Sie diskutierten viel über Furchtlosigkeit, damals im Sommer 2015, an den Ufern der Donau zwischen Kroatien und Serbien, in der Ecke der autonomen Provinz Vojvodina, an der ungarischen Grenze und damit an den Grenzen der Europäischen Union. Furchtlosigkeit und politische Vernunft, beide waren wichtig bei diesem Experiment einer Staatsgründung mitten in Europa. Es ging darum, an Ort und Stelle Fakten zu schaffen. Genau das hatte zwei Monate zuvor, am 13. April 2015, der tschechische libertäre Politiker Vit Jedlicka gemacht.
Von Jugend an hatte Jedlicka die Schrift „Das Gesetz“ fasziniert. Ihr Verfasser ist der französische Ökonom Frederic Bastiat, einer der Gründer des libertären Denkens, das so wenig Staat wie möglich will. Jedlicka studierte am libertären Cevro-Institut in Prag zur Schule. Später kämpfte er dafür, sein Programm in der tschechischen Party of Free Citizens umzusetzen, der er damals angehörte.
In einer nur sieben Quadratkilometer großen unbewohnten Enklave auf der kroatischen Seite der Donau stellte Jedlicka am 13. April 2015 also die Flagge seines neuen Staates Liberland auf.
Das Datum war kein Zufall. Es ist ein Symbol für die Verbindung zu den Gründungsvätern der amerikanischen Verfassung, allen voran Thomas Jefferson, dessen Geburtstag der 13. April ist. Den Skeptikern hielt Jedlicka entgegen: „Sieben Quadratkilometer, das ist größer als der Vatikan oder Monaco. Wir werden in die Höhe bauen!“
Ein Land ohne Herrn
Auf diesem Stück Land, das von Mücken verseucht ist und auf dem Hirsche und Füchse leben, will Vit Jedlicka einen ultra-liberalen Staat schaffen. Dort sollen die Prinzipien der Verfassung von Liberland, die er ausgearbeitet hat, umgesetzt werden. Das Motto des neuen Landes ist klar und lautet kurzgefasst: „To live and let live“ - leben und leben lassen.
Die Flagge Liberlands zeigt mit wenigen Symbolen das ganze Programm: Der Hintergrund ist gelb – die Symbolfarbe für Gold und freien Markt – und wird vom schwarzen Band des Anarchismus durchschnitten. Darauf prangt ein Wappen, auf dem aus dem Blau der Donau die Friedenstaube hoch zum Baum der Fülle steigt.
Am Gründungstag waren sie zu dritt: der Politiker, seine Verlobte und ein alter Studienkollege. Bei der Wahl des Präsidenten enthielt sich Jedlicka und gewann sie mit zwei Stimmen. Damit war er der erste Präsident von Liberland. Die Wahl seines Staatsgebiets mag absurd wirken. Sie warf aber komplizierte und potenziell brisante diplomatische Fragen auf.
Als er nach einem Ort suchte, wo er Liberland gründen konnte, fand Jedlicka auf Wikipedia eine Liste mit der Überschrift „Terra Nullius“ – Niemandsland. Als „Terra Nullius“ werden die wenigen Gebiete auf unserem Planeten bezeichnet, die keinem anderen Land zugeordnet sind.
Das sind heutzutage nur noch ein paar, darunter die Enklave an der Donau. Jedlicka erwog auch ein größeres Gebiet an der Grenze zwischen Süd- und Nordsudan, aber die Lage war denkbar unpraktisch. Den entscheidenden Ausschlag gab aber, dass das Gebiet, auf dem Liberland später ausgerufen wurde, nicht allzu weit von Prag entfernt ist, wo sein heutiger Präsident lebt.
Kafkaeske Geschichte
Zoran Drazic ist serbischer Geograf, der laut eigener Aussage ein paar Monate lang Liberlands offizieller Botschafter in Serbien war. Er erzählte uns, was nach dem Jugoslawien-Krieg mit dem heutigen Liberland-Gebiet geschah: „1992 diente die Donau als natürliche Grenze zwischen den beiden feindlichen Staaten Serbien und Kroatien. Allerdings wurde die Grenze nie offiziell festgelegt. Im 19. Jahrhundert wurde der Lauf der Donau verändert, damit das Wasser besser abfließen konnte, und dank der Altarme entstanden auf beiden Seiten des Flusses kleine Inseln.“ Wenn die Donau Hochwasser führt, überflutet sie die Inseln.
Offenbar waren diese kleinen Gebiete nicht von so großem strategischem Interesse, dass sich der Internationale Gerichtshof in Den Hague, der die Staatsgrenzen festlegt, damit befasst hätte. Doch je nachdem, ob man den alten oder den aktuellen Donaulauf berücksichtigt, befinden sich auf der kroatischen Seite mehrere serbische Gebiete und mehrere kroatische Gebiete auf der serbischen Seite. Ein kafkaeskes Chaos!
Ein Status quo, der auch nach dem Beitritt Kroatiens zur EU weiterbestand. Ganz abgesehen davon, dass das Land offiziell gefordert hatte, in den Schengen-Raum aufgenommen zu werden. Man kann die Verärgerung der kroatischen Behörden verstehen, als Liberland dieses Gebiet beanspruchte: Es zeigte, dass sie ihre Grenzen nicht sauber gezogen hatten. Aber dazu später mehr.
Das Wetter war schön an jenem Tag im April. Auf dem Foto, das aus diesem Anlass gemacht wurde, sieht man den fröhlichen Präsidenten, der stolz die Flagge Liberlands hält, im Hintergrund nichts als eine Bruchbude und grüne Natur. Nachdem er die Flagge aufgestellt hatte, hielt Jedlicka vor dem spärlichen Publikum eine Rede. Der Schnappschuss und die Pressemitteilung wurden sofort auf der Internetseite des neuen Staates veröffentlicht. Eine regelrechte Flut an Anträgen auf Staatsangehörigkeit war die Folge. Innerhalb weniger Wochen gab es mehr als 140.000 Anträge. Viele Menschen wollten in das Gebiet ziehen, denn Jedlicka versprach: keine Steuern, totale Freiheit, keine Armee, Drogenliberalisierung – und das alles in einem Staat, der nur minimal in Erscheinung tritt. Den Präsidenten allerdings störten die Herkunftsländer seiner künftigen Bürger: Viele Anträge und E-Mails kamen aus Tunesien, Ägypten, Libyen und der Türkei – aus Ländern also, in denen das Wort Freiheit eine ganz andere Bedeutung hat als für ihn.
Wikinger des digitalen Zeitalters
Im Mai dann kam aus Nordeuropa eine Gruppe dänischer Neolibertärer an, die diesem Sommer in Liberland ihren eigenen Stempel aufdrückte. Ihre Präsenz in der Geschichte der neuen Nation war kurz, aber entscheidend.
Dass Liberland ausgerechnet Skandinavier anzog, wirkt auf den ersten Blick paradox. Doch in Dänemark – einem Wohlfahrtsstaat mit etwas mehr als fünf Millionen Einwohnern, darunter viele Neoliberale – erlebten die Libertären die Einmischung des Staates als Hindernis für individuelle und unternehmerische Freiheit. Übers Internet erfuhren sie von der Existenz Liberlands. Ihre Überlegung war dann einfach. Sie nahmen die libertären Prinzipien wörtlich und beschlossen: Wenn schon jemand Liberland ausruft, warum nicht wir? Sie schufen die LSA (Liberland Settlement Association) und teilten die Aufgaben auf. Vit Jedlicka übernahm die diplomatische Vertretung und die Medienarbeit, die LSA den operativen Teil – schließlich sollte das Land ja auch besiedelt werden.
Die LSA wurde von Niklas Nikolajsen geführt, einem charismatischen Dänen und Bitcoin-Händler, der in der Schweiz wohnte. Bald floss auch Geld nach Liberland. Gerüchten zufolge gibt es sechs Hauptspender, und Spenden kommen in Bitcoin über soziale Netzwerke. Bis heute ist es schwierig, die tatsächlichen Summen zu beziffern, die geflossen sind. Im Juli 2015 jedenfalls erklärte Nikolajsen: „Wir haben 10.000 Dollar.“ Ganz in der Tradition von Eroberern und Entdeckern postete die LSA auf ihrer Facebook-Seite eine Einladung, sich ihr anzuschließen und das gelobte Land zu besetzen.
In diesem Sommer war der Himmel jeden Tag blau. Die Bewohner des kleinen Dorfes Bezdan auf der serbischen Seite beobachteten erstaunt die Ankunft von Jugendlichen, die sich hier an einer Bruchbude trafen. Die ständigen Mitglieder der LSA hatten die ehemalige Jagdhütte, ein paar Kilometer Luftlinie von Liberland entfernt, gemietet und dort Ende Mai ihr Hauptquartier eingerichtet.
Das Gebäude hatte einen schlechten Ruf, weil es mit der serbischen Mafia in Verbindung gebracht wurde. Aber es bot modernen Komfort, wie man ihn in einer abgelegenen Gegend sonst selten findet. Vor dem kameraüberwachten Eingang standen Autos mit Kennzeichen aus ganz Europa. Im Dorf konnte man im Sommer eine kosmopolitische bunte Mischung von jungen Leuten treffen, die alle Englisch sprachen und von den gleichen libertären Ideen beseelt waren. Sie waren leicht daran zu erkennen, dass sie in Cafés über Macbooks gebeugt saßen. Auch auf der Straße sahen sie nicht wie Leute aus, die aus der Gegend kamen.
Zwischen Mai und September kamen 400 Besucher, einige blieben nur für ein paar Stunden, andere mehrere Wochen lang. Manche kamen von weit her, aus Brasilien und den USA, eine Handvoll Tollkühner hatte nicht einmal ein Rückflugticket in der Tasche.
Schon im April hatte Serbien offiziell angekündigt, dass es die Annexion des Territoriums von Liberland als „nichtig“ betrachtet. Daran hat sich seither nichts verändert. Die Serben denken aber pragmatisch und sind durchaus an Entwicklungen interessiert, die ihrem Land zugutekommen könnten. Dieser neue Staat an der Grenze, der aus dem Nichts auftauchte, war immerhin ein herrlicher Grund, sich über die Kroaten lustig zu machen.
Die LSA bewegte sich frei auf der serbischen Seite. Ihre Mitglieder gingen dort einkaufen, verhandelten über Preise oder besorgten die umfangreiche Ausrüstung, die sie für die Eroberung von Liberland brauchten, wie etwa Motorboote für den Transport. Bald wurden sie mit der in Serbien üblichen Korruption konfrontiert, die hier jede Transaktion begleitet.
Der Viertakter, den sie erstanden, war schon ein paar Tage nach dem Kauf kaputt. Der Motor fiel buchstäblich vom Fahrzeug ab, als sie den Weg zur Mosquito-Insel an den Donau-Ufern einschlugen, die genau gegenüber Liberland auf der serbischen Seite liegt. Die Miete der Mafia-Villa stieg auf 1.000 Euro pro Monat. Das Motorboot, das sie als Schnäppchen vom Besitzer einer Kneipe am Flussufer gekauft hatten, war nur dank eines obszönen Schmiergelds zu haben. Der ehemalige Besitzer klaute das Boot sogar einmal zurück und verlangte ein weiteres Bündel serbischer Dinare.
Auch wenn sie ihnen nicht offen entgegentraten, machten die Serben doch deutlich, dass Geschäftemachen auf dieser Seite des Balkans eine abenteuerliche Sache ist. Trotzdem sind sie bis heute aufgeschlossen gegenüber der Gruppe von Aktivisten, die bei ihnen eingedrungen ist. Sie behandeln die nervigen Jugendlichen mit ihren libertären Ideen, die aus reichen und entwickelten Ländern kommen, mit amüsierter Neugier.
Politik verstehen die Serben fast instinktiv. Sie wissen allzu gut, dass sie verheerend sein kann. Für sie ist das Wort Freiheit mit dem Ballast der Geschichte beladen.
Diese Reportage wurde auf Französisch von unserem Partnermagazin „8e étage“ veröffentlicht. Das unabhängige Onlinemagazin konzentriert sich auf Geschichten, die im harten Nachrichtenalltag vergessen wurden. Wie Krautreporter ist der Journalismus von „8e ètage “ werbefrei und nur von den Lesern finanziert. Wer Französisch liest, kann hier Mitglied werden.
Vera Fröhlich hat den Text übersetzt; gegengelesen hat Theresa Bäuerlein; das Aufmacherfoto hat Martin Gommel ausgesucht.