So voll is selten, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert. Vor allem um die Zeit. Freitag, 8.00 Uhr. Die Union stimmt dagegen, die Gesetzesänderung „Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ auf die Tagesordnung zu nehmen. Der Rest des Plenums stimmt dafür. Jürgen Trittin fällt beinahe vom Stuhl, so hoch reckt er seine Hand. Verkehrsminister Alexander Dobrindt staunt, als rollte gerade ein Laster voller tanzender Lederuschis durch den Reichstag. Auch das gibt es nicht so oft, sagt Lammert: Applaus für einen Geschäftsordnungsantrag.
Seit 1994 debattiert der Bundestag darüber, ob Schwule und Lesben auch heiraten dürfen. Allein in den letzten vier Jahren stand das Thema 30-mal auf der Tagesordnung des Rechtsausschusses und wurde dann wieder verschoben. Es gibt Gesetzentwürfe des Bundesrates (2015), der Linken-Fraktion (2013) und von den Grünen (2015).
Dass heute darüber entschieden wird, hätte bis vor Kurzem trotzdem niemand gedacht. Bis vergangenen Montag. Da fragt ein Mann namens Ulli Köppe die Kanzlerin beim Brigitte-Talk im Gorki-Theater in Berlin, wann er denn seinen Mann endlich Ehemann nennen dürfe. Eine Gewissensfrage, sagt Angela Merkel.
Fünf Tage später steht die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt am Rednerpult unter dem in metallener Ewigkeit zerzausten Bundesadler und sagt: „Heute wird Geschichte geschrieben.“ Merkel sitzt im blauen Kostüm im bundestagsblauen Chefsessel und sieht eher nach historisch schlechter Laune aus. Und dann wird sie auch noch von SPD-Mann Johannes Kahrs vollgepöbelt, der sagt, Montag bei Brigitte, das sei ihr persönlicher Schabowski-Moment gewesen, und überhaupt: „Vielen Dank für Nichts!“
Den Bundesadler interessiert das freilich nicht, dieses Mimimi, er hat ja die Adlerperspektive, guckt stur nach rechts, wie immer, über die hängenden, schüttelnden Köpfe der Unionsfraktion hinweg Richtung Kanzleramt. Dort stehen rund 500 Menschen im Regen und mit Dutzenden Regenbogenfahnen, noch nicht so aufgeweckt wie die niemals müden Menschen im Plenarsaal, ein bisschen unschlüssig auch, zum Trinken ist es so oder so noch zu früh und irgendwie klappt es mit der Übertragung der Debatte aus dem Parlament nicht. Dafür steht schon eine große Hochzeitstorte aus Plastik da, umringt von einem halben Dutzend Polizisten.
So verpassen sie, wie SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann als erstes den Satz sagt, der am häufigsten während der knapp 45-minütigen Debatte fällt: „Heute können wir ganz vielen Menschen etwas geben. Und dabei wird niemandem etwas genommen.“ Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich platzt da fast eine Ader am Hals und seine rüstige Monacobräune changiert leicht ins Rötliche. „Das hättet ihr alles schon viel eher haben können“, sagt Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken in Richtung SPD. „Aber ihr müsst ja immer erst Merkel fragen.“
Vor dem Kanzleramt wissen sie, wem sie für die Ehe für alle danken müssen. „Volker Beck, Volker Beck“, rufen sie dort. Beck ist der Mann, der dafür gesorgt hat, dass der Bundestag sich immer und immer wieder mit der Gleichberechtigung Homosexueller auseinandersetzen musste. Seit 1994 sitzt der schwule Schwabe im Parlament. Heute zum letzten Mal, der 56-Jährige hat es für die nächste Wahl nicht mehr auf die Landesliste der Grünen geschafft, nachdem er letztes Jahr bei einer Polizeikontrolle mit 0,6 Gramm Crystal Meth in der Tasche erwischt wurde.
Aber heute feiern sie ihn für sein Lebenswerk, ihren Bürgerrechtler, kurz nachdem Norbert Lammert das Ergebnis der Abstimmung bekanntgibt, zünden die Grünen zwei Konfettikanonen, die paar CDU-Leute, die noch da sind, buhen, Beck applaudiert im bunten Papierschnipselregen und strahlt: 393 Ja-Stimmen, 226 Nein-Stimmen, vier Enthaltungen. 9.10 Uhr – die Ehe für alle ist beschlossen. Da tut auch die Rüge von Lammert nicht mehr weh, die klatscht er weg und macht sich auf den Weg zum Kanzleramt, wo die Entscheidung ein wenig zeitversetzt über die Smartphones tickert und dann grüppchenweise mit einem etwas enttäuschenden Uu-uha-huu zur Kenntnis genommen wird.
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Vor mir steht Anja Papenfuß in einem pinkfarbenen Regenponcho und pustet Luftballons auf. Die 36-Jährige sagt, sie fand das schon immer eine Ungerechtigkeit, dass Schwule und Lesben nicht die gleichen Rechte haben und deshalb sei sie heute Morgen hier, weil ihre Tochter, die soll alles mal so machen dürfen, wie sie will.
Neben uns checkt gerade ein schwules Pärchen, beide in Leggings mit Mondstraßenmotiv, gemeinsam seinen Twitter-Feed und tatsächlich Uu-uha-huu, es ist vollbracht. Die beiden umarmen sich lang und küssen sich kurz. Dann ploppt der Korken aus Holger Robbers Rotkäppchen-Flasche. „Wir haben so lange drauf gewartet, dass diese Diskriminierung endlich vorbei ist“, sagt er und küsst den Mann, mit dem er seit 13 Jahren verpartnert ist. Der sagt: „Für uns kommt das jetzt leider zu spät. Wir wollten immer gemeinsam ein Kind adoptieren, eine richtige Familie sein. Jetzt sind wir zu alt dafür.“ Nicht nur Freudentränen und Regentropfen glänzen feucht auf den Wangen der Demonstrierenden, die nun immer mehr zu Feiernden werden und dann wieder nach Volker Beck rufen.
Aber der ist noch unterwegs, jemand greift zum Mikrofon und sagt, immerhin, fast 80 Leute von der CDU haben auch mit Ja gestimmt. Angela Merkel ist nicht darunter. Man wolle doch jetzt mal ihre Begründung anhören. Aber der Videostream läuft nicht richtig.
„Lassen wir, ist viel zu leise.“
Kurz darauf wird es richtig laut. Volker Beck ist angekommen, Jubel bricht aus. „Endlich!“, sagt er.
Theresa Bäuerlein hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; das Aufmacherbild hat Christian Gesellmann gemacht.