Der Osten kommt gerade erst in der Demokratie an
Politik und Macht

Der Osten kommt gerade erst in der Demokratie an

Nun ist die Mauer länger weg, als sie da gewesen ist. Und wieder mal fragen viele: Wann hört der Osten auf, anders zu sein? Dabei ist das die falsche Frage.

Profilbild von Kolumne von Christian Gesellmann

Als die Mauer weg war, stiegen wir in den roten Skoda, zu sechst, Oma und Opa kamen auch mit, und fuhren ihr noch ein wenig hinterher, der DDR, als würden wir ihr zum Abschied winken wollen. Ich war damals fünf Jahre alt. Nun, 28 Jahre und 89 Tage später, ist die Mauer länger weg, als sie da war.

Und das fühlt sich seltsam an. Denn wer heute auf die Wiedervereinigung blickt, will meist eines wissen: Ob die Unterschiede zwischen Ost und West auch endlich weg sind, ob wir nun tatsächlich „ein Volk“, ob wir Gleiche unter Gleichen geworden sind.

Im Rückspiegel steht immer die Frage: Wann können wir aufhören, uns mit der „besonderen ostdeutschen Identität“ zu beschäftigen? Als wäre das eine nervige Phase, die irgendwann überwunden ist, eine Art staatliche Pubertät. Aber ich sitze immer noch als Kind auf der Rücksitzbank, hinter der der Skoda-Motor kocht, auf dem Schoß meiner Mutter, und auch wenn ich jetzt erwachsen bin, wird sich das nie ändern.

Der Blick in den Rückspiegel löst eine gewisse Erschrockenheit aus, denn wir sind nicht gleich, und obwohl diese ominösen 28 Jahre und 89 Tage uns das Gefühl geben wollen, dass doch genug Zeit vergangen sein müsste, um nun gleich zu sein, haben uns gerade die letzten Jahre, haben uns Pegida und die Erfolge der AfD (stärkste Partei bei der Bundestagswahl in Sachsen!) sowie das Wiedererstarken des Rechtsextremismus wieder deutlich gemacht, dass der Osten vielleicht irreversibel anders ist, dass er vielleicht ein Problem mit der Demokratie hat, der seine Bürger vor 28 Jahren und 89 Tagen so dringend angehören wollten.

Der Staat ist im Stimmbruch

Erwachsen werden in dieser Logik bedeutet: Der Osten soll so werden wie der Westen. Die DDR ist ja schließlich der Bundesrepublik beigetreten, hat ihre Währung, ihr politisches System, ihre Parteien, ihre Politiker, ihre Medien, ihre Aldis und Lidls und ihre Fußballnationalmannschaft bekommen. Der Osten wird immer am Westen gemessen, und zwar nach dessen Maßstäben. Deshalb die Erschrockenheit um so komische Jahrestage wie das Länger-weg-als-da-gewesen-sein der Mauer.

Ich finde, es ist Zeit, dass wir endlich mit beiden Augen auf unsere Geschichte schauen. Denn das Kapitel DDR kann nicht einfach beendet werden. So, wie auch die Bundesrepublik das Kapitel Nazi-Deutschland nicht einfach beenden konnte. Mit den Studentenprotesten von 1968 musste sich die junge Demokratie ihres totalitären Erbes bewusst werden. Oft auch sehr schmerzlich bewusst werden. Es gab viel Gewalt gegen die Demonstranten, es gab eine Mehrheit der Bevölkerung, Medien und Eliten, die sich nicht mit den Zielen der 68er identifizierte, sie für unverschämt hielt, für den Feind.

Dennoch war dieser gesellschaftliche Prozess wichtig, denn hier übten Bürger der Bundesrepublik ihre demokratischen Rechte, also auch das des Widerstands gegen den Staat aus. Aus diesem Prozess entwickelten sich Bewegungen, die unsere (gemeinsame) Politik bis heute prägen: die Friedensbewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Grünen, und er wandelte auch Parteien, die es bereits gab, wie die SPD oder die FDP, für immer, hatte Auswirkungen auf die Polizei, die Justiz und das Grundgesetz. Aus Steinewerfern wurden irgendwann sogar Minister, die dann auch beworfen wurden (Joschka Fischer), die aber nun wußten: nicht zurückschießen! Mit Argumenten siegen!

