Als Willy Brandt im März 1970 als erster Bundeskanzler in die DDR fuhr, nahm er den Zug. Diese Reise wurde zu einem der größten Momente in der Geschichte der SPD. Das grenznahe Erfurt war mit sowjetischer Hilfe als Treffpunkt für den ersten Gipfel der beiden deutschen Staaten ausgemacht worden, und der Sonderzug aus dem Westen rollte um 9.26 Uhr auf dem Hauptbahnhof ein.
DDR-Regierungschef Willi Stoph holte Brandt am frisch gestrichenen Bahnsteig ab, beide sagten höflich Guten Tag!, Schönes Wetter!, Daran soll’s nicht liegen!, und wollten eigentlich nur schnell zu Fuß ins gegenüberliegende Hotel Erfurter Hof gehen. Aber zehntausende Menschen waren durch die Stasi-und-Volkspolizisten-Ketten auf den Bahnhofsvorplatz gebrochen und flippten völlig aus.
Sie klatschten und winkten und riefen „Willy, Willy“, und bald, zurecht besorgt, dass Willi Stoph am Ende denken könnte, er sei gemeint, riefen die Leute „Willy Brandt, Willy Brandt“, und die ganze diplomatische Delegation wurde beinahe erdrückt, nur mit Mühe und der Hilfe der Bodyguards schafften es die Willis ins Hotel.
„Willy Brandt ans Fenster“ forderte die Menschenmasse nun, die noch immer darauf wartete, endlich mit Schlagstöcken auseinander getrieben zu werden, und Brandt kam auch, winkte einmal, lächelte, nicht zu viel, um die Gastgeber nicht vollends zu blamieren, es brandete Jubel auf, und dann ging der Sozialdemokrat zum Gipfel-Gespräch mit den Genossen von der anderen Seite der Mauer. Am Abend standen immer noch Menschen unten und riefen nach Willi, aber diesmal waren es organisierte Rufer, extra angefahren von der Bezirksparteischule, und sie riefen nach Stoph.
Die Geburtsstätten der deutschen Sozialdemokratie liegen in Thüringen und Sachsen
Die SPD ist die vierte Partei, um die es in meiner Wen-wählen-Serie geht. Brandts prägender Besuch, der Auftakt der neuen Ostpolitik der BRD, ist der Grund dafür, dass ich 47 Jahre später an einem heißen Mittwochabend Ende August am Erfurter Hauptbahnhof ankomme. Ich bin auf der Suche nach dem, was die SPD ausmacht, und in Erfurt soll heute SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz auf dem Domplatz auftreten. Und vom Dach des ehemaligen Erfurter Hofs glotzt der riesige Schriftzug „Willy Brandt ans Fenster“ auf den leeren Vorplatz wie ein unterdrückter Schrei.
Ich bereue in dem Moment ein wenig, dass ich vorher so viel über Willy Brandt und die Geburtsstätten der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert gelesen habe, die alle hier im Umkreis liegen, in Thüringen und Sachsen: Gotha, Eisenach und Leipzig. Irgendwie erwarte ich jetzt nämlich was Besonderes, dass die Leute wie bei einem Festival mit mir zum Domplatz strömen zum Beispiel.
Aber es ist natürlich nicht 1970 und auch nicht 1990, sondern 2017, das Jahr, in dem politische Kabarettisten darüber klagen, dass ihnen langweilig ist, und auf dem Domplatz sieht es eher wie auf einer Berufsmesse als auf einem Festplatz aus. Auf einer riesigen Bühne kündigt der Sänger einer Rockpopschnulzband an, dass der Veranstalter gerade gesagt hat, sie sollen noch ein paar spielen. Auf einer Videoleinwand zeigt ein Mega-Schulz den ausgestreckten Daumen. Vor der Bühne sitzen die Ehrengäste im Glashaus, und auf Höhe des Bratwurststandes verteilen Jusos in roten T-Shirts Fähnchen und Flyer und tiefe Gespräche.
Bei Martin Schulz’ Auftritt schreien die Jusos rechte Störer nieder
Als Martin Schulz dann kommt, fallen sich die Leute reihenweise in die Arme, nachdem sie ihm die Hand geschüttelt haben. Nur ein kleiner Kreis Aufmüpfiger durchbricht den Applaus mit Trillerpfeifen und Vuvuzelas und „Hau ab!”-Rufen. Im Mittelpunkt der Störer sitzt ein Mann, der einen kleinen Flaggenmast mit Deutschlandfahne an seinen elektrischen Rollstuhl gebunden hat, um ihn herum wütende Typen mit AfD-Fahnen. Sie sind vielleicht 20 Leute, machen aber mehr Lärm als die restlichen 300 auf dem Platz, die Polizei stellt sich schützend vor alle SPD-Fahrzeuge, und Schulz ist so irritiert, dass er mehrmals den roten Faden in seiner Rede verliert.
„Auf Genossen, mit den Fahnen davor stellen“, treibt ein junger SPD-Anhänger die leicht schockierten Jusos an, und die nehmen die roten Fahnen und umzingeln die AfD-Anhänger nun wie in einem Karl-May-Roman. Immer, wenn die AfD-Leute „Lügner, Lügner“ rufen, übertönen die SPD-Leute sie mit „Martin, Martin“.
„Ihr Kasperköppe! 43 Jahre und vier Monate hab ich gearbeitet, und was hab ich denn jetzt?“, ruft der Mann im elektrischen Rollstuhl, aber die Jusos um ihn herum schreien inzwischen alle ihren eigenen AfD-Mann an, eine wahre Streitorgie, eine Game-of-Thrones-mäßige Schlacht der Debatten, Männer gehen armefuchtelnd auf die Zehenspitzen, pusten sich Rauch ins Gesicht – ist das nicht das, was unsere politischen Kommentatoren gerade alle so vermissen? Ich weiß es nicht. Aber an was es im Land derzeit mit Sicherheit nicht fehlt, ist Streit.
Irgendwann entscheidet sich dann auch Martin Schulz, das Gezeter nicht mehr zu ignorieren und weicht von seiner Standardrede ab. „Beruhig’ dich“, ruft er einem AfD-Typen mit Trillerpfeife zu, „du kriegst auch ein bisschen mehr Geld, wenn wir an der Regierung sind.“
SPD stimmte 1933 als einzige Partei gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz
Dann kommt er in Fahrt: „Diese Organisation von Hetzern ist keine Alternative, sondern eine Schande für Deutschland! Denen kann man nur sagen: Wir lesen, was ihr im Internet schreibt, und wenn ihr uns als die Hauptfeinde ausgemacht habt, dann sind wir auf der richtigen Spur!“
Das Publikum, nicht nur die Jusos, antwortet nun mit „Nazis raus!”-Rufen und lässt sich dann von Schulz dankbar daran erinnern, dass es diese Partei war, die SPD, die als einzige 1933 gegen Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, und deren Mitglieder für ihren Widerstand gegen die Nazis zu Tausenden in den Konzentrationslager gestorben sind oder emigrierten mussten wie Willy Brandt. Die AfD-Leute stören dann aus Trotz noch ein bisschen weiter, die meisten machen aber kurz darauf einen Knoten in ihre Aldi-Tüte und gehen nach Hause.
Und bei der SPD ist man am Ende vielleicht sogar genauso froh, dass die AfDler gekommen sind, wie darüber, dass sie gegangen sind. Endlich mal wieder eine gewonnene Schlacht. Das Problem der SPD ist ja nicht, dass sie verlernt hat zu kämpfen – sie kommt halt nur nicht mehr dazu, seitdem sie mit dem einzigen ernsthaften Gegner Frieden geschlossen, die Koalitionspfeife geraucht hat.
Die SPD stellt die meisten Bürgermeister, hat bei den Bundestagswahlen aber keine Chance
Wenn man Grüne fragt, warum sie in ihre Partei eingetreten sind, dann sagen die oft Tschernobyl. CDUler häufig: Karriere. SPD-Mitglieder wirken immer ein bisschen baff über die Frage. Welche andere Partei denn bitte? Die SPD ist die älteste, größte und auch die einnahmenstärkste Partei Deutschlands und ohne Zweifel auch die mit den meisten Errungenschaften. Trotzdem reichte es bei den letzten beiden Bundestagswahlen nur für 23 und 25,7 Prozent der Stimmen, und nach einem Wahlsieg sieht es dieses Jahr auch nicht so wirklich aus.
In den Heimatländern der Sozialdemokratie, in Thüringen und Sachsen, kriegt die SPD heute erst recht keinen Fuß auf den Boden bei Bundestagswahlen. Fast alle Direktmandate gehen an die CDU. Was merkwürdig ist, wenn man bedenkt, dass die SPD in fast allen Großstädten hier die Oberbürgermeister stellt und zumindest als Juniorpartner in den Landtagen mitregiert.
Einer dieser Oberbürgermeister ist Knut Kreuch. Er amtiert in Gotha, eine halbe Stunde mit dem Zug von Erfurt entfernt, und ich verabrede mich mit ihm, weil er mir die Krise der SPD vielleicht am besten erklären kann. In Gotha, im ehemaligen Brauhaus Tivoli, vereinigten sich 1875 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, die sich später in SPD umbenannte.
Als ich in Gotha ankomme, dem ehemaligen Großherzogtum, aus dem Könige von England, Belgien, Bulgarien und Portugal stammen, rechne ich natürlich damit, dass auch hier irgendwo ein Schloss rumsteht. Aber in Gotha staune ich trotzdem. Über das riesige Schloss Friedenstein, der größte frühbarocke Feudalbau in Deutschland, inklusive dem ältesten Englischen Garten auf dem Kontinent, das herzogliche Museum, die Orangerie und so weiter.
In Gotha wurde die SPD 1946 mit der KPD zur SED zwangsvereinigt
Alles schön saniert und sauber wie geleckt, das kleine Gotha. Aber auf dem Marktplatz stehen im strahlenden Sonnenschein die Stühle der Cafés leer. Hier und da am Rand sitzen Rentner auf einer Bank. Am Seiteneingang der Augustinerkirche stehen drei Männer für Weiße-Bohnen-Suppe an, die Kleiderkammer der Diakonie hat in bester Innenstadtlage eröffnet. Ein ungarischer Autofahrer wird gerade von einem Polizisten aufgeschrieben, weil er in die Fußgängerzone gefahren ist. „Aber Hauptsache BMW fahren”, kommentiert ein übelgelaunter Typ, der mit seiner Frau vom Einkaufen kommt.
Ich frage eine ältere Dame in lila Jacke nach dem Weg zum Tivoli, der Gründungsstätte der SPD.
„Na kommen Sie, ich zeige es ihnen”, sagt sie.
Nur vor zur Kreuzung, dann sieht man es schon.
„Sind Sie aus Gotha?”
„Na Gott sei Dank! Schön ist es hier bei uns, finden Sie nicht?”
„Ja. Die SPD kommt von hier, wussten Sie das?”
„Ach, lass mich in Ruhe mit denen. Wissen Sie, als Brandt hier war Neunzehnneunzich, da hab ich ihm sogar die Hand geschüttelt. Aber heute, wenn ich hier die ganzen Kopftuchträger sehe, da hört’s bei mir auf!”
„Also wählen würden Sie die SPD nicht mehr?”
„Ich hab noch nie gewählt. Aber diesmal geh ich. Weil ich die Merkel nicht mehr sehen kann!”
SPD ist die Partei der großen Reformen
Das Tivoli ist heute eine Gedenkstätte, die von einem Förderverein betrieben wird. Im oberen Stockwerk zeigen Ölgemälde, wie „Arbeiterkaiser” August Bebel und Wilhelm Liebknecht (Vater von Karl Liebknecht) hier mit wallendem Haar die Köpfe heiß diskutierten. Bebel und Liebknecht gehörten zu den ersten Abgeordneten im Reichstag, die sich gegen Kinderarbeit, für Bildung, Stundenreduzierungen und Frauenrechte einsetzten. Wegen Bismarcks Sozialistengesetzen geriet die SPD am Ausgang des 19. Jahrhunderts erheblich unter Druck, tarnte ihre Treffen teilweise als Turn- oder Tanzveranstaltungen. Aber das machte sie letztlich nur stärker.
Nach dem Ersten Weltkrieg war die SPD mächtig genug, um sich an die Spitze der Novemberrevolution zu setzen und unter Bebels Nachfolger als Parteivorsitzendem, Friedrich Ebert, die Republik, die erste deutsche Demokratie, auszurufen.
Im Erdgeschoss des Tivoli hängen die großen Sozialdemokraten der Moderne. Der Förderverein verleiht jedes Jahr den „Roten Bock”, eine Auszeichnung für Politiker, die sich sozial und demokratisch um Mittel- und Osteuropa verdient gemacht haben. Knut Kreuch, Gothas OB, hat den Preis vor einigen Jahren gestiftet, und überreichte ihn an legendäre deutsche Sozialdemokraten wie Egon Bahr und Erhard Eppler. Auch Gerhard Schröder war deshalb schon hier, allerdings nur als Laudator.
Schlechte Erinnerungen an Gerhard Schröder
„Wie war der Schröder so?”, frage ich Frau Rehbein. Die Rentnerin ist seit zwölf ehrenamtlich im Tivoli aktiv, macht die Lichter und die Heizung an für Gäste wie mich, kassiert den Eintritt (1 Euro). Als sie von Bahr und Eppler erzählt, strahlen ihre Augen, „bescheiden, intelligent” nennt sie die, auch vom Besuch des früheren Verteidigungsministers Peter Struck schwärmt sie. Aber Schröder? „War arrogant und hat zu viel getrunken.”
Als ich Frau Rehbein sage, dass ich später mit dem Oberbürgermeister Knut Kreuch verabredet bin, da lächelt sie wieder. „Das ist ein Guter”, sagt sie.
Vom Tivoli aus laufe ich zum Roten Rathaus, wo Kreuch die Geschäfte der Stadt führt. Brandts Regierungssprecher stammte aus Kreuchs Heimatort, dem Dorf Wechmar. Kreuch wuchs mit den SPD-Kanzlern Brandt und Schmidt im illegal geschauten Westfernsehen auf. Nach der Wende trat er in die SPD ein, und seit mittlerweile elf Jahren ist der gelernte Fahrzeugschlosser Stadtoberhaupt im Geburtsort der SPD. Obwohl ich fast eine Stunde zu spät bin, ist Kreuch in bester Erzähllaune, mal flüstert er fast, mal schreit er und haut auf den Tisch.
„Es war ein genialer Schachzug von Helmut Kohl, die SED nicht zu verbieten”, sagt Kreuch leise, „dadurch hat er der SPD im Osten den Boden entzogen.” Darauf wäre ich so nicht gekommen, aber was Kreuch dann erzählt, überzeugt mich. Doch zunächst ein wenig Hintergrund: 1946 wurden in Gotha die SPD und die KPD zur SED zwangsvereinigt. In der sowjetischen Besatzungszone gab es die SPD damit faktisch nicht mehr. Und im Westen verlor das Sozialismus-Modell der SPD bei den ersten Bundestagswahlen gegen die neugegründeten Christdemokraten. Erst ab 1959 sollte sich die SPD ebenfalls zur sozialen Marktwirtschaft bekennen.
Die CDU schaffte Strukturen, die der SPD bis heute schaden
„Die SED war bis zum Schluss eine Partei mit Sozialdemokraten und Kommunisten. Ich hatte einen guten Freund, er ist mit 90 Jahren verstorben, der ist 1945 in die SPD eingetreten, 46 wurde er vereinnahmt und war dann in der SED, 89 trat er sofort aus, ging zur SPD und sagte: ‚Ich bin wieder da.‘ Da haben die gesagt …” – und jetzt schreit Kreuch fast – „‚Du Schwein. Was willstn du hier, du bist SED-Bonze, hau ab!‚ ‘ Sowas ist tausendfach passiert, deswegen kommt die SPD hier nicht hoch. Die SED hatte zwei Millionen Mitglieder. Kohl hat es geschafft, uns solche Angst zu machen, dass wir die Menschen nicht aufgenommen haben. Dadurch ist die Linke hier wieder stark geworden. Und sie wird uns immer spalten. Das hat Karl Marx schon gesagt: Eine gespaltene Linke ist immer eine schwache Linke.”
Bei der letzten Landtagswahl erhielt die SPD gerade einmal 12,4 Prozent der Stimmen in Thüringen. Die Linke bekam mehr als doppelt so viele. Zusammen mit den Grünen regieren die drei Parteien nun das Land. Es ist das erste Mal, dass die CDU nicht den Ministerpräsidenten stellt.
Kreuchs Erzählung erinnert mich ein bisschen an das, was der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist. Sie wurde zum Verlierer unter den Gewinnern. SPD-Chef Kurt Schumacher ging ins Konzentrationslager für seinen Widerstand gegen die Nazis. Aber Pensionär Konrad Adenauer wurde der erste Kanzler. Brandt hatte die Außenpolitik reformiert, aber Kohl war der Kanzler der Einheit.
Und die ersten Wahlen nach der Wende sicherte sich die CDU. Mit Bernhard Vogel und Kurt Biedenkopf schickte die West-CDU erfahrene Politiker nach Sachsen und Thüringen, die sich eine bis heute bestehende Machtbasis aufbauten. Und diese Machtbasis hat sich die CDU auch durch Verwaltungsstrukturen geschaffen. Die Konservativen fanden ihre Wähler schon immer eher auf dem Land als in der Stadt, und es ist kein Zufall, dass Thüringen das letzte Bundesland ist, dass seine Kreise immer noch nicht reformiert hat. Heute hat Thüringen fast so viele Bürgermeister und Landräte wie Nordrhein-Westfalen, dabei hat es nur ein Achtel so viele Einwohner.
Die Bedrohung von rechts weckt Erinnerungen an 1933
Im Januar 1990 kam Willy Brandt nach Gotha. Im Tivoli hatte sich gerade der Landesverband Thüringen der SPD neu gegründet und Brandt warnte die mehr als 100.000 Zuhörer, die gekommen waren, um seine Rede zu hören: „Ich breche über niemandem den Stab, ich kann nicht einmal dafür garantieren, wie ich mich in ganz jungen Jahren selbst verhalten hätte. Da ist ja was Verlockendes dran, vielleicht rascher wirtschaftlich voranzukommen, und trotzdem sage ich, es lohnt sich, hier zu bleiben. Es wird sich zeigen, dass es sich lohnt, und von allem Wirtschaftlichen abgesehen, kommt jetzt noch hinzu: Wer jetzt weggeht, nimmt jeweils eine Stimme mit, seine Stimme nämlich. Ihr braucht aber jede Stimme.”
Es kam dann aber doch so, und die Leute verließen zu Hunderttausenden den Osten. Damit fehlten nicht nur die Stimmen, sondern bald auch diejenigen, denen man sie geben konnte. Plötzlich gab es mehr Ämter als Personen, die sie ausfüllen wollen. Ein Problem, das bis heute aktuell ist.
Zu unserem Gespräch im Rathaus hat Knut Kreuch noch den Landtagsabgeordneten Matthias Hey eingeladen. „Dass ich für den Landtag kandidierte, ist mehr oder weniger im Flaschendrehen entschieden worden. Einer musste es ja machen. Ich hab einfach nicht damit gerechnet, dass ich die Wahl gewinnen würde.” Der Job mache zwar Spaß. Aber die Anfeindungen, die seit der Flüchtlingskrise auf Lokalpolitiker einprasseln, hätten jedes Maß verloren.
Hey erhält Morddrohungen, ihm wurde morgens schon von Rechten mit Kampfhunden vor seinem Büro aufgelauert. „Wir sind im Moment fassungslos darüber, wie die AfD lügt und hetzt und welches Echo das in der Bevölkerung, auch bei gebildeten Leuten, erfährt. Der Vergleich mit 1933 hinkt natürlich immer. Aber es ist ja wahr, dass es nicht mit Gaskammern anfing, sondern mit Lügen und der Verfolgung politischer Gegner”, sagt Hey, der im August-Bebel-Werk Gotha zum Drucker ausgebildet wurde.
Die SPD hat sich nie von den Hartz-Reformen erholt
Gotha hat heute wieder mehr als 45.000 Einwohner, so viel wie 1925. Seit einigen Jahren wächst die Stadt wieder. Die Arbeitslosenquote lag im vergangenen Monat bei 6,5 Prozent. Das klingt besser, als es ist. Und daran ist die SPD tatsächlich aber mal selbst schuld. Seit den Hartz-IV-Reformen von Kanzler Gerhard Schröder werden in der Arbeitslosenstatistik eine Menge Leute nicht mehr als arbeitslos bezeichnet, obwohl sie keine richtige Arbeit haben. Als „Unterbeschäftigte” werden heute zum Beispiel die genannt, die als unvermittelbar gelten, die gerade krank gemeldet sind oder an einer Weiterbildung teilnehmen.
Ohne Schröders Statistik-Trick stünde die Arbeitslosenzahl im Arbeitsagenturbezirk Gotha bei 14,7 Prozent. Das würde an den Umständen nichts ändern, aber an der Problemwahrnehmung. Auch Martin Schulz reist ja durch Thüringen und erzählt den Leuten, dass es so gut ist, in Deutschland zu leben, und das sehen hier viele Leute eben anders. Björn Höckes rechtsnationaler AfD-Landesverband erhielt hier bei der Landtagswahl vor drei Jahren 10,6 Prozent der Stimmen. Die SPD der neuen Mitte verliert Wähler nach links und rechts, und eine Arbeiterpartei ist sie jetzt auch nicht mehr, die Mehrheit der Mitglieder sind Akademiker.
„Die Hartz IV-Reformen”, sagt Kreuch, „waren der größte Spagat der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er hat Deutschland zu einer ungeahnten Stärke geführt und die SPD an den Rand des Zusammenbruchs. Das ist wirklich ein Riss in der deutschen Geschichte. Wo wir heute stehen, das haben wir einzig und allein – die Frau Merkel müsste eigentlich auf Knien durch Deutschland rutschen – den Schröderschen Reformen zu verdanken. Diesen Mut habe ich nie für möglich gehalten.”
Die Hartz-Reformen spaltete die deutsche Linke noch weiter. Wütende Gewerkschafter und enttäuschte SPD-Mitglieder traten aus, und aus der ostdeutschen SED-Nachfolgepartei PDS wurde die bundesdeutsche Die Linke. Schröders SPD wurde für die Härten der Reform abgestraft. Für ihre Erfolge wurde die CDU belohnt.
Im Straßenwahlkampf unter Beschuss
„Ich glaube, durch den Aufschwung, den die Arbeitsmarktreformen möglich machten, haben wir eine Struktur geschaffen, in der es vielen Leuten sehr gut geht, einzelnen wenigen extrem gut und die untere Schicht nix mehr davon hat. Und dass sich jetzt dieselbe Partei, die das verursacht hat, aufmacht und sagt, das muss sich ändern, das kauft uns im Moment keiner ab. Die Leute kommen heute noch bei Straßenwahlkämpfen auf uns zu und sagen: Ihr wart doch das mit Hartz IV”, sagt Kreuch. Hey ergänzt: „Aber wenn Sie fragen, wer war denn das mit dem Mindestlohn, da sagen Ihnen mindestens vier von zehn Leuten: die Merkel, oder?”
Die SPD war immer die Partei der großen Reformen. Und sie ging nach Reformen oft durch lange Zeiten der Krise, innerparteilich wie parlamentarisch. Reform bedeutete meist Machtverlust für die SPD – immer aber auch eine Zeit, in der der politische Gegner die unvermeidlichen Fehler der Reformen ausbügeln konnte, in der sich die SPD erholen konnte, vom internen Streit, von der Verantwortung, in den Lauf der Geschichte einzugreifen und den Opfern, die das gekostet hat. Beides ist nach den letzten großen Reformen der SPD nicht passiert. Die Sozialdemokraten haben ihre eigene Krise auf der Regierungsbank ausgeschwiegen.
„Wir müssen raus aus der großen Koalition. Uns ging es nach 16 Jahren gegen Helmut Kohl besser als nach acht Jahren mit Merkel”, sagt Matthias Hey, der Thüringer Landtagsabgeordnete. „Wir müssen uns mal erholen in der Opposition, mal neu aufbauen, mal sondieren. Mal ohne den Druck, Ministerien besetzen zu müssen, und Staatssekretäre und Dienstwagen haben zu müssen.” Und OB Kreuch ergänzt: „Ist auch für viele schwer, die sich dran gewöhnt haben.”
Theresa Bäuerlein hat mitgeholfen, den Artikel anzufertigen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; die Fotos hat Christian Gesellmann gemacht.