Wo die Ultras von Dynamo Dresden, die härtesten Fans des Fußballzweitligisten aus Sachsen, unterwegs sind, warten meist schon Hundertschaften der Polizei, kreisen Hubschrauber, zittern Kioskbesitzer, nehmen Eltern ihre Kinder an die Hand. Im Mai letzten Jahres haben sie in Karlsruhe dem größten Verband des Landes, dem Deutschen Fußball-Bund, den Krieg erklärt, nicht per Tweet oder Facebook-Post. Sondern in einem kilometerlangen Marsch in Camouflage, begleitet von Trommeln, Böllern und Nebeltöpfen. Im Stadion angekommen, skandierten sie zu Tausenden: „Ost-, Ost-, Ostdeutschland!“ Darauf reagierten die Medien mit hysterischen Nazi-Vergleichen und der Staat mit Hausdurchsuchungen.
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Der Fanmarsch der Dresdner in Karlsruhe war die ultimative Provokation. Das haben die Ultras selbst gesagt. Gleichzeitig war er aber auch eine extrem erfolgreiche Protestaktion. Die Ultras wollten erreichen, dass der DFB sie endlich Ernst nimmt, nicht einfach über ihre Köpfe hinweg darüber entscheidet, wie der Fußball in Zukunft aussehen wird.
Wie viel Kommerz, wie viele Montagsspiele, Wüsten-Weltmeisterschaften und Helene-Fischer-Konzerte verträgt der Volkssport? Landesweit solidarisierten sich die Ultras mit den Dynamo-Fans und erklärten dem DFB ebenfalls den Krieg. Der Druck wurde so groß, dass die Fußballfunktionäre nicht mehr anders konnten, als die Zuschauer an den Verhandlungstisch zu holen – und zwar nicht nur die von Dynamo.
Während die Dresdner Ultras das Feindbild der „bösen Ossis” pflegen, die modernen Bildungsbürgern wie ZDF-Comedian Jan Böhmermann gern mal „Halt’s Maul!” zurufen, steht die Semperoper für das schönste und wertvollste, was Sachsens Geschichte zu bieten hat. Es ist ein nationales Denkmal des Kulturbürgertums.
Der Künstler Andreas Mühe hat diese beiden Pole der Gesellschaft nun für ein Foto zusammengebracht. Mühe wurde 1979 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, geboren, ist Sohn des Schauspielers Ulrich Mühe („Das Leben der Anderen”) und hat sich vor allem mit Fotografien von Angela Merkel sowie seiner eigenen Interpretation berühmter Gemälde von Caspar David Friedrich einen Namen gemacht. Diese sind den Originalen zum Verwechseln ähnlich, bis auf einen kleinen Unterschied: statt einem Romantiker im Gehrock, der ins Weite blickt, sieht man darauf einen nackten Mann, der an den Baum pinkelt.
Ich habe Andreas Mühe gefragt, warum er Menschen, die dem DFB den Krieg erklärt haben, ausgerechnet in die Semperoper gebracht hat.
Wie sind Sie auf die Idee für dieses Foto gekommen?
Im letzten Sommer wurde ich aus Dresden angefragt, ob ich mir vorstellen könnte für die Premieren der Semperoper Motive zur Verfügung zu stellen. An den Gedanken, bereits vorhandene Arbeiten dem Dresdner Spielplan zuzuordnen, musste ich mich erst gewöhnen. Dafür sprach, dass ich es zeitlich nicht geschafft hätte, so reizvoll es auch erschien, für zwölf Premieren Motive zu suchen, abzustimmen und in Produktion zu gehen. Dieser Aufwand war zu groß und kam zu kurzfristig.
Premieren und Portfolio zusammen zu bringen, bereitete mir dann aber mehr Spaß, als ich vermutet hatte. Wir besprachen in Dresden, dass maximal vier neue Arbeiten dazukommen könnten. Im Hinterkopf grummelte ein Bild, das ich Monate zuvor in einer Tageszeitung wahrgenommen und abgespeichert hatte: die Dresdner Dynamo-Fans im Karlsruher Stadion in Flecktarn. Die Idee war geboren und die Chance sie zu realisieren, war, wegen des Interesses der Semperoper an meiner Arbeit, zwar nicht sicher, aber vielleicht in Reichweite.