In der DDR wurde der Nationalsozialismus schlicht per Dekret abgeschafft. Eine Aufarbeitung fand nicht statt, und jeder, der etwas gegen den antifaschistischen Staat hatte, der war, na klar, ein Faschist. Wenn die Pegidisten in der Zeitung lesen, sie seien Nazis, denken deshalb nicht wenige von ihnen: Genau wie früher (in ihrem Skoda,- Trabant- oder Wartburg-Rückspiegel sitzt vielleicht kein Kind auf dem Schoß seiner Mutter, sondern ein junger Erwachsener, mit langen Haaren und Angst vor der Stasi).

„Das Verhängnis eine unvollendeten Revolution”

Diesen 68er-Moment, dieses Einüben der politischen Prozesse, dieses Ausüben des Widerstands gegen den Staat, dieses Neuverhandeln des Zusammenlebens, gab es im Osten in dieser Form nie. Beziehungsweise: den gab es bis vor vier Jahren nicht (ist das erst so lang her?), bis aus einer Demonstration „Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ in Dresden eine bundesweite aber vor allem im Osten starke, diffuse Protestbewegung gegen „die da oben“ wurde, gegen die politischen Eliten, die Medien, den Staat in seiner heutigen Form insgesamt.

Es ist ein Irrtum zu denken, dass die friedliche Revolution von 1989 bereits ein solcher 68er-Moment gewesen ist. Sie ist von einer vergleichsweise kleinen, und notwendigerweise häufig im Verborgenen aktiven Gruppe Bürgerrechtler initiiert worden, die praktisch sofort danach wieder irrelevant wurde. Sie strebten mehrheitlich keinen Systemumsturz, keine Revolution an, sondern eine Reform des Bestehenden, eine Reform des demokratischen Sozialismus.

Die Massen, die schließlich den Aufrufen zur Demonstration folgten, lösten eine ganz eigene Dynamik aus, aus ihnen wurde eine viel unkonkretere Bewegung, die die Wiedervereinigung erzwang. Aber es war deshalb eben eher eine nationalistische, als eine demokratische Bewegung.

Nach dem Mauerfall wollte oder konnte sich die Mehrheit der Deutschen nicht mit den Fragen der Demokratisierung beschäftigen. Im „Kampf der Kulturen” (Samuel Huntington) hatte es einen klaren Sieger gegeben: die Demokratie des Westens, und einen klaren Verlierer: den Sozialismus des Ostens. Es war das „Ende der Geschichte” (Francis Fukuyama). Und das war es auch für eine Weile.

Wer etwas gegen den antifaschistischen Staat hatte, der war, na klar, ein Faschist

Zwar wurde diskutiert, ob die DDR gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der BRD beitreten sollte, oder ob sich Vertreter aus BRD und DDR zusammensetzen sollten, um gemeinsam eine neue Verfassung auszuarbeiten, gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes.

Aber im Osten wurden die Parteien gewählt, die gegen eine neue Verfassung und für den schnellen Beitritt waren. Das war auch nachvollziehbar, niemand wußte, wie lange das historische Zeitfenster offen bleiben würde, das die Wiedervereinigung überhaupt erlaubte. Und im Westen fand man: das Grundgesetz von 1949 ist zwar von seinen Verfassern bewusst als vorläufig vorgesehen gewesen, deshalb hieß es ja auch nicht Verfassung, obwohl es eine ist. Aber man könnte es heute schlicht nicht nochmal besser machen. Wenn überhaupt, bräuchte es zunächst eine neue Phase der deutschen Identitätsbildung, lautete die Meinung einiger Intellektueller.

Obwohl weit über hundert westdeutsche Rechts- und Sozialwissenschaftler, ebenso die Autoren vom Runden Tisch, die eine neue DDR-Verfassung entworfen haben, für eine Vereinigung nach Artikel 146 plädierten, hat man sich seither mit dieser Frage nicht mehr tiefer beschäftigt. Wie soll die Identitätsbildung aussehen? Wie viel Zeit will man sich dafür nehmen? Das Thema neue, gesamtdeutsche Verfassung kam in die Wiedervorlage. Und dort liegt es bis heute und raschelt höchstens manchmal, wenn die zerfledderte Akte vom deutschen Leitbild wieder aus dem Schrank gezogen wird.

Auch ansonsten blieben die Ossis bei der Demokratisierung ihres Landes bekanntermaßen häufig Zaungäste. Spitzenpolitiker und -beamte wurden importiert und durften wie kleine Autokraten regieren und verwalten. So haben es dann auch die Lokalpolitiker oft nachgemacht, und viele tun es bis heute.

Dein Land ist jetzt demokratisch, aber du bist es nicht

Die Treuhand erledigte die Transformation zum Kapitalismus, bei wenig Transparenz und so gut wie keiner Mitwirkung der Betroffenen. Die Gewerkschaften konnten in den Betrieben nie die Stärke erreichen, wie das im Westen der Fall gewesen ist. Auch das wäre eine Form des Lernens demokratischer Prozesse gewesen, aber hier war der Neoliberalismus im Weg.

Man könnte noch viele solcher Beispiele aufzählen, aber eines ist mir ganz besonders haften geblieben: Die Weigerung der SPD, ehemalige SED-Mitglieder aufzunehmen.

Die SPD ließ Menschen, die einer demokratischen Partei in einer für sie neuen Staatsform beitreten wollten, nicht herein. Aus damaliger Sicht sicher nachvollziehbar. Man wollte niemanden in den Reihen, der sich mit einer Diktatur gemein gemacht hatte. Aber die SED hatte zum Schluss noch fast zwei Millionen Mitglieder. Davon sind gerade einmal 285.000 beim SED-Nachfolger PDS hängen geblieben, deren Nachfolger Die Linke hat heute noch 60.000 Mitglieder.

Zur Erinnerung: 1946 wurden in Gotha die SPD und die Kommunistische Partei Deutschlands zur SED zwangsvereinigt. Der Bürgermeister von Gotha erzählte mir einmal: „Die SED war bis zum Schluss eine Partei mit Sozialdemokraten und Kommunisten. Ich hatte einen guten Freund, er ist mit 90 Jahren verstorben, der ist 1945 in die SPD eingetreten, 46 wurde er vereinnahmt und war dann in der SED, 89 trat er sofort aus, ging zur SPD und sagte: ‚Ich bin wieder da.‘ Da haben die gesagt: ‚Du Schwein. Was willstn du hier, du bist SED-Bonze, hau ab!‚ ‘ Sowas ist tausendfach passiert, deswegen kommt die SPD hier nicht hoch.”

3.800 Genossen gibt es heute in Thüringen, 3.700 in Sachsen-Anhalt, 4.900 in Sachsen. So viel hat die Partei in einer durchschnittlichen Stadt in Nordrhein-Westfalen.

Unter denen, die die SPD ablehnte, waren auch viele, die während der Wendezeit auf die Straße gegangen waren. Die Botschaft an sie kann nur so angekommen sein: Dein Land ist jetzt demokratisch, aber du bist es nicht.

Was hat das jetzt alles mit Pegida zu tun?

Ich will den Vergleich mit 1968 nicht überstrapazieren. Aber auffällig ist, dass beide Bewegungen zu ähnlichen Zeitpunkten entstanden sind, nämlich eine Generation nach Entstehen der jeweiligen Demokratie, gegen die sie sich auflehnen.

Gemein ist ihnen auch, dass sie zwar von einem breiten Durchschnitt an Menschen getragen, aber von einer Mehrheit der Bevölkerung und der Eliten abgelehnt werden bzw. wurden.

Die 68er sind den Marsch durch die Institutionen gegangen und das bedeutete auch: viele Kompromisse mit dem bestehenden System. So haben sich die 68er und das System gegenseitig verändert, eben weil es auch möglich war, sich gegenseitig zu vereinnahmen.

Und hier fangen die Unterschiede an: Pegida und die AfD haben sich immer weiter radikalisiert, beide sind heute vielleicht schon so unvereinbar mit den Werten unserer Demokratie, dass sie ausschließlich als Gegner wahrgenommen werden müssen.

Genau das ist das vermeintliche Paradox.

Die Auseinandersetzung mit dem heutigen Protest gegen den Staat und seine Eliten in Deutschland scheitert, weil nicht nur die Form des Protests, sondern der Protest insgesamt abgelehnt wird. Er wird zwar nicht mehr niedergeknüppelt. Aber er galt von Anfang an als illegitim, als verfemt, aus der wehrhaften Demokratie im grünen Parka ist eine beleidigte alte Dame in weißen Handschuhen geworden, nach dem Motto: Also wenn Ihnen unsere Politik nicht gefällt, dann gehen Sie doch woanders hin!

#Säxit #Sucksen #Pack

Das ist undemokratisch und liegt eben zum Teil an dem Missverständnis, dass der Osten wie der Westen werden muss oder irgendwann so sein wird, sei es nun 28 Jahre oder 56 Jahre später. Die Geschichte und die Biografien können nicht verändert werden, sie können nur zusammen wachsen - vorausgesetzt, man tut das tatsächlich auch zusammen. Und nicht einer für den anderen.

Es wird erwartet, dass die Leute, die zu Pegida gehen oder die AfD wählen, schon wissen, wie man demokratisch, fair und gewaltfrei gegen eine Regierung oder gegen die Form des Regiertwerdens protestiert - aber wenn es das erste Mal seit der Wende ist, und das heißt für den Osten: das erste Mal in einem demokratischen Staat seit 1933 - woher sollen die Leute die Übung und Kenntnis für diesen Streit haben?

Die Lokalpolitiker und Stadtverwaltungen im Osten, die den Streit vor Ort führen müssten, haben sie nicht. Der Osten hat sein totalitäres Erbe nicht aufgearbeitet und hat deshalb auch kaum Übung darin, Protest konstruktiv auszudrücken. „Wann hätte die auch gesammelt werden sollen? In den Jahren zwischen 1919 und 1933?”, fragt der Politologe Ivan Krastev.

Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland ist immer auch Systemkritik

An diesen Leerstellen (fehlende Übung) tritt ein typischer Effekt auf: Sie werden mit symbolischen Gewaltaktionen gefüllt, wie die Autorin Jana Hensel beschreibt:

„Was wir bei Pegida und der AfD sehen, ist etwas, das wir in der Nachwende-Geschichte Ostdeutschlands immer wieder finden, zum Beispiel an Phänomenen wie in den frühen 90er-Jahren, Rostock-Lichtenhagen oder auch in Hoyerswerda. Wir finden massive Fremdenfeindlichkeit, wir finden Eruptionen von Fremdenhass, die sich gleichsam gegen das demokratische System wenden. Wenn wir über die Unterschiede zwischen Ost und West sprechen, dann ist das ein großer Unterschied. Auch in Westdeutschland gibt es Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Aber der richtet sich nicht gegen das System, während die Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland immer auch ein Mittel war, gegen die da oben zu demonstrieren.”

Der Dresdner Theologe Frank Richter, ehemals Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, nennt das das „Verhängnis der unvollendeten Revolution.”

Vielleicht ist es tatsächlich Zeit zu überlegen, wie ein neuer verfassungsgebender Prozess aussehen könnte und die Reform des Grundgesetzes angegangen werden könnte. In den letzten 28 Jahren und 89 Tagen ist ja nicht nur die Mauer alt geworden. Die Wende war nicht das Ende der Geschichte, es war nur eine Pause. Inzwischen haben sich ein paar andere Annahmen über unsere Welt verändert und fordern eine Reaktion: die Herausforderungen der Globalisierung, Digitalisierung, des Klimawandels; die Möglichkeiten der weiteren europäischen Vereinigung; die Krisen der Parteien und Gewerkschaften; die Folgen eines enthemmten Kapitalismus und Monopolismus; sowie die eben auch die Frage einer gesamtdeutschen politischen Identität.

Das alles sollte möglichst nicht als Reaktion auf Gewalt geschehen, sondern aus dem Verständnis heraus, dass diese verhindert werden muss. Das wird zukünftig nur noch schwerer, wenn diejenigen mit in Regierungsverantwortung kommen sollten, die nur das Mittel der Gewalt kennen, weil sie irgendwann einmal in der DDR abgefahren, aber nirgendwo mehr angekommen sind.


Redaktion/Produktion: Rico Grimm. Fotoredaktion und Aufmacherbild: Martin Gommel.