Ein übergewichtiger Hobby-Rocker tritt seine Harley an, es kracht, die Bierbänke vibrieren, und in dem Garten, in dem eines der wichtigsten Stücke deutscher Demokratiegeschichte geschrieben wurde, fällt den Damen mit den goldenen Ohrringen fast der Stemmler Riesling aus dem Gesicht. Ein kurzer Blick in den Himmel aus hellgrünen Kastanienblättern, unter dem vor 170 Jahren die Märzrevolution vorbereitet wurde, und der Mini-Schock ist verflogen, der Harley-Mann schon auf der Landstraße. Lächeln, Prost, Lebbe geht weida. Dass Geschichte auch Trost spenden kann, man kann das in Deutschland vielleicht nirgendwo so gut nachvollziehen wie in Heppenheim, dem Gründungsort der Freien Demokratischen Partei – FDP.
Goethe war in Heppenheim, um auf dem Weg in die Schweiz Rast zu machen. Die liberalen Revolutionäre von 1848 waren hier, weil sie sich in Heppenheim treffen konnten, ohne von den Spähern der Royals aus Heidelberg oder Mannheim gesehen zu werden. Ich bin hier, weil ich nicht weiß, wen ich Ende September wählen soll. Damit geht es mir weniger als vier Wochen vor der Bundestagswahl so wie fast der Hälfte der Deutschen. So unentschlossen waren wir noch nie.
Aber dieses Jahr will ich einfach nicht wieder in die Wahlkabine gehen und mich danach fühlen, als hätte mich jemand beim Klauen erwischt. Deshalb gehe ich auf die Suche nach einer wählbaren Partei. Dabei will ich nicht in der aktuellsten ghostgewriteten Biografie des Spitzenkandidaten und auch nicht im barrierefreien Wahlprogramm nachschauen, sondern dort, wo der Kern der Partei ist, die Marke, die Geschichte. Das Ideal.
Heinrich von Gagern lud 1847 Liberale in den „Halben Mond“ ein
Deshalb schaue ich mich an den Gründungsorten aller Parteien um, die eine Chance haben, in den Bundestag gewählt zu werden. (Anmerkung: Nur die AfD schaue ich mir in diesem Zusammenhang nicht an. Erstens ist sie die einzige Partei, von der ich ausschließe, dass ich sie wählen werde. Zweitens habe ich mich mit ihrer kurzen Geschichte bereits sehr ausführlich beschäftigt, zum Beispiel in diesem Artikel. Denn diese Orte erzählen nicht nur ein Stück Parteigeschichte, sondern auch viel über deutsche Gegenwart. Und die spielt sich eben nicht nur in Berlin ab.
Nun sitze ich also hier, im Heppenheimer Gasthof „Halber Mond“, wo ein gewisser Heinrich von Gagern 1847 heimlich liberale Parlamentarier aus dem von Napoleon und Preußen gegängelten Südwesten Deutschlands versammelte, um über die Verbesserung der Bürgerrechte für alle Deutschen zu reden. Ein Jahr später wurde von Gagern zum Präsidenten des Revolutionsparlaments in der Frankfurter Paulskirche ernannt. Ich bestelle ein Schnitzel und bekomme zwei. Immerhin, denke ich mir, ein kleiner Trost dafür, dass der aktuelle FDP-Chef im Ort mich auf der Bierrechnung hat sitzen lassen.
Die sogenannte Heppenheimer Tagung erwähne ich hier deshalb, weil sie 1948 der Anlass für die verschiedenen neuen, lokalen liberalen Parteien Deutschlands war, sich in der hessischen Kleinstadt zu einer Bundespartei zusammenzuschließen. Theodor Heuss wurde ihr erster Vorsitzender und ein Jahr später in Bonn zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik gewählt.
Hauptproblem an der Bergstraße ist der Verkehr
Nach Heinrich von Gagern, der ziemlich genau 170 Jahre vor mir im Garten des Halben Monds saß, ist heute die Straße vor dem Reichstag in Berlin benannt. Es gibt einen Stahlstich von jener Heppenheimer Tagung, ein Diener eilt zu einem Tisch, an dem sich die feinen Herren Parlamentarier, fast alle Banker, Rechtsanwälte, Beamte oder Professoren, besprechen. Im Hintergrund erheben sich die Überreste der tausend Jahre alten Starkenburg. Bis heute haben sich weder der Name des Gasthofes noch das Panorama verändert. Nur die Probleme sind andere. Genauer gesagt, ist es ziemlich schwer, überhaupt irgendwelche Probleme zu erkennen in Heppenheim. Ich frage Oliver Wilkening, den lokalen FDP-Chef. Der überlegt lange, pustet kurz durch, und sagt dann:
„Der Verkehr. Das ist schon ein Problem. Und die Parkplatzsituation in der Innenstadt.“
„Das war’s?“
„Man muss dem Bürgermeister bescheinigen, dass er seine Arbeit überwiegend gut macht“, sagt der Oppositionspolitiker Wilkening über den CDU-Bürgermeister Rainer Burrelbach, der gerade vor der Kamera eines Pay-TV-Senders dem Sebastian-Vettel-Fanclub ein 20-Liter-Fass alkoholfreies Bier für die Fahrt zum Formel-1-Grand-Prix in Spa geschenkt hat.
Revolution 1848, Wiederaufbau 1948 – ist es heute nicht vergleichsweise langweilig, Politiker zu sein? Ja, schon irgendwie, sagt Wilkening, aber es gibt Schlimmeres, als keine Probleme zu haben.
Ulrike Bertsch: „Lindner hat was Düsteres“
Das findet auch Ulrike Bertsch, in deren Bed & Breakfast ich mir ein Zimmer genommen habe. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, Bertsch hat mich zur Begrüßung umarmt. Jedenfalls fühlt sich mein zweitägiger Aufenthalt bei ihr und in Heppenheim im Nachhinein so an. Hier lächeln einen die Leute sogar an, wenn man ihnen vors Fahrrad läuft oder den Feierabend verdirbt.
„Ich will mir den Halben Mond angucken“, sage ich zu ihr, auf dem Beckenrand vom Whirlpool ihres B&B sitzend.
„Schön! Wegen dem Bier?“
„Nee, wegen der FDP.“
„Ach, na dem Vorsitzenden würd’ gern ich mal was sagen!“
„Christian Lindner? Was denn?“
„Immer, wenn ich ihn sehe, denke ich, der hat was Düsteres. Der ist kein guter Mensch. Das ist nicht der richtige Politiker für unsere Zeit. Dieser Spruch auf dem Wahlplakat, wo der mit seinem Handy und dem Stöpsel im Ohr zu sehen ist …“
„Digital First – Bedenken Second?“
„Ja, genau. Das ist doch nicht das drängendste Problem unserer Zeit. Wachstum, Fortschritt, das sind doch nicht die wichtigsten Sachen, die die Politik heute angehen muss.“
„Sondern?“
„Gucken Sie sich doch hier mal um. Wir haben doch keine Probleme. Aber die Menschen leben alle nebeneinander her. Wir brauchen einen Politiker, der die Menschen wieder zusammenführt.“
Die Menschen zusammenzuführen, das war nach dem Zweiten Weltkrieg eine der großen Aufgaben, der sich die FDP verschrieben hat. Gründungsmitglied Ernst Mayer sagte 1948 in Heppenheim: „Den grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Flügelparteien SPD und CDU (halten die Liberalen) für so groß, dass bei einem abwechselnden Regieren beider zu große Erschütterungen unseres staatlichen Lebens eintreten müssten.“ Deshalb, so Mayer, werde die FDP als „Mittelpartei“ gebraucht, um „einen Ausgleich herbeizuführen“.
Die FDP hat ihre Mittlerrolle eingebüßt
Nach dem Linksrutsch der CDU unter Merkel und dem Rechtsruck der SPD unter Schröder sowie acht Jahren großer Koalition werden die beiden Volksparteien nicht mehr wirklich als Flügelparteien wahrgenommen. Mitte muss sich anders definieren. Zumal die FDP auch ihre zweite Mittlerrolle eingebüßt hat: die der rechten Sammelbewegung: „Die Aufgabe, die nationale Rechte einzusammeln, hat die Union übernommen, und sie erlebt heute das gleiche Dilemma wie früher die FDP. Die Dritte Kraft ist durch die Grünen und noch mehr durch die Erosion des liberalen Milieus geschwächt.“ Das hat ein Autor der Zeit vor knapp dreißig Jahren festgestellt. Aber zwei Dinge lassen sich aus heutiger Sicht aus dieser Analyse lernen:
Erstens: Politische Prognosen sind nicht mehr als Rätselraten. 1988 mag die FDP wie eine sterbende Partei ausgesehen haben. Aber dann kamen die Wende und mehr als 100.000 neue Mitglieder. Und 20 Jahre später der größte Wahlerfolg mit 14,6 Prozent der Stimmen im Jahr 2009. Kurz darauf dann tatsächlich der tiefste Sturz der Partei. Heute steht sie mit etwa 57.000 Mitgliedern wieder ungefähr auf dem Stand von 1969.
Zweitens: Die Rolle des Sammelbeckens für rechte Bewegungen nimmt heute weder die FDP noch die CDU mehr umfassend ein. Sie mochten die Brücke zu Alt-Nazis geschlagen haben, aber nicht zu Neo-Nazis. Diese Funktion erfüllt die AfD – auch, wenn sie nicht dafür gegründet wurde (siehe erstens).
Über dem Halben Mond weht die Deutschlandflagge. Gegenüber steigt eine zehnköpfige, arabisch sprechende Familie aus zwei Autos. Auf Augenhöhe hängt ein Wahlplakat des FDP-Direktkandidaten. Unter seinem Namen steht: „Jetzt wieder verfügbar: Politik für die Mitte.“
Was heißt das denn nun, frage ich Oliver Wilkening, der alkoholfreies Weizen trinkt und Camel Kette raucht. Politik müsse der Vernunft und der Zeit entsprechen, sagt der, nicht Ideologien oder Eitelkeiten, und nennt ein Beispiel: „Die Legalisierung der Homo-Ehe. Ich hab einfach nicht verstanden, weshalb es bei der CDU so viel Widerstand dagegen gab. Homosexualität ist etwas Natürliches und Heiraten etwas Konservatives. Eigentlich ein Volltreffer.“ Die Schwachen stärken und die Starken nicht schwächen – so definiert Wilkening eine Politik der Mitte. Für ihn bedeutet das vor allem: in die Bildung investieren.
Ganz ähnlich sieht das auch Ulrike Bertsch, obwohl sie den FDP-Leuten eigentlich nicht glaubt. Während des größten Frühstücks, das jemals vor mir stand, drückt sie es nur etwas esoterischer aus. „Herzqualität“, sagt sie, daran müssten wir arbeiten. Seit Kurzem bringt sie zwei Flüchtlingen aus Syrien Deutsch bei. Die helfen im Gegenzug bei der Gartenarbeit. Es gibt hunderte ehrenamtliche Helfer im Ort, die sich für Flüchtlinge engagieren, aber auch in Heppenheim brannte vor zwei Jahren eine Flüchtlingsunterkunft.
Fast 20 Prozent der Einwohner Heppenheims waren Kriegsflüchtlinge, als die FDP sich 1948 hier gründete. Die 89 Delegierten sollten ursprünglich auch wieder im Halben Mond tagen, aber dort war zwischenzeitlich ein Verlag aus Darmstadt eingezogen, dessen Gebäude zerbombt worden war. Man zog stattdessen in den Kurmainzer Amtshof, ein paar Hundert Meter weiter. Zwei bis drei Briketts sollten die Delegierten, die aus allen Besatzungszonen außer der sowjetischen kamen, für die Heizung mitbringen.
Nach dem Frühstück lese ich die sorgenfreieste Lokalzeitung aller Zeiten und bin anschließend mit Wilkening auf dem Marktplatz verabredet. Er lehnt am Brunnen vor dem Rathaus, ein schlanker Mann im roten Polo-Shirt. Ich habe Sie mir als dicken Mann im Anzug vorgestellt, erkläre ich. Wilkening lacht, jaja, die Zeiten ändern sich. Er selbst sei in seiner Jugend Skater gewesen, habe lang mit den Grünen geliebäugelt, die waren ihm dann aber zu spießig. 2010 trat Wilkening in die FDP ein, weil er „nicht wollte, dass diese Partei verschwindet“. Seit zwei Jahren ist er Vorsitzender des Ortsverbandes (und sein Sohn stellvertretender Vorsitzender der Jungen Liberalen im Ort).
Es ist wie die Auferstehung einer Partei, die 2013 so tief stürzte, dass viele sie auf immer für tot erklärten. Nur eine Legislaturperiode zuvor hatte sie den Vizekanzler und fünf Bundesminister gestellt, war in allen 16 Landesparlamenten vertreten und in neun davon an der Regierung beteiligt. Nun starrte sie ins Nichts. Die Schulden der Möllemann-Affäre noch nicht getilgt, als Mövenpick-Partei verschrien und nacheinander aus acht Parlamenten und allen Regierungen sowie dem Bundesrat geflogen. Als ich mit Wilkening am Büro der FDP vorbeilaufe, sagt er: „Wir können froh sein, dass wir uns das noch leisten können.“ 22 Mitglieder hat sein Ortsverband, sieben neue seien dazugekommen, seit Christian Lindner Parteichef ist – Altenpfleger, Lehrer, Angestellte, Architekten, kein einziger Unternehmer.
Damals, auf dem Tiefpunkt, traf sich die Partei in Heppenheim und feierte den 50. Todestag von Theodor Heuss. Es war einer der ersten Auftritte des neuen Vorsitzenden Lindner und eine Rückbesinnung auf das alte südwestdeutsche Erbe der FDP: „Eine liberale Marktwirtschaft entbindet den Einzelnen nicht von der Verantwortung für die Gesellschaft.” So sagte es Heuss damals.
Was der Wohlstand mit der Herzqualität zu tun hat
Herzqualität, so würde ich das mal ins heutige, leicht angebuddhate Deutsch übersetzen, ist nur möglich, wenn auch die großen Konzerne ihre Steuern dort zahlen, wo die Menschen leben, die für sie arbeiten. Das ist aber auch nur durch Wohlstand möglich, und der kommt mit dem Fortschritt, sagt Wilkening. „Digital First – Bedenken Second“ sei der Slogan, mit dem die FDP sagen will: Digitalisierung ist die Aufgabe, die Entwicklung, die über den Wohlstand der Zukunft entscheiden wird.
Denken wir neu, heißt es heute auf den Wahlplakaten der FDP. Denken wir alt wäre ja auch ein scheiß Slogan. Außerdem würde er auch nicht zu dem passen, was die FDP vielleicht am meisten unterscheidet von den anderen großen Parteien: progressiv zu denken.
Und das macht die FDP und Heppenheim, so klein, sonnig und weinselig wie es ist, zu einem so passenden Paar. Denn die kleine Stadt zwischen den Machtzentren Darmstadt, Frankfurt, Mannheim und Heidelberg liegt zwar am Rande der Aufmerksamkeit, war aber immer weltoffen und fortschrittlich.
Heinrich von Gagern und seine Revolutionäre konnten sich nur hier treffen, weil der Ort einen Bahnhof an einer der ersten Zugstrecken Deutschlands hatte. Damals wie heute boomt die Main-Neckar-Region, es gibt so gut wie keine Arbeitslosigkeit, die Kita-Gebühren wurden in Hessen gerade abgeschafft, und im Finanzzentrum Frankfurt sollen bis zu 80.000 neue Jobs allein wegen des Brexits entstehen, der Banker aus London hertreibt.
Dass es Heppenheim besser als einer vergleichbar großen Stadt in Sachsen geht, dass es hier keine Nazis und keine vergammelten Bahnhöfe und geschlossene Freibäder gibt, liegt auch daran, dass die Unternehmen ihre Steuern hierlassen und die Innenstadt nicht von internationalen Ketten, sondern von lokalen Einzelhändlern dominiert ist. Heppenheim hatte außerdem ein paar Jahrzehnte Vorsprung vor den meisten ostdeutschen Kommunen, um an seiner Herzqualität zu arbeiten.
Nach fast zwei Stunden und zwei Weizen muss Wilkening los, die Familie ruft. Eigentlich stammt er aus Norddeutschland. Die Liebe hat ihn nach Heppenheim gebracht, seine Frau hat der Wirtschaftsinformatiker Ende der 90er im Internet-Chat kennengelernt. „Ich glaube, wir waren eines der ersten Pärchen überhaupt, die sich so getroffen haben“, sagt er.
Als ich meine beiden Schnitzel gegessen habe und ich die Rechnung bestelle, stellt sich heraus, dass Wilkening heimlich schon alle Biere bezahlt hat. Eher aus Verlegenheit frage ich den Kellner im Halben Mond, wer denn der Mann ist, der auf meinem Bierdeckel abgebildet ist. „Einfach irgendeiner“, sagt der. Später, beim googlen für diesen Artikel erkenne ich das Porträt wieder: Es ist Heinrich von Gagern.
Wo die Mitte ist, definiert sich vielleicht nicht nur über links und rechts. Es gibt auch noch die Dimension der Geschichte.
Esther Göbel hat mitgeholfen, den Artikel anzufertigen; Vera Fröhlich hat gegengelesen; die Fotos hat Christian Gesellmann gemacht.