Der Rest ist bekannt. Die Ultras sagten zu; die Semperoper holte tief Luft; die Hausdurchsuchungen im Dezember machten uns fast einen Strich durch die Rechnung. Alles Weitere lief dann offiziell über den Verein und mit großer Unterstützung der Semperoper. In der letzten Stunde vor dem nächtlichen Treffen konnte ich nicht mehr einschätzen, ob überhaupt jemand kommen würde.
Sie haben die Ultras auf die Zuschauerränge gebeten und Ihre Kamera auf die – ansonsten leere – Bühne gestellt. Warum haben Sie das Foto so umgesetzt?
In den Zwanziger Jahren reformierte Erwin Piscator das Theater in Deutschland mit der Forderung: die Straße auf die Bühne – die Bühne auf die Straße. 1989 sind auch in Dresden die Künstler aus ihren Rollen getreten und von der Bühne weg auf die Straße beziehungsweise Anfang Oktober auf den Hauptbahnhof gegangen. Die Choreografie der Dresdner Dynamo Fans in der Semperoper ist für mich ein umgekehrter, aber ähnlicher Vorgang. Die Ultras machen den Zuschauerraum zur Bühne. Da musste die Bühne frei bleiben. Sie dort zu platzieren, wäre mir wie ein Feigenblättchen für die Hochkultur erschienen.
Die Decke der Semperoper wölbt sich wie ein Himmel über diese Performance. Man fühlt sich wie im Himmel.
Welche Botschaft wollten Sie mit diesem Bild aussenden?
Eine beeindruckende Kraft, Disziplin, Perfektion und Schläue bündelt sich in den Choreografien der Ultras. Sie sind schlagkräftig, spontan, frech, schnell und haben auch Humor. So wünsche ich mir eine Theateraufführung, in die ich gern gehen würde. Als Zuschauer sind die Ultras perfekt, weil sie Ahnung haben, was ein Spiel ausmacht. Sie kennen die Regeln und wissen um die Schönheit eines gelungenen Fußballspiels. Sie sind die bestmöglichen Zuschauer, die auch noch anfeuern und reagieren. Wenn man das, was im Stadion passiert, aufs Theater übersetzt, dann findet im Stadion die perfekte Vorstellung statt. Da können sich die Theater nur die Finger nach lecken. Für eine einmalige Stunde entehrten die Dynamo-Fans die Semperoper und machten selbst große Oper. Sie waren also Zuschauer und Spieler zugleich. Die gelben Sturmhauben fungieren hier mehr als eine Maske, wie sie im Theater zur Verfremdung von Handlung genutzt wird, nicht als Identitätsschutz. Man hätte sie auch bitten können, eine Papiertüte über den Kopf zu ziehen und Augen-, Mund- und Nasenlöcher zu markieren, aber das wäre ein andere Performance geworden und ich glaube auch nicht, dass sie mit mir zusammen gebastelt hätten.
Die Ultras werden durch Ihre Arbeit mit den Hugenotten assoziiert, also mit einer verfolgten Minderheit. Von wem werden die Ultras verfolgt oder wofür stehen sie selbst symbolisch?
Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, den der Komponist Giacomo Meyerbeer in seiner Oper „Le Huguenots“ bearbeitet, hat für mich die Kraft und die Konsequenz, mit der Ultras für ihren Verein und ihre Mannschaft leben. Ein Verbot würde sie, ähnlich wie die damals verfolgten Protestanten, nur in den Untergrund zwingen, nicht aber zur Aufgabe ihrer Ideale. Sie sind eine Kultur, die nicht tot zu kriegen ist. Am Ende der Oper bekennen sich ihre Protagonistinnen in den Morgenstunden nach dem Gemetzel der Bartholomäusnacht – als alles schon vorbei zu sein scheint – zu ihrem Glauben und entscheiden sich damit für den Tod.
Sie schreiben: „Unsere gemeinsame Aktion, den Dynamo-Fans im Zuschauerraum der Semperoper eine Plattform für ihre (friedliche) Choreografie zu geben, stärkt Dresden.“ Warum glauben Sie das?
Diese Aktion ist weder eine Kampfansage an die Hochkultur noch eine Werbeaktion für die Semperoper, sondern im blanken Bühnenboden spiegeln sich die kindlich tobenden Dynamo Fans wider. Wenn die Bühne – diese Bretter, die die Welt bedeuten - in der Lage ist, die Welt widerzuspiegeln, dann wird klar, dass der Ursprung der Ultras im Spiel liegt: Homo ludens. Als Theater wird die Semperoper in diesem Moment zu einem gesellschaftlichen Labor, indem bisher noch nicht Gedachtes mal durchgespielt wird.
Sie fragen bzgl. des Fanmarsches von Karlsruhe: „War diese Aktion eine Demonstration, ein gewaltiger Aufmarsch, noch Spiel oder bereits ein Ernstfall?“ Wie würden Sie selbst diese Frage beantworten?
Ich war mit meinen Kindern in der Vorweihnachtszeit einige Male in der Umgebung von Berchtesgaden. Da ich dort oft fotografiert habe, kam ich auch mit den Bräuchen in Berührung. Am 6. Dezember ziehen die Krampusse mit viel Lärm und dem Heiligen Nikolaus durch die Dörfer. Man hört sie schon von weitem. Sie verkleiden sich mit Tierfellen oder Stroh, tragen riesige Masken, Glocken und Stecken. Wer ihnen schon einmal zu nahe gekommen ist, weiß, dass man sich vorsehen muss und es wenige Regeln gibt, an die sich beide Seiten zu halten haben. Für die Zuschauer gibt es nur eine: Abstandhalten. Die jungen, über Stock und Stein rasenden Männer unter diesen brachialen Kostümen führen nur einen Brauch weiter. Das ist auch kein Ernstfall. Wer, wie die Ultras, so für Klub und Mannschaft lebt, ist auch äußerst empfindlich und leicht angreifbar. Wie bei den Krampussen, kann ich mich weder aufs Spiel noch auf den Ernstfall festlegen.
Sie schreiben: „Die Aktionen der Dynamo Fans und die vor Jahren stetig wachsenden Demonstrationen von Pegida haben eine gemeinsame Heimat: Dresden.“ Ist das Zufall oder sehen Sie da eine Verbindung?
Seine Heimat und seine Verwandten kann man sich ja schlecht aussuchen. Ich halte die Ultras und Pegida nicht für Verwandte.
Was macht eigentlich die Faszination der Ultras aus? Warum wollen da so viele junge Menschen unterschiedlichster Klassen, in der absoluten Mehrzahl Männer, mitmachen?
Wir können nicht existieren ohne ein Leben in der Öffentlichkeit zu führen, um uns auseinanderzusetzen. Die öffentliche Demonstration, für etwas zu sein und in einer Gruppe Gleichgesinnter aktiv zu werden, ist lebensnotwendig. Da wir nicht mehr so viele Bräuche haben, müssen wir uns zeitgemäße schaffen. Damit es einem Volk gut geht, braucht es Brot und Spiele. Brot haben wir. Und die Spiele suchen wir uns selber aus. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern meine tiefe Überzeugung besteht darin, dass ein gesellschaftliches System Freiräume braucht: die tollen Tage an denen der Herr Knecht und der Knecht Herr ist, um zu überprüfen, ob das System noch funktioniert.
Das Aufmacherbild zeigt Andreas Mühe während der Fotosession mit den Ultras von Dynamo Dresden in der Semperoper und wurde von Mühes Kooperationspartner Volkswagen bereitgestellt.
Redaktion: Rico Grimm. Schlussproduktion: Theresa Bäuerlein. Aufmacherfoto: Volkswagen.