„Endlich gleichberechtigt!“
Politik und Macht

Interview: „Endlich gleichberechtigt!“

Auch nachdem der Bundestag die Ehe für alle beschlossen hat, geht der Kampf gegen Homophobie für ihn weiter: Jörg Steinert erklärt mir, warum er erstmal ganz nüchtern bleibt.

Profilbild von Interview von Christian Gesellmann

Plötzlich. Ganz plötzlich soll die Ehe für alle doch möglich sein. Vier Jahre Stillstand, die Beratungen im Bundestagsausschuss 30-mal verschoben und dann fragt ein Mann namens Ulli Köppe die Kanzlerin beim Brigitte-Talk im Gorki-Theater in Berlin, wann er denn seinen Mann endlich Ehemann nennen dürfe.

Fünf Tage später wird im Bundestag darüber abgestimmt. Es ist einer der wichtigsten Meilensteine im Kampf für die Gleichberechtigung von Homosexuellen in Deutschland. Im Büro des Berlin-Brandenburger Landesverbands der Lesben und Schwulen (LSVD) ist davon wenig zu merken. Es gibt genug anderes zu tun, denn am Tag der Abstimmung beginnen auch die Pride Weeks.

Jörg Steinert, der 35 Jahre alte Geschäftsführer des Verbands, wird mit Berlins Regierendem Bürgermeister die Regenbogenfahne auf dem Nollendorfplatz hissen und damit eine ganze Reihe von Veranstaltungen der lesbisch-schwulen Szene eröffnen.

Unterdessen knarzt das ausgelatschte Parkett in dem Büro, das im vierten Stock eines Altbaus im Nollendorfkiez liegt, und zwischen Stapeln von Kisten stehen Mitarbeiter und sortieren konzentriert Flyer, Namens- und Hinweisschilder. Im Flur hängen die gerahmten Kampagnenplakate aus mehr als zehn Jahren. „Traut euch – Traut uns!“, steht auf einigen.

„Du kannst jetzt nicht aufs Klo gehen, du musst arbeiten“, ruft eine Mitarbeiterin Jörg Steinert mit strenger Stimme hinterher und fängt dann an zu lachen. „Ich komm’ gleich“, sagt er zu mir und zur Mitarbeiterin: „Außer für den SPD-Parteivorstand bin ich erstmal für niemanden zu erreichen.“

Steinert stammt wie ich aus Zwickau und hat mir vor ein paar Jahren einmal erzählt, dass Homophobie in seiner Heimatstadt ein Grund für ihn war wegzuziehen. Er studierte in Berlin und begann sich ehrenamtlich beim LSVD zu engagieren. „Dass daraus einmal mein Beruf wird, hätte ich nie gedacht“, sagt er. Im Interview blickt er mit mir auf 25 Jahre Kampf für Gleichberechtigung zurück und erklärt, warum seine Arbeit noch lange nicht erledigt ist.


Homophobie war auch ein Grund für Dich, Deine Heimat Sachsen zu verlassen. Was bedeutet die Abstimmung über die Ehe für alle im Bundestag für Dich persönlich?

Ich habe nicht vor zu heiraten. Aber allein das Gefühl, die Möglichkeit zu haben, richtig heiraten zu können – das ist ganz viel wert. Weil es eben ausdrückt, dass wir endlich gleichberechtigt sind in dieser Gesellschaft. Der Kampf dafür hat vor ziemlich genau 25 Jahren begonnen, mit der Aktion Standesamt. Da gucke ich auf meinen Kollegen Axel hier (Steinert zeigt auf einen Mitarbeiter, der am Computer sitzt und seinen Namen zwar gehört haben muss, aber weiter auf den Bildschirm schaut und schreibt), der war mit dabei. Am 19. August 1992 ist er – wie andere schwule und lesbische Paare – mit seinem Partner einfach mal zum Standesamt gegangen und hat dort gesagt: Hey, wir wollen auch heiraten. Das war der Beginn des Kampfes für Gleichberechtigung, die übrigens auch erst durch die Wiedervereinigung wirklich vorwärts kam.

Was hat die Wiedervereinigung damit zu tun?

Anders als in der BRD gab es den Paragrafen 175, der Homosexualität kriminalisiert, ab Ende der 80er-Jahre im Strafrecht der DDR nicht mehr. Durch die Wiedervereinigung sollte die Rechtsprechung angeglichen werden, und es war klar, dass der Paragraf im Osten nicht wieder eingeführt werden soll. Dennoch sträubte sich Helmut Kohls CDU zunächst, ihn abzuschaffen. Es galt dann das Tatortprinzip. Was im Westen verboten war, war im Osten erlaubt. Bis 1994 mussten homosexuelle Männer noch strafrechtliche Verfolgung befürchten. Es war zum Beispiel illegal, dass ein 19-Jähriger etwas mit einem 16-Jährigen hat. Bei Heteros ist das erlaubt. Schwulen Männern drohte dafür Gefängnis. Schutzaltersgrenze wurde das genannt.

25 Jahre Kampf für die Ehe für alle nähern sich dem Ende – dafür scheinen das hier alle ziemlich nüchtern aufzunehmen.

Wir denken jetzt erstmal ganz nüchtern: Hoffentlich kommt es zu dieser Abstimmung und hoffentlich wird es keine Hintertürchen geben. Aber ich bin mir sicher: Wenn das am Freitag durchkommt, dann wird es hier eine große Party geben. Erst dann nehmen wir es richtig wahr. Wir haben in den vergangenen Jahren einfach so viel Mist erlebt, mussten immer wieder vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Es wurden so viele Schutzbehauptungen und Falschbehauptungen getroffen. Zum Beispiel 2001, als die eingetragene Partnerschaft eingeführt wurde: Da haben Thüringen, Sachsen und Bayern dagegen geklagt, weil es gegen das Grundgesetz verstoße. Ähnlich war es mit der steuerrechtlichen Gleichstellung, auch hier mussten wir erst vor das Verfassungsgericht ziehen. Also, die Ehe für alle kommt nicht aus heiterem Himmel. Wir mussten viel und lang dafür streiten. Viele können es noch gar nicht fassen, dass es jetzt plötzlich so weit sein soll. Ich glaube, wir haben das noch gar nicht so richtig realisiert.

Warst Du überrascht, dass die Ehe für alle so plötzlich zur Abstimmung kommt?

Hier ist eine Dynamik entstanden, die so nicht vorhersehbar war. Da steckt ganz viel Wahlkampfmanöver dahinter, da müssen wir uns nix vormachen. Aber für uns ist das Ergebnis entscheidend. In den letzten Tagen gab es drei Personen, die die ganze Diskussion vorangetrieben haben. Das war zum einen Volker Beck, der bei den Grünen durchgesetzt hat, dass die Ehe für alle Koalitionsbedingung ist. Dann hat Christian Lindner von der FDP gesagt, mit ihm werde es ansonsten ebenfalls keine Koalition geben und zuletzt Martin Schulz beim Parteitag der SPD. Das hat Angela Merkel und Horst Seehofer natürlich unter Druck gesetzt, die Abstimmung ihren Abgeordneten – wie bei anderen moralischen Fragen auch – freizustellen. Wir sind jetzt mit den Parteien in Kontakt und hoffen, dass die nicht nochmal umfallen. Die SPD hat ja schon einmal vor einer Wahl gesagt: Mit uns 100 Prozent Gleichstellung, und dann hat sie sich von der CDU kleinregieren lassen. Auch die FDP und selbst die Grünen sind da auf Landesebene in der Vergangenheit schon mal eingeknickt.

Wie wirst Du die Abstimmung im Bundestag morgen verfolgen?

Am Freitag beginnen in Berlin die Pride Weeks, da gehören zum Beispiel ein lesbisch-schwules Straßenfest, die Sportveranstaltung Respect Gaymes und der Christopher-Street-Day dazu. Das heißt, die Regenbogenfahnen werden sowieso in der ganzen Stadt gehisst, bei Hertha BSC, am Rathaus Spandau, am Nollendorfplatz, bei Vattenfall. Zufälligerweise stimmt ausgerechnet an dem Tag nun der Bundestag über die Ehe für alle ab.

Aber Du wirst nicht extra in den Bundestag gehen deswegen?

Nein, wir werden auf der Straße präsent sein und gegenüber vom Bundestag vor dem Kanzleramt demonstrieren. Der Kampf gegen Homophobie ist weiterhin eine Aufgabe, das hört ja nicht mit einem Bundestagsbeschluss auf. Viele sagen, jetzt habt ihr die Ehe für alle, jetzt könnt ihr euren Verband auflösen. Aber wir haben doch weiter mit Mobbing an den Schulen zu kämpfen, mit einer hohen Suizidrate unter homosexuellen Jugendlichen, mit Religionsgemeinschaften, die sich abschätzig äußern. Wir haben etwa zehn verschiedene Projekte, die Aufklärungsarbeit in Schulen leisten, mit Migranten arbeiten, aber auch mit dem Berliner Fußballverband, wir sind in den Fankurven präsent. Wir wollen Ungleichbehandlung und Diskriminierung überall entgegenwirken, von Schule über Arbeitsplatz, Kirche und Fankurve. Das ist unser Ziel, dass das in allen gesellschaftlichen Bereichen und anderen Regionen voranschreitet. In Sachsen gibt es immer noch evangelikale Gruppen, die rumlaufen und behaupten, Homosexualität ist eine Krankheit und heilbar, in Baden-Württemberg gibt es Katholiken, die das tun, und in Berlin Muslime. An uns wenden sich Opfer, die sagen: meine ganze Familie redet nicht mehr mit mir oder will mich heilen lassen. Sowas macht psychisch krank. Das Rechtliche ist das eine. Der Alltag ist etwas anderes.

Der Zwickauer Bundestagsabgeordnete der CDU verweigert seine Zustimmung zur Ehe für alle. Er sagt: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden heute schon nicht mehr diskriminiert, die jetzige Regelung ist ausreichend.

Rechtlich gesehen ist die eingetragene Partnerschaft fast gleichwertig, da hat sich in den letzten Jahren unheimlich viel getan. Nach wie vor gibt es aber Ungleichbehandlungen, zum Beispiel bei der Reproduktionsmedizin. Da werden verheiratete und unverheiratete heterosexuelle Paare finanziell unterstützt, homosexuelle Paare aber ausgeschlossen. Das ist eine große Ungerechtigkeit, die uns sauer macht. Ebenso beim Adoptivrecht. Homosexuelle dürfen nur leibliche oder adoptierte Kinder ihres Partners adoptieren.

Gewalt gegen Homosexuelle – wie häufig kommt das in Deutschland noch vor?

Für ganz Deutschland wissen wir es gar nicht, weil die Polizeistatistik in den meisten Ländern dazu nicht aussagefähig ist. In Brandenburg können sie zum Beispiel nicht sagen, wie viele Übergriffe es gibt. Im benachbarten Berlin wird jeder einzelne Vorfall, der bekannt wird, nicht nur in die Statistik aufgenommen, sondern auch öffentlich bekanntgemacht, so wie bei antisemitischen und anderen Hassverbrechen auch. Jährlich werden der Polizei etwa 150 Vorfälle bekannt. Beim schwulen Überfalltelefon Maneo sind es etwa doppelt so viele. Viele Opfer melden sich aber nirgends, weil sie ihre eigenen Erfahrungen bagatellisieren oder befürchten, von Strafverfolgungsbehörden diskriminiert zu werden. Man muss schon davon ausgehen, dass es selbst in einer Großstadt wie Berlin täglich zu einem Überfall kommt.

Die AfD ist gegen die Ehe für alle, gegen Aufklärungsunterricht an den Schulen, in Thüringen wollten sie die Homosexuelle sogar zählen lassen – aber als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl hat die Partei mit Alice Weidel eine Frau aufgestellt, die mit einer anderen Frau in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt. Was hältst Du davon?

Sie lebt persönlich das Gegenteil von dem, was sie politisch fordert. Es gibt halt Absurditäten in Lebensläufen, mal gucken wie weit sie damit kommt. Egal was ihre sexuelle Orientierung angeht, sie ist für uns keine Kooperationspartnerin. Früher waren wir als schwule und lesbische Community stolz auf jeden schwulen und lesbischen Politiker. Darüber sind wir hinausgewachsen. Die sexuelle Identität ist nicht entscheidend. Eine engagierte heterosexuelle Person, die sich für die Sache einsetzt, ist uns lieber als eine lesbische AfD-Spitzenkandidatin. Lieber Martin Schulz als Alice Weidel.


Dominik Wurnig hat beim Erarbeiten des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; das Aufmacherbild hat Christian Gesellmann gemacht; Martin Gommel hat es ausgewählt.