Manche tragen den Begriff „Ossi“ mit sich rum wie den Jute-Beutel, das Double-Denim-Outfit oder die weißen Tennissocken, deren Spannbündchen sich um schlanke Hipster-Waden ranken. Eine ironische Kapitalismuskritik, so dünn wie ein Schnurrbart.
Für die anderen ist der „Ossi“ eine ehrverletzende Bezeichnung, ein Witz auf Kosten von Systembenachteiligten, denen nach dem Krieg erst von den Sowjets die Fabriken unterm Arsch wegmontiert wurden und die dann zusehen mussten, wie die Wende zum West-Franchise wurde, Ost-Entrümpelung statt Wiedervereinigung.
Und für wieder andere ist „Ostdeutschland“ eine in Frakturschrift geplottete Kampfansage für die Golf-Heckscheibe oder die Stadionkurve. Ihr habt die Nafris. Wir sind die Ofris (ostdeutsche Fußballschläger/rechtsextreme Intensivtäter). Mit Tunnel im Ohr, Undercut auf dem Kopf und Sehnsucht nach Sandmann und Schnatterinchen im Herzen.
Als Journalist 27 Jahre nach der Wiedervereinigung, sagen manche, sollte ich den Begriff „Ossi“ am besten ganz vermeiden. „Das klingt hochnäsig und es ist genau diese Art von Sprache, die zur Spaltung beiträgt“, sagt Krautreporter-Mitglied Henning.
Ein Ossi ist für mich etwas anderes als für meine Eltern
Die Diskussion begann, als ich vor ein paar Wochen in einem Artikel gezeigt habe, wie die Ostdeutschen in der AfD die Partei veränderten. Die Reaktion hat mich erst überrascht, dann genervt und schließlich fasziniert. Denn mir ist aufgefallen, dass sich der Begriff verändert hat. Dass er für meine Eltern etwas anderes bedeutet als für mich.
Dabei habe ich gelernt, was der wichtigste Unterschied zwischen Ossis und Wessis ist. Was genau uns trennt – immer noch – und wie wir endlich eins werden können. Warum Pegida in Dresden entstanden ist und nicht in Köln. Warum die Flüchtlingsheime in Sachsen öfter brennen als in der Pfalz. Warum die „Hools“ von Dynamo asozialer sind als die von Bayern.
Nein, das alles habe ich natürlich nicht erfahren.
Ich habe Studien gewälzt, das Internet halb leer gegoogelt, Eselsohren in Bücherseiten geknickt, Leser und Freunde zu ihrer persönlichen innerdeutschen Liebe und ihren Kabalen befragt. Dabei habe ich viele schöne Geschichten erfahren. Aber keine Antwort auf die Fragen: Wer ist ein Ossi? Was ist sein Problem? Ist er beleidigt? Wird er benachteiligt? Gibt es ihn überhaupt? Hasst er den Wessi? Oder will er lieber so sein wie er?
Und überhaupt: der Wessi. Was ist mit dem eigentlich? Schaut er auf den Ossi herab? Hält er sich für was Besseres? Ist er vielleicht sogar was Besseres? Keen Haar am Sack, aber’n Kamm in der Tasche, wie die Jacqueline aus Go Trabi Go so legendär sagt?
Je mehr Fragen man stellt, umso klarer wird einerseits, dass es sich bei Ossi und Wessi um Etikettierungen handelt, Verallgemeinerungen und Klischees, die für Witze oder Zuspitzungen taugen, aber nicht für sinnvolle Diskussionen oder politische Analysen. Das ist natürlich nicht besonders überraschend. Und an dieser Stelle hätte diese Recherche auch aufhören können.
Andererseits feiert der Ossi aber nun mal dieses merkwürdige Comeback – sowohl Politiker als auch Bürger und Medien bauen seit dem Aufkommen von Pegida rhetorisch die Mauer wieder auf. Warum machen die das?
Ich habe dazu drei Thesen:
1. Über den Osten lässt es sich leichter schlecht reden
Die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung ist in Sachsen entstanden. Die rechtspopulistische AfD konnte sich vor allem durch Wahlerfolge in den neuen Bundesländern als Partei etablieren. Die Flüchtlingskrise hat im Osten Deutschlands im Verhältnis zum Rest der Bundesrepublik zu proportional mehr Angriffen auf Ausländer und Politiker geführt. Aus diesen Gründen geriet Ostdeutschland wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Irgendwas muss an den Ossis anders sein, und ganz besonders bei den Sachsen, die „Ein ganz besonderes Volk“ sind, wie die Zeit titelte, nachdem sie ein Reporterteam durch den Freistaat schickte. Es fand heraus, dass in Sachsen „die Heimat glüht, die Sprache peitscht und sich die Politik raushält“.
Keines der meinungsbildenden Magazine Deutschlands und keine einzige überregionale Zeitung hat den Sitz ihrer Redaktion in den neuen Bundesländern. Aus dem Osten berichten immer noch Korrespondenten – und das spürt man als ostdeutscher Leser.
Das Bedürfnis, den Osten erklären zu wollen, hat viele verallgemeinernde und teilweise herablassende Medienberichte und Politiker-Äußerungen zur Folge gehabt. Berichte, die es bei vergleichbaren Anlässen in anderen Bundesländern in dieser Form nicht gab.
„In Sachsen glüht die Heimat“ – so einen Spruch bringen sächsische Medien nicht deshalb nicht, weil sie vor lauter Lokalpatriotismus blind geworden sind, sondern weil der Spruch Schwachsinn ist. Genauso Schwachsinn, wie zu schreiben „In Westfalen glüht die Heimat.”
Als in Dortmund beispielsweise Neonazis das Rathaus stürmen wollten und im Nachhinein von der Polizei auch noch verteidigt wurden, gab es keine Versuche, den strukturellen Rechtsextremismus der Region mit bestimmten Charaktereigenschaften des ganz besonderen Völkchens der Westfalen erklären zu wollen.
Alt-Bundespräsident Joachim Gauck sprach im Zusammenhang mit Angriffen auf Flüchtlinge von „Dunkeldeutschland“, ein Begriff, der 1994 als polemische Bezeichnung für Ostdeutschland schon mal auf der Liste der Unwörter des Jahres stand.
Im Fan-Block des Fußball-Zweitligisten Dynamo Dresden erschien ein Jahr später ein riesiges Transparent, auf dem stand: „Das ist der dunkle Osten.“ Darüber ein Bild von einem vermummten Dynamo-Fan mit Baseballschläger. Eine Botschaft an die Gastmannschaft aus München, an Gauck und natürlich eine bildgewaltige, kalkulierte Provokation, von der die Dynamo-Ultras genau wussten, dass sie bundesweit Schlagzeilen machen wird.
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Dresden als einer der schlimmsten Fußballclubs. Dabei zeichnen die Statistiken zu gewaltbereiten Fans, Anzahl und Schwere der Vorfälle oder Strafzahlungen ein anderes Bild. Hier steht Dresden im Mittelfeld der Vereine der ersten drei Bundesligen. Dagegen wechseln sich Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt regelmäßig als „Randalemeister“ ab. Aber die härteste bisher vom Deutschen Fußball-Bund verhängte Strafe überhaupt – den Ausschluss aus dem DFB-Pokal – erhielt dennoch: Dresden.
Christian Kabs, der als Sozialarbeiter seit einem guten Jahrzehnt beim Fan-Projekt Dresden arbeitet, sagt: „Die Fans spielen natürlich mit dem Klischee, und das ist auch in gewisser Weise eine Parodie. Andererseits passiert es auch, dass sich Leute mit dem Image identifizieren. Wenn man immer wieder den Stempel aufgedrückt bekommt, besonders rechts und besonders brutal zu sein – dann verinnerlicht man das irgendwann.”
So kommt eine Spirale in Gang, sagt Kabs, die auch zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann: „Ein negativer Ruf zieht dann auch ein gewisses Klientel an.” Was mich zu meiner zweiten These führt:
2. Die Motten sammeln sich ums Licht
Der Begriff Ossi, schrieb KR-Leser Gregor Kalinkat, komme „sehr ‘von oben herab’ rüber und erinnert mich an (Hillary Clintons) Basket of Deplorables. So wird die Wir-gegen-alle-Einstellung der AfD-Anhänger nur verstärkt.“
Ich wusste nicht, was mit dem Basket of Deplorables gemeint ist und habe es mir angeschaut. Ich finde, das ist eine sehr interessante Parallele. Lies Dir einmal dieses Zitat durch:
„Grob verallgemeinert kann man sagen, die Hälfte der AfD-Wähler kann man in einen Topf werfen, mit all den anderen Bedauernswerten – Rassisten, Sexisten, Fremdenfeinden, Islamhassern. Frauke Petry hat ihnen eine Stimme verliehen, ihre hasserfüllte, bösartige Rhetorik weiterverbreitet. Einige von denen sind Unverbesserliche. Aber sie sind zum Glück nicht Deutschland!“
Das war im Prinzip das Zitat von Hillary Clinton, von dem viele sagten, es habe sie vielleicht den Wahlsieg gekostet. Ich habe nur „Donald Trump“ durch „AfD“ beziehungsweise „Frauke Petry“ ersetzt sowie „USA“ durch „Deutschland“.
Jetzt könnte es auch ein Spruch von Sigmar Gabriel sein, dem Mann, der als Vize-Kanzler und SPD-Vorsitzender Asyl-Gegner im sächsischen Heidenau als „Pack“ beschimpfte. Was von den Demonstrierenden in anderen Orten schnell aufgegriffen und im Sprechchor Gabriel wieder vor den Latz geworfen wurde: „Wir sind das Pack!“
Die Analogie zum Sprechchor von 1989 ist nicht zu übersehen. Damals hieß es: „Wir sind das Volk!“
Die Analogie zur Wahl Trumps ist: Politiküberdrüssige wählen Anti-Politiker (oder gar nicht). Sie zu verhöhnen oder als unmoralisch zu brandmarken heißt, sie als potenzielle Wähler gar nicht haben zu wollen. Das kann nicht der Anspruch einer Volkspartei sein.
Wenn sich die Aufmerksamkeit an einem bestimmten Ort bündelt – und das kann gern ein imaginärer Ort wie „Ostdeutschland“ sein, zu dem die Villen auf Rügen genauso gehören wie die Datschen in Zittau, boomende urbane Zentren wie Leipzig genauso wie Brandenburger Loneliness und das Thüringer Nazi-Nest – dann werden sich an diesem Ort auch diejenigen versammeln, die die entstandene Aufmerksamkeit für ihre eigenen Anliegen nutzen wollen.
Hier steht nun Sigmar Gabriel und ruft Pack! und dort steht Gauck und redet von Dunkeldeutschland, hier stehen die Pegidisten und rufen „Merkel muss weg!” und dort stehen die Dynamo-Fans und pflegen ihr Schlägerimage.
Es braucht nur eine Handvoll Ultras, um ein Banner mit dem Titel „Das ist der dunkle Osten” zu malen. Im K-Block stehen dann mehr als 9.000 Zuschauer dahinter. In einem Zeitungsbericht wird daraus die Botschaft einer ganzen Stadt. In den sozialen Netzwerken wird daraus das Bekenntnis einer ganzen Region. Was für die Ultras wieder der Beweis dafür ist, wie oberflächlich die Medien sind. Gauck ist mittlerweile in Rente und Gabriel Außenminister. Pack und Dunkeldeutschland sind hängengeblieben.
3. Der Ossi bäumt sich ein letztes Mal auf
Mit der Marke „Ossi” lässt sich viel Aufmerksamkeit generieren. Und damit lässt sich auch Geld verdienen. Mit dem Sandmann als Gipsfigur für Alexanderplatz-Touristen, mit Ostprodukt-Versandshops, die von Rotkäppchen-Sekt über Zetti-Knusperflocken und Diamant-Fahrrädern, Eierschecken-Backmischung, Bautzner Senf bis zu Dederon-Schürzen die mittelguten alten DDR-Klassiker verkaufen.
Und sogar das Geschäft mit dem bösen Ossi läuft exzellent. Labels wie Eastwear, Brachial und Thor Steinar leben davon, dass grimmig guckende anabolikagepimpte Halbrechte Klamotten mit brutalen Sprüchen tragen, wenn sie ihre hechelnden Mopshunde auf die Grünstreifen verkehrsberuhigter Zonen in feinsanierten ostdeutschen Innenstädten pinkeln lassen.
Das Geschäft mit dem Ossi – ob nun böse oder nostalgisch – wird aber nicht ewig funktionieren. Ja, es stimmt, dass von den 30 Unternehmen, die den Deutschen Aktienindex bilden, kein einziges seinen Sitz im Osten hat, dass die Arbeitslosigkeit hier höher ist und die Einkommen und der Ausländeranteil niedriger sind und mehr Ossis als Wessis im Kindergarten waren, statt zu Hause bei Mutti.
Aber die Unterschiede verschwinden immer mehr. Langzeitstudien suggerieren, dass die gefühlten Unterschiede sogar schneller abnehmen, als sich die makroökonomischen Eckdaten angleichen. Irgendwann werden sie nicht mehr da sein. Und dann kann ein Wende-Trauma auch für niemanden mehr eine Entschuldigung darstellen. Eine andere Sozialisation ist dann keine Ausrede und keine Erklärung mehr. Und Befindlichkeiten werden keine Missverständnisse mehr auslösen.
Okay, sie werden schon noch Missverständnisse auslösen: zwischen Bayern und Franken und Erzgebirgern und Vogtländern und Westfalen und Rheinländern und Badenern und Württembergern und Hessen und Pfälzern. Denn wir messen uns immer mit unseren Nachbarn.
Das kann ein Spiel sein, aber auch ein ernsthaftes Konkurