Warum Millionen Wähler ihre Stimme ganz bewusst „vergeudet” haben
Politik und Macht

Warum Millionen Wähler ihre Stimme ganz bewusst „vergeudet” haben

Mir haben mehr als 1.200 Menschen erzählt, warum sie die kleinen Parteien wie die Piraten, die Freien Wähler oder Die Partei wählen – und trotzdem nicht glauben, dass sie damit ihre Stimme verschenken.

Profilbild von Rico Grimm
Politik- und Klimareporter

Es hat mich nicht überrascht, dass die große Koalition bei der Bundestagswahl so entschieden abgewählt wurde. Ich hatte es schon geahnt, weil ich vor der Wahl die Wähler kleiner Parteien gebeten hatte, mir ihre Gründe für ihre Entscheidung zu erklären. Ein Motiv tauchte da immer wieder, parteiübergreifend, auf: der Stillstand im Land müsse ein Ende haben. Etwas lag in der Luft.

Und mit ihrer Wahl wollten viele Wähler kleinerer Parteien ein Zeichen setzen, aber wofür und wogegen? Das unterscheidet sich von Partei zu Partei. Ich habe mir die Antworten für die sechs größten der kleinen Parteien angeschaut. Wähler der NPD hatten sich nicht bei mir gemeldet.

1. Freie Wähler, 1 Prozent

Die Freien Wähler wollen die deutschen Kommunen stärken, fürchten auf europäischer Ebene eine „Schuldenunion” und setzen sich für Volksabstimmungen ein. Sie sind die größte der kleinen Parteien. Ihre stärksten Ergebnisse erzielten sie in Niederbayern und der Oberpfalz nahe der tschechischen Grenze. Diese Wahl war erst die zweite, bei der sie auch bundesweit antraten. Von den sieben Antworten, die ich zu dieser Partei bekam, bestanden fünf aus Kritik an den „großen Parteien”. Die stärkste Begründung: „Für die Demokratiedefizite in Deutschland sind auch die etablierten Parteien mitverantwortlich.” Ein Teilnehmer schrieb aber auch: „Die Freien Wähler vertreten meine Interessen auf regionaler Ebene.” Traditionell legen die Freien Wähler einen Schwerpunkt auf die Kommunal- und Landespolitik – das beeinflusste wohl auch die Wahl einiger Menschen bei dieser Bundestagswahl.

2. Die Partei, 1 Prozent

Über keine andere kleine Partei wurde – zumindest im linksliberalen, städtischen Milieu – vor der Wahl so viel diskutiert wie über die ehemalige Satirepartei Die Partei. Die taz fand sie „elitär, bourgeois und amoralisch”. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier schrieb auf Twitter: „Möge jeder wählen, was er will. Aber wer die PARTEI wählt, soll sich nicht vormachen, er hätte damit etwas gegen die AfD getan.” Woraufhin Parteigründer Martin Sonneborn wiederum sehr ernst und völlig ohne Ironie antwortete: „Wir haben Die PARTEI 2004 gegründet, weil wir absolut nicht mehr wussten, welche Partei man noch guten Gewissens wählen kann. Solange sich diese Situation nicht ändert, hat Die PARTEI ihre Existenzberechtigung.”

Die Partei ist der größte Gewinner unter den Kleinen: sie gewann im Vergleich zur letzten Wahl 0,8 Prozent dazu. Vor allem in den Großstädten fand sie Unterstützung – das spiegelte sich auch in meiner Umfrage.

Zu keiner anderen Partei erhielt ich mehr Antworten. Manche gaben einfach den Wahlkampfslogan Der Partei („Die Partei ist sehr, sehr gut”) wieder, andere nahmen sich Zeit für eine ernsthafte Antwort. Und diese Antworten lassen keinen Zweifel: Es geht den Wählern Der Partei um Protest, aber den in ihren Augen richtigen: „Ich fühle mich von keiner der etablierten Parteien vertreten, möchte meine Stimme aber dennoch gegen demokratiefeindliche, rechte Tendenzen einsetzen”, schrieb ein Teilnehmer. Ein anderer: „Alle großen Parteien sind mehr oder weniger für den aktuellen Status quo verantwortlich.” Es gehe um eine „intelligente Protestwahl” und darum, „dem aktuellen politischen Spektrum den Spiegel vorzuhalten”. Dies gelinge Der Partei bereits im Europaparlament, wo sie einen Abgeordneten hat.

In meinen Augen wichtig: Der Partei gelingt es, systematisch die Protestwähler zu binden, die nicht AfD oder Linkspartei wählen wollen. Sollte die große Koalition wider Erwarten weitermachen oder die Jamaika-Koalition das Land nicht weiter voranbringen, wird Die Partei bei den nächsten Wahlen noch mehr dazugewinnen.

3. Tierschutzpartei, 0,8 Prozent

Der Name ist Programm. Diese Partei trat nicht in allen Bundesländern an, war aber auffällig stark rund um Berlin. Warum haben die Menschen sich dieser Partei zugewandt? „Letztlich, weil ich zum ersten Mal nicht weiß, welche von den Großen ich wählen soll – und ich zumindest eindeutig zum Tierschutzgedanken stehen kann.” Aber auch aus diesem sehr einleuchtenden Grund: „Wenn niemand kleine Parteien wählt, weil er denkt, dass er damit nichts bewirken kann, erhalten die Parteien nie die notwendigen Stimmen, um eine Änderung bewirken zu können.”

4. Piraten, 0,4 Prozent

Bei den Piraten gibt es ein sehr klares, sehr einheitliches Bild. Die große Mehrheit ihrer Wähler hat sich für diese Partei entschieden, weil sie deren Themen unterstützen will: digitaler Wandel und Bürgerrechte. Damit unterscheiden sich die Piratenanhänger von den Wählern der anderen Parteien. Sie haben für etwas gestimmt und weniger gegen etwas. Heute scheinen nur noch jene Menschen die Piraten wählen, die wirklich von ihnen überzeugt sind – anders als früher, als die Partei viele Protestwähler anzog.

5. ÖDP, 0,3 Prozent

Die Ökologisch-Demokratische Partei war ebenso wie die Freien Wähler vor allem in Bayern erfolgreich. Da aber eher in Oberbayern, nahe der österreichischen Grenze. Auch viele Wähler der ÖDP sagten mir – ähnlich wie bei den Piraten –, dass sie vor allem die Inhalte der Partei angezogen haben. Allerdings sagte eine Minderheit auch, dass sie größere Parteien wählen würden – wenn die mal echte Fortschritte erzielen würden.

6. Bündnis Grundeinkommen, 0,2 Prozent

Diese Partei war am Tag der Bundestagswahl kaum älter als ein Jahr, und trotzdem gelang es ihr, in allen Bundesländern wirklich anzutreten. Dabei konnte sie aber ihre größten Erfolge im Osten und Norden der Republik erzielen. Bayern und Nordrhein-Westfalen waren für die Partei schwieriges Terrain.

Ihre Wähler eint ein Anliegen: Sie wollen das Thema Grundeinkommen setzen. Manche hofften auch, dass die Partei Gelder aus der staatlichen Parteienfinanzierung bekommen würde, aber diese Teilnehmer stellen nicht die Mehrheit. Am deutlichsten drückt es dieser Teilnehmer aus: „Ich habe das Bündnis Grundeinkommen gewählt, weil nur bei dieser Ein-Themen-Partei meine Stimme von allen künftigen Abgeordneten als Pro-Grundeinkommen gewertet werden muss und selbst bei weniger als 5 Prozent eine Wirkung erzielen wird, insbesondere wenn es von Wahl zu Wahl immer mehr werden.”


Meine kleine Auswertung zeigt, dass sich die Wähler der kleinen Parteien grob in zwei Gruppen aufteilen lassen: diejenigen, die wirklich für ein bestimmtes Thema brennen (vor allen Piraten, Tierschutzpartei, BGE, ÖDP), und jenen, die ihre Stimme nutzen wollten, um den anderen etablierten Parteien ein Signal zu senden (Freie Wähler, Die Partei). Wobei die zweite Gruppe vermutlich deutlich größer ist als die erste – einfach, weil diese beiden Parteien deutlich mehr Wähler als die anderen anzogen. Interessant ist in diesem Fall auch die Partei Demokratie in Bewegung, die vergleichsweise geringe 0,1 Prozent bekam und deswegen nicht in der Liste oben auftaucht. Bei ihr hielten sich Protestwähler und Idealisten in etwa die Waage.

In dem Dokument findest du wirklich alle Antworten – auch von Wählern der AfD, Linkspartei, Partei der Humanisten, Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, V-Partei (entsprechende Antworten jeweils verlinkt).


Theresa Bäuerlein und 1.200 KR-Leser haben bei der Erarbeitung des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; Martin Gommel hat das Foto ausgesucht (istock/siraanamwong).