EU-Kommissar Günther Oettinger ist zu Gast beim Sommerfest der CDU in Bünde, Ostwestfalen, und eigentlich soll er Wahlkampf für den Bundestagsabgeordneten Tim Ostermann machen, aber Oettinger spricht vom Erhalt der Werteordnung, als würde er gerade den Zugfahrplan ansagen. Die vielleicht 40 Freundinnen und Freunde der CDU im verregneten Steinmeisterpark, in dem Laufenten Schnecken von den Wiesen snacken und der Himmel leise Selbstmord ruft, halten sich an ihrem Pils fest, die Mitarbeiter sind stolz auf ihre CDU-Jacken und alles könnte so spurlos über die Bühne laufen wie sonst auch immer, wenn da nicht gerade fünf Neonazis Anlauf nehmen würden.
Ich bin nach Nordrhein-Westfalen gefahren, weil hier laut Altkanzler Konrad Adenauer „nicht nur ziffernmäßig, auch weltanschauungsmäßig und der gesamten politischen Gesinnung nach“ das Herzstück der CDU liegt. Und um die geht es im dritten Teil meiner Wen wählen-Serie, für die ich an die Gründungsorte der großen deutschen Parteien fahre.
Oettinger, evangelisch, ehemaliger baden-württembergischer Ministerpräsident, ist gerade etwa zehn Minuten in seine Rede vorgedrungen, da stellen sich vier junge Männer und eine druffe Teenagerin auf einer Wiese hintereinander auf, rollen die schwarz-weiß-rote Fahne Nazi-Deutschlands sowie das grüne Banner der rechtsradikalen Partei III. Weg aus, und machen sich im Gänsemarsch auf Richtung Sommerfest. Sie rufen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ und „Europa, Jugend, Revolution“, und Oettinger sagt: ganz schlechte Erziehung, „da ischt gründlich was daneben gegangen in der Kinderstube“.
CDU-Mitglieder drängen die Nazis an den Rand
Dann hört man den Oettinger gar nicht mehr, die Neonazis haben sich mit Banner und Fahne im Halbkreis vor die Bühne gestellt, und der Geschäftsführer der CDU Bünde hat dem Polizisten, der nebenan im Auto sitzt, zwar schon Bescheid gesagt, aber der kann auch nichts machen. „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“, schreien die Nazis, und Oettinger ruft ins Mikro: „Proleten in der allermiesesten Form“, woraufhin die sich nicht lumpen lassen und ansetzen, aufs Podium zu klettern und dem Günther mal mies zu zeigen. Der ruft „nicht auf die Bühne, nicht auf die Bühne, nicht auf die Bühne“ und klingt ein bisschen wie Ned Flanders dabei.
Während die Aufmerksamkeit aller also gerade auf Oettinger liegt, nimmt ein Mitglied der CDU in Bünde Anlauf und klaut den Nazis ihr grünes Banner. Es gibt ein bisschen Gerangel, der Nazi-Anführer sagt „Ich klatsch dich weg“ und macht es aber doch nicht, vielleicht, weil seine vier Freunde nur von der Ferne zugucken, wie der Anführer ihr Fähnchen zurückholt.
Dann lassen sich die Nazis an den Rand drängen und stehen dort für den Rest der Veranstaltung, skandieren immer mal wieder was, und die CDU-Mitarbeiter in den hübschen Jacken stehen davor und fragen sich, warum diese Leute ausgerechnet heute nicht RTL gucken, „das machen die doch sonst den ganzen Tag“.
Antifa: Rechtsradikale Partei “mega aktiv” in Ostwestfalen
Der stressrauchende Geschäftsführer der CDU verwickelt den Nazi-Anführer immer mal wieder in ein Gespräch, aber der ist so aufgeputscht, dass mit ihm wirklich nicht zu reden ist. „Florian heißt er, war mal Krankenpfleger, schwere Kindheit gehabt, armer Mensch“, sagt der Geschäftsführer später am Bierstand. “Der III. Weg ist seit einem halben Jahr mega aktiv in Bünde”, erklärt mir später jemand von der Antifa.
„Gibt ja doch noch CDUler, die kämpfen können“, sag ich zu dem Mann, der den Nazis die Fahne geklaut hat. „Ja, sischer“, sagt der, „so warn wir schon als Studenten. Wenn die Marxisten in Münster die Franz-Josef-Strauß-Plakate auf den Tanzboden geklebt haben, da sind wir hin und haben gesagt: ‚ Also entweder, ihr klebt da alle Kandidaten hin, oder keinen.‘ Und wenn die dann nicht reagiert haben, dann ist halt aus Versehen schon mal der Plattenspieler runtergefallen.“
Wenn die CDU in Sachsen ähnlich viel Bier trinken und ähnlich entschlossen auf Neonazis reagieren würde wie die Genossen, äh, Freunde der CDU in Westfalen, denke ich, wäre das Land lebenswerter.
Bünde hat etwa 45.000 Einwohner, und die örtliche CDU gehört zum Kreisverband Herford. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich in mehreren Städten christlich-soziale oder christlich-demokratische Parteien gleichzeitig gebildet, unter anderen in Berlin, Köln, Frankfurt, Hannover, Stuttgart, Würzburg, München.
CDU-Gründer stammten aus NS-Widerstandskreisen
Zu ihren Gründern gehörten zumeist NS-Widerstandskämpfer, Emigrierte und KZ-Häftlinge. Ein erster größerer Zusammenschluss wurde von den Alliierten in der britischen Besatzungszone erlaubt, wo sich am 22. Januar 1946 acht Landesverbände im Rathaus von Herford trafen und Konrad Adenauer zu ihrem Vorsitzenden wählten.
„Reiner Zufall, dass das in Herford geschah”, sagt der Bundestagsabgeordnete Tim Ostermann in der Kneipe „Themenwechsel”, in die sich die CDU-Sommerfestgesellschaft vor dem Regen geflüchtet hat, fleißig weiter Pils stemmt und zum Dixie-Jazz der eigens engagierten Band bewegt, was man im Sitzen so bewegen kann.
Damals wie heute ist Westfalen eher SPD-Land. Den Ausschlag für Herford habe wohl gegeben, so Ostermann, dass der damalige Bürgermeister versprochen habe, trotz der Nachkriegsprobleme „genug zu Beißen” für alle Delegierten organisieren zu können. Ein anderer Grund war, dass der damalige Herforder Bürgermeister ebenfalls Ambitionen auf das Amt des Vorsitzenden hatte. Aber Adenauers Korona leuchtete damals bereits zu hell.
Der spätere Kanzler war 1917 noch vom preußischen König persönlich zum Bürgermeister von Köln ernannt worden, damals war er mit 41 Jahren der jüngste Bürgermeister einer deutschen Großstadt.
Er gehörte der katholischen Zentrumspartei an und war während der Weimarer Republik immer mal wieder als Kandidat für das Amt des Reichskanzlers im Gespräch. 1931 ließ er zwar Hakenkreuzfahnen von einer Rheinbrücke entfernen, die Nazis anlässlich einer Rede von Hitler in Köln aufgehängt hatten. 1932 sprach Adenauer sich aber für eine Koalition der Zentrumspartei mit den Nationalsozialisten aus.
Nach der Machtergreifung der Nazis wurde er seines Amtes enthoben, flüchtete zunächst in ein Kloster in Westfalen, das von einem ehemaligen Schulfreund geleitet wurde, und lebte bis zum Kriegsende an wechselnden Wohnorten als Pensionär.
Adenauer verbrachte den Krieg als Pensionär
Unbelastet, ausgeruht und mit enormen Machtinstinkt ausgestattet, ließ sich Adenauer von der Stadt Köln nach dem Krieg mit mehr als 150.000 Reichsmark für den Verlust seines Wohnhauses durch die Flucht vor den Nazis entschädigen und begann seine parteipolitische Karriere zunächst bei der Christlich Demokratischen Partei (CDP), einer der Vorgänger der CDU.
Die CDU selbst etablierte sich erst 1950 als Bundespartei, Adenauer wurde ihr erster Vorsitzender und blieb es bis kurz vor seinem Tod 1967. Die Angebote der Zentrumspartei, die sich nach dem Krieg wieder gründete und übrigens bis heute existiert, lehnte Adenauer ab. Er rechnete einer neuen, überkonfessionellen Partei größere Erfolgschancen aus.
Die Alliierten ernannten Adenauer zum Landtagsabgeordneten und er wurde sogleich Vorsitzender seiner Fraktion im Düsseldorfer Parlament. Später schickte der Landtag ihn in den Parlamentarischen Rat, der unter Aufsicht der Westmächte eine deutsche Verfassung ausarbeiten sollte.
1948 wählte der Rat ihn zum Präsidenten, und Adenauer erlangte so die bundesweite Bekanntheit, die ihm bis dahin im Gegensatz zu Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher abging: Er war ein geschickter Verhandler und aufmüpfig gegenüber den Großmächten, das kam gut an.
Als die CDU bei der ersten Wahl für den Bundestag 1949 eine knappe Mehrheit der Stimmen erhielt, entschied sich die Partei für Adenauer als Bundeskanzler und damit auch für die von ihm beworbene soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsform und gegen den – vor allem südwestdeutschen – Flügel der Partei, der mit einem „christlichen Sozialismus” liebäugelte.
Adenauer und Kohl festigen die Macht der CDU mit illegalen Spenden
Es begann die 16-jährige Ära Adenauer inklusive Westbindung und Wirtschaftswunder, Aussöhnung mit Frankreich, europäischer Vereinigung und Zwei-Staaten-Lösung und damit auch die Ära Bonn (Frankfurt am Main hatte sich zunächst auch als Hauptstadt beworben, verlor aber die Abstimmung).
Adenauer legte die Grundsteine für die Macht der CDU aber auch durch Betrug. Er hatte gute Kontakte zu einem Finanznetzwerk, das führende Nazis heimlich während des Zweiten Weltkrieges aufgebaut hatten, um nach der sich abzeichnenden Niederlage flüssig zu bleiben. Sozusagen ein primitiver Vorläufer des Systems, dass die Panama Papers für die heutige Zeit dokumentierten.
Adenauer ließ seiner Partei über Jahrzehnte Millionen Mark an Steuergeldern illegal über schwarze Kassen und Nummernkonten in Liechtenstein und der Schweiz zufließen. Was im Interesse der Partei ist, ist auch im Interesse des Staates – so denken viele CDU-Politiker bis heute (auch als Reaktion darauf setzten die Grünen die Trennung von Amt und Mandat für ihre eigene Partei durch).
In der Ära Helmut Kohl wiederholte sich das Ganze fast eins zu eins. Erneut standen Schmiergelder und Spenden, unter anderen von der Rüstungsindustrie, in Millionenhöhe im Mittelpunkt eines Skandals, der den Kanzler der Einheit seinen Parteiehrenvorsitz kostete und Wolfgang Schäuble 1999 seinen Fraktionsvorsitz.
Angela Merkel wird im April 2000 neue Vorsitzende und reformiert die Partei
Der CDU konnte das alles nichts anhaben. Sie wuchs sogar weiter und holte zwischenzeitlich die SPD als mitgliederstärkste Partei ein. Heute hat die CDU rund 430.000 Mitglieder in mehr als 10.000 Ortsverbänden und nahm vergangenes Jahr allein an staatlichen Zuschüssen fast 50 Millionen Euro ein – was etwa ein Drittel ihrer Einnahmen ausmacht.
Angela Merkel stürzte Kohl und Schäuble und modernisierte die Partei, sehr langsam, sehr behutsam, aber sie tat es. „Wer ermessen will, wie groß der Weg ist, den die CDU (seither) gegangen ist, muss nur auf den 10. April 2000 schauen”, schrieb Robert Roßmann vor einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung:
„Die letzte Rede vor (Merkels) Wahl auf dem Parteitag in Essen hielt Hans Filbinger – der Mann, der als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten musste, weil er als NS-Marinerichter Todesurteile gegen Deserteure verhängt hatte. In seiner Rede wetterte Filbinger gegen das Abtreibungsrecht, die Zulassung homosexueller Lebenspartnerschaften und die ‚Geschichtsklitterung‘ in Schulbüchern, in denen es oft zu sehr um das Dritte Reich gehe. Filbinger wurde nicht ausgebuht, sondern beklatscht. In der CDU gab es am ersten Tag der Ära Merkel noch viele, die sich heute in der AfD wohlfühlen würden.”
Aber gehen wir noch einmal kurz zurück zum Sommerfest der CDU in Bünde. Dort stehe ich mit dem 21 Jahre alten CDU-Mitglied Niels Oldemeier etwa 30 Meter von der Bühne entfernt, auf der Günther Oettinger nun von den Nazis abgeschirmt mit seiner Rede weitermacht. „Sinnlos, mit denen zu reden”, sagt Oldemeier mit Blick auf die Rechtsradikalen, die einen Meter vor ihm stehen, und schaut abwechselnd in die Ferne oder auf den Rasen.
Oldemeier ging ans Telefon, als ich am Tag zuvor die Kreisgeschäftsstelle der CDU in Herford anrief. Wir verabredeten uns auf dem Sommerfest, eigentlich nur, damit er mich den dienstältesten Parteimitgliedern vorstellt. Aber dann hat er doch mein Interesse geweckt. „Sie werden mich schon erkennen, ich bin der einzige Mann in der CDU mit langen Haaren”, sagte er.
Als Schüler hat der 21-Jährige mal ein Landtagspraktikum bei der SPD gemacht, ein bisschen in den Ortsverband reingeschnuppert. „Aber mit anderen Meinungen konnten die nur schwer umgehen”, erklärt er mir, „da wurde die Luft immer schnell dick. Das ist bei der CDU anders. Da darf jeder ausreden, seinen Standpunkt erklären.”
Partei der offenen Opportunisten
Mitglied bei der CDU wurde er 2015 aber aus einem anderen Grund: Er studiert Politikwissenschaften und will einmal Diplomat werden. Die Chancen dafür sind besser, wenn man Mitglied einer Partei ist. Und die besten, wenn man Mitglied bei der CDU ist. „Ich weiß, schon ein bisschen opportunistisch. Aber so ist es. Und ich hab es nicht bereut.”
Er ist für den Wahlkampf bei Tim Ostermann angestellt und verdient bei dem Bundestagsabgeordneten 2.200 Euro brutto. „Aber die Tage gehen dann auch oft von 8 bis 23 Uhr”, sagt er.
Fast alle jungen CDU-Mitglieder, mit denen ich gesprochen habe, sagen ungefähr das Gleiche. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten in meinem Wahlkreis in Zwickau sagte mir mal, er sei in die CDU gegangen, weil er Politiker werden will und die CDU nun mal „das größte Netzwerk und die besten Kontakte” habe.
Man kann das scheiße finden, aber zumindest ist es ehrlich. Gute Kontakte sind außerdem auch keine schlechte Voraussetzung für den Job als Politiker.
Oettinger fordert Marshallplan für Afrika
Während ich mich mit Oldemeier unterhalte, werden wir immer mal wieder von den Neonazis unterbrochen, die laut „Deutschland den Deutschen” schreien. „An meiner Uni”, sagt Oldemeier, „sind 60 Prozent Ausländer. Das ist doch super. Jetzt habe ich Freunde auf der ganzen Welt.”
Günther Oettinger redet währenddessen immer noch, aber selbst ihm ist nach dem Vorfall etwas Farbe ins Gesicht geschossen, und auf der Bühne der CDU in Bünde liefert der Schwabe plötzlich eine der energischsten Reden ab, die ich in diesem Wahlkampf bisher gehört habe.
Ausgerechnet Günther Oettinger.
Und ja, ich habe schon so einige Reden gehört dieses Jahr.
„Neighbourhood is destiny”, sagt Oettinger und fordert einen Marshallplan für Afrika, um Fluchtursachen zu bekämpfen. „Ob Sie in Mali oder Bünde geboren sind, das ist reiner Zufall” und auch das: „Wir müssen wieder mehr kämpfen. 70 Jahre lang sind wir mit unserer Werteordnung gut gefahren. Heute wird sie bedroht von Autokraten in Ankara und Moskau, von Rechtsnationalen und Linksradikalen.”
Dass CDU-Veranstaltungen von Rechten gestört werden, insbesondere die Auftritte von Angela Merkel, ist mittlerweile Normalität geworden. In Wolgast, Gelnhausen, Strasburg, Apolda, Annaberg-Buchholz, Finsterwalde, Bitterfeld, Torgau und auch bei ihrem Auftritt in Bünde vor ein paar Wochen gab es Hau-ab-Rufe und Trillerpfeifen-Konzerte.
Das große Schweigen der Kanzlerin
Meist reagiert die CDU nicht so couragiert wie hier im Steinmeisterpark. Meist werden die Störer einfach ignoriert, bis sich alle irgendwie schäbig fühlen. Die Schriftstellerin Jana Hensel, die einen Auftritt von Merkel in Brandenburg besuchte, hat das kürzlich in einem offenen Brief an die Kanzlerin in der Zeit schön beschrieben:
“Sie sprachen frei, Sie hielten Ihre ganz normale Wahlkampfrede über transatlantische Partnerschaften, die Bildungschancen von Kindern und Steuerfreibeträge. Und doch konnte man sehen und spüren, dass Sie diese Worte nur aufsagten, dass Sie mit den Gedanken und Gefühlen woanders waren. Wie gelähmt standen Sie da. Jedem von uns in der Nähe ging das so. Die auf den Bierbänken sitzenden Menschen starrten ausdruckslos vor sich hin, wie paralysiert taten sie so, als ob sie Ihnen zuhörten. Aber niemand hörte Ihnen zu, ich glaube, nicht einmal Sie selbst hörten sich zu. Und die Männer mit ihren Trillerpfeifen wurden immer lauter.
So ging das eine halbe Stunde, wie eine halbe Ewigkeit kam es mir vor. Hinter der Absperrung Wut, rund um und auf der Bühne Lähmung. Ich lief zwischen beiden Lagern hin und her. Und je öfter ich diesen Weg ging, desto mehr begann ich mich zu fragen, warum Sie die pöbelnde Menge ignorierten. Diese Apathie musste doch irgendwie zerschlagen werden, diese Pfiffe und Schmährufe waren doch ohnehin nicht zu überhören. Warum wandten Sie sich nicht einziges Mal an die Störer? Mit ein, zwei, drei klaren Sätzen. Sie sind doch so mächtig, Sie standen doch auf einer großen Bühne. Alle warteten darauf. Und ich glaube, all die Menschen, die gekommen waren, um Ihnen friedlich zuzuhören, hätten Sie unterstützt. Sie wären aufgestanden, hätten laut geklatscht, hätten sich den Trillerpfeifen auf ihre Art zeigen und entgegenstellen können. Ohne Gewalt, ganz menschlich.“
Die Partei als nützliches, persönliches Netzwerk
Ich hatte Oldemeier, den angehenden Diplomaten, am Vortag gebeten, mich einem älteren Partei-Mitglied vorzustellen. Ich wollte wissen, was Menschen früher dazu bewogen hat, in die CDU einzutreten und wie sie ihre Partei heute sehen.
Als Oettinger und die Neonazis weg sind, führt Oldemeier Horst Hartmann zu mir. Wir setzen uns auf Bierbänke in einem kleinen weißen Festzelt, das die Feuerwehr aufgebaut hat. „Wenn Sie mich fragen, warum ich in der CDU bin, da müsste ich kurz in mein Handy schauen und dann könnte ich Ihnen um die 40 Gründe zeigen. 40!”, sagt er. Hartmann ist 70 Jahre alt und hat heute schon einen Facebook-Post mehr geschrieben als ich.
Die Mitgliedschaft in einer Partei, das sei für ihn auch das Aufgefangensein in einem Netzwerk, sagt er. Und damit ich das besser verstehe, nimmt Hartmann, der zehn Jahre lang für seine Partei im Gemeinderat saß, einen der Tim-Ostermann-Kugelschreiber und einen Tim-Ostermann-Notizblock, die auf dem Biertisch liegen, und fängt an, eine Menge Kreise zu zeichnen, die er mit Linien verbindet.
„Hier bin ich, das Mitglied”, er zeichnet einen Kreis, „und da ist mein Bürgermeister”, Kreis, „und da ist meine Kreisgeschäftststelle”, acht weitere Kreise, „das ist mein Kollege, das meine Kollegin in einem anderen Kreisverband im Vorstand, das ist ein Bäckermeister, das ist ein Maurer, ein Straßenbaumann, das ist ein Postler, ein Vermessungstechniker und so weiter. Und auf alle diese Leute kann ich im Grunde genommen zurückgreifen. Wenn ich was über Facebook wissen will, dann frage ich den”, zeigt auf einen Kreis, „und sage, du weißt das besser, erklär mir das mal. Und der macht das. Und dieses Netzwerk würde ich vermissen, wenn ich nicht bei der CDU wäre. Die SPD hat das auch, aber als die Volkspartei CDU habe ich viel mehr Kontakte und Möglichkeiten, um in meinem Leben zufrieden zu sein.” Und außerdem, sagt er, könne er mit dem Begriff „Genosse” überhaupt nichts anfangen.
Hartmann war Pressesprecher bei der Post und der Telekom. Er trat 1983 in die CDU ein, nachdem „die Kinder soweit waren und meine Frau mich entbehren konnte”. Es ging alles gut im Leben, er wollte „diesem Land etwas zurückgeben”.
Hartmann hatte auch Sympathien für die SPD, sagt er, aber nachdem er die Parteiprogramme gewälzt hatte, entschied er sich für die CDU, „wegen des Subsidaritätsprinzips. Das bedeutet in letzter Konsequenz: Der Mensch helfe sich zunächst einmal selber. Wenn er das nicht mehr kann, dann muss der Staat eintreten. Ich muss sehen, dass ich mich selbst hochziehe in einer Situation, wo mir etwas fehlt.”
In dem Moment schaut ein älterer Herr ins Zelt und winkt kurz. „Sehen Sie, das ist mein Urologe. Das ist doch schön, wenn man sich kennt. Da unterhält man sich dann nicht nur über da unten.”
Stillstand gehört zum Markenkern der CDU
Als ich Hartmann auf den Auftritt der Neonazis anspreche, sagt er: „Wenn Menschen mit der Politik nicht zufrieden sind, dann sage ich, man muss sie nicht totdiskutieren, man muss sie nicht rausschmeißen. Man muss besser werden. Und da hab ich heute ein wenig Bedenken, ob wir ausreichend aufgestellt sind.”
Die CDU, sie ist ein bisschen wie der Himmel über Westfalen. Er ist überall, er ist oft grau, und er ändert sich selten. Mit dem Slogan „Keine Experimente!” gewann Konrad Adenauer die Bundestagswahl 1957. Angela Merkel warb 2013 mit „Sie kennen mich.”
Die CDU war nie eine Partei des Wandels oder der großen Reformen, sondern, wie Merkel im TV-Duell sagte, eine von „Maß und Mitte”. Wer politischen Stillstand beklagt, kann dafür, finde ich, nicht die CDU verantwortlich machen. Stillstand – oder Beständigkeit – ist gewissermaßen ihr Markenkern.
Dass die Menschen Wandel prinzipiell skeptisch sehen, mag das Dilemma der Grünen sein, für die CDU-Mitglieder macht es die Stärke ihrer Partei aus. Ankreiden kann man es ihr jedoch, wenn ihr Selbstbewusstsein in Selbstherrlichkeit ausartet, sie gesellschaftlichen Wandel zu ignorieren versucht und zwischen der Macht der Partei und der des Landes keinen Unterschied mehr erkennt.
In seinem großartigen Porträt der Kanzlerin für den New Yorker beschreibt George Packer Deutschland in der Ära Merkel so:
„Politischer Konsens, auf wirtschaftlichem Erfolg begründet, selbstzufriedene Bürger, eine gefügige Presse, eine enorm beliebte politische Führungsfigur, die nur selten von der Meinung der Mehrheit der Menschen abweicht – Merkels Deutschland erinnert stark an das Amerika Eisenhowers. Aber worauf die Amerikaner heute unter den Vorzeichen eines nationalen Niederganges mit Neid schauen, macht aufmerksame Deutsche nervös. Ihre Demokratie ist nicht erwachsen genug, um eine Pause einzulegen.”
Theresa Bäuerlein hat mitgeholfen, den Artikel anzufertigen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; die Fotos hat Christian Gesellmann gemacht.