten ihre Stimme ab. Es tut der Demokratie gut, wenn Wahlen auch mit größeren Auswahlmöglichkeiten verbunden sind. Sollte ich gewählt werden, will ich versuchen, das offene Gespräch mit möglichst vielen Bürgern zu suchen. Damit möchte ich sie gewinnen; ich kann freilich auch verlieren. Das ist keinesfalls ehrenrührig.
In einigen Rezensionen Ihrer Streitschrift wird ihr „Ton“ als „irritierend“ wahrgenommen. Insbesondere, dass sie sich von Merkels Wahlkampfauftritten „intellektuell beleidigt gefühlt“ haben, stößt einigen Kritikern übel auf.
Ja, von dem Wahlkampfauftritt von Angela Merkel im September 2017 in Barth an der Ostseeküste habe ich mich intellektuell beleidigt gefühlt. Ich habe kein Pauschalurteil über Angela Merkel getroffen, sondern habe einfach ein Resümee gezogen, nachdem ich dort eine Stunde im Regen gesessen habe, äußerlich durchnässt und innerlich zermürbt, weil sie praktisch über keines der wichtigen Themen irgendetwas Substanzielles gesagt hat. Die mächtigste Frau der Welt kandidiert wieder für den Bundestag, oder will wieder Bundeskanzlerin werden, und umgeht alle wichtigen politischen Themen – das sehe ich äußerst kritisch.
Man wirft Ihnen vor, „Stichwortgeber der besorgten Bürger zu sein”.
Diese Kritik halte ich für undemokratisch. Wenn die Bundeskanzlerin von der AfD kritisiert wird, und manche Beobachter daraus den Schluss ziehen, dass jeder andere, der die Kanzlerin kritisiert, nun automatisch in der Nähe der AfD angesiedelt ist, dann führt das in letzter Konsequenz dazu, dass wir die Bundeskanzlerin überhaupt nicht mehr kritisieren dürfen. Das ist doch ein absolut fataler undemokratischer Gedankengang, der sich dahinter verbirgt. Das Gegenteil ist richtig: Wenn vernünftige Menschen, die ausgewogen argumentieren, die Bundeskanzlerin kritisieren, oder überhaupt die aktuelle Politik kritisieren, dann reduziert sich die Gefahr, dass andere Kritiker zur AfD marschieren.
Ich habe noch ein interessantes Zitat von Stefan Heym, diesmal aus dem Jahr 1992: „Wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie die Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen.” Auch Sie sagen, es gibt keine Garantie dafür, dass diese Gesellschaft friedlich bleibt. Steuern wir wieder auf Weimarer Verhältnisse zu?
Diese Worte von Heym hatten prophetischen Charakter. Heym sah nicht nur aus wie ein alttestamentarischer Prophet, er hatte auch visionäre Kraft, vor dem Hintergrund seiner Lebenserfahrung. Geschichte wiederholt sich nicht einfach. Aber es ist schon besorgniserregend, wie sehr die aktuelle Entwicklung der Weimarer Zeit ähnelt.
Redaktion: Sebastian Christ; Produktion: Christian Gesellmann; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: Ullstein Verlag).