Im Januar erhält fast jedes Zuhause in Deutschland ein einhundert Seiten dickes Stück Popkultur, den Ikea-Katalog. Kunterbunte Familien tummeln sich auf den Seiten des Glanzdrucks und neben Kvistbro steht meistens auch Poäng. Der schwedische Konzern verkauft nicht nur Möbel, sondern ein Gefühl von heiler Welt – für alle. Na dann, skål!
Der Mann, der die schöne Ikea-Welt aufgebaut hat, ist am Wochenende im Alter von 91 Jahren gestorben. Er heißt Ingvar Kamprad und viele feierten ihn in ihren Nachrufen als „besten schwedischen Unternehmer aller Zeiten” und „König der Selbermacher”.
Was viele nicht wissen: Der Erfolg von Ikea gründet auch auf Zwangsarbeit in Deutschland. In den 70er- und 80er-Jahren haben minderjährige politische Häftlinge in DDR-Gefängnissen Ikea-Produkte, darunter Lampen und Sofas, hergestellt. Bis heute hat der Milliardenkonzern diesen Teil seiner Geschichte nicht richtig aufgearbeitet. Die Opfer von damals warten noch immer auf Entschädigungen. Eine Studie dazu, die der Konzern 2012 in Auftrag gab, ist bis heute unter Verschluss. Einer, der damals für den schwedischen Konzern arbeiten musste, war der Berliner Ralf Steeg.
Weil er versuchte, aus der DDR zu fliehen und eine Zange dabei hatte, um den Grenzzaun zu durchschneiden, warf ihn das Gericht wegen „schwerer bewaffneter Republikflucht” ins Gefängnis. Zehn Monate saß Steeg ein, in vier verschiedenen Anstalten in Halle und Berlin. An einer seiner Stationen, im Jugendhaus Halle, setzte die DDR das neue Jugendstrafrecht um, das sie gerade unter Führung von Margot Honecker erarbeitet hatte. Acht Stunden am Tag gab es Zwangsarbeit, je nach Bildungsgrad, erzählt Steeg heute. „Wer den Grundschulabschluss der 8. Klasse hatte, musste wahnsinnig stupide Arbeit machen, zum Beispiel in Stanzereien.”
„Schaffte es einer nicht, wurde die ganze Gruppe bestraft”
Steeg, damals 17 Jahre alt, musste Lampen produzieren und wusste nicht für wen. „Da stand nur Svit drauf”, sagt er. Im Jugendhaus hätten sich manche selbst die Finger abgestanzt, um aus der Arbeit rauszukommen. „Wir hatten Normen zu erfüllen, die überhaupt nicht zu schaffen waren. Schaffte es einer nicht, wurde die ganze Gruppe bestraft”, sagt Steeg. „Sie sollte sich selbst erziehen.” Exzessives Putzen und Marschieren gehörten zu den beliebtesten Strafformen. Schließlich kaufte ihn die Bundesrepublik für 80.000 DM frei.
Nach seiner Freilassung zog Steeg nach West-Berlin, um sein Abitur abzuschließen. Froh darüber, dass er sein Leben endlich selbst bestimmten konnte, ging er ins Möbelhaus, um seine neue Wohnung einzurichten. Bei Ikea im „heiligen” Westen stolperte er über die Lampen mit der geheimnisvollen Beschreibung Svit - und merkte, für wen er gearbeitet hat. Es sei, sagt er, „zum Kotzen” gewesen. „Zu sehen dass eine Firma wie Ikea ihre Waren von Häftlingen produzieren lässt, hat mich aus der Bahn geworfen”, sagt er heute.
Ausschnitt aus der Zeitung »Hilferufe von drüben«, 1978
Steeg meldete sich 1978 bei einem Journalisten in Westdeutschland und erzählte seine Geschichte für die Zeitung „Hilferufe von drüben. Zeitung für die Opfer der kommunistischen Diktatur in der DDR”. Der Journalist meldete sich bei Ikea. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte der Konzern also wissen müssen, dass er in der DDR minderjährige politische Häftlinge beschäftigte, so Steeg. Wie reagierte der Konzern? Erstmal gar nicht.
Entschuldigung ja, aber Entschädigung nein
Erst mehr als 30 Jahre später kommt Ikea in Bewegung, als der Westdeutsche Rundfunk das Thema 2011 aufgreift und daraufhin auch schwedische TV-Sender berichten. Nun verurteilt Ikea die Beschäftigung von politischen Gefangenen in der Produktion „aufs Schärfste” und gibt bei den Wirtschaftsprüfern von Ernst & Young eine Studie über die Zwangsarbeit im Konzern in Auftrag.
Diese wird aus Gründen des Datenschutzes nie veröffentlicht, kommt aber während einer öffentlichen Präsentation der Untersuchungsergebnisse zu einem klaren Fazit: „In einzelnen Produktionsstandorten und Zulieferbetrieben der ehemaligen DDR wurden unter anderem durch politische Gefangene und Strafgefangene mindestens Zubehörteile für Ikea-Artikel hergestellt.“
Der Deutschland-Chef von Ikea entschuldigte sich danach, aber eine Entschädigung wurde nicht gezahlt. Die Aufarbeitung des Möbelgiganten hält Ralf Steeg für eine Farce. „Niemand weiß, was in der Studie drin steht. Niemand weiß, ob die Leute, die damit beauftragt wurden, das auch objektiv und unter den dafür anzulegenden, wissenschaftlichen Kriterien gemacht haben.”
Die deutsche Wirtschaft hat NS-Zwangsarbeiter entschädigt
Dabei haben sich andere Unternehmen - wenn auch widerwillig - ihrer Geschichte gestellt. Die fünf Milliarden schwere „Bundesstiftung zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern” wurde zur Hälfte vom Staat und zur Hälfte von der deutschen Wirtschaft getragen. Unternehmen wie die Deutsche Bank, BASF und Porsche zahlten in den Fonds ein. Insgesamt beteiligten sich über 6000 Konzerne. Manche dieser Firmen, etwa die Lufthansa, beauftragten auch Historiker, ihre Geschichte aufzuarbeiten und veröffentlichten diese Werke dann - wenn auch wiederum widerwillig. In Japan zahlte Mitsubishi chinesischen Zwangsarbeitern vor zwei Jahren mehr als 50 Millionen Dollar aus.
Allerdings ist Ikea auch das einzige Unternehmen, dass sich bisher dafür entschuldigt hat, in der DDR Häftlinge ausgenutzt zu haben. Eine Studie der „Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft” (von Ikea finanziert) fand heraus, dass auch Firmen wie Aldi, Quelle und Siemens Zwangsarbeits-Produkte verwerteten. Sie alle wickelten ihre Geschäfte zentral über die „Treuhandstelle für Interzonenhandel” ab.
Beide Länder, BRD wie DDR, glaubten, von diesen Geschäften zu profitieren. Die Bundesrepublik wollte ihre wirtschaftliche Überlegenheit demonstrieren, während die DDR glaubte, auf diesem Weg ihre staatliche Souveränität zu festigen. Für die West-Firmen war es einfach eine billige Möglichkeit, ihre Produktion auszulagern.
Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, sagte der Süddeutschen Zeitung: „Die Firmen müssen sich die Frage stellen, ob sie es sich zu leicht gemacht haben.” Zu wenige hätten bisher aufgeklärt, was damals geschah. Und genau das sei die Voraussetzung für Entschädigungen.
„Dieses Gefühl, den Staat besiegt zu haben, ist eine unglaubliche Befreiung”
Auf die Frage, warum die Opfer von Zwangsarbeit in den Gefängnisanstalten der DDR nicht von Ikea entschädigt worden sind, erhielten wir von Ikea bislang noch keine Antwort. Die Zahl der politischen Gefangenen in der DDR, wird auf 200.000 geschätzt. Fast alle wurden zur Zwangsarbeit gezwungen.
Steeg ist heute 56 Jahre alt und sitzt in einem Büro mit Blick über den Osthafen der Spree. In seinem neuen Leben geht er spannenden Aufgaben nach - der Frage etwa, wie man das Wasser der Spree verbessern kann. Jahrelang hatte er sich nicht mit dem Gespenst der Zwangsarbeit für Ikea befasst. „Im Prinzip verdrängt man das, weil es zu hart ist. Ich wollte das mit einer neuen Freude aus meinem Leben verdrängen; ein normales Leben führen.“
Jugendanstalt Halle, 2015 © Ralf Steeg
Erst als er vor zwei Jahren an seiner Biografie „Der Wassermann” arbeitete, besuchte er nochmals das Jugendhaus in Halle. Als Steeg dort inhaftiert war, durfte er die Gittertür seiner Zelle nicht anfassen. Er sagt: „Wenn man dann als ehemaliger Häftling so eine Gittertür aufmachen kann, ist es eine unglaubliche Befreiung – dieses Gefühl, den Staat besiegt zu haben.”
Redaktion: Christian Gesellman, Theresa Bäuerlein. Fotoredaktion: Martin Gommel (Aufmacherbild: iStock / tunart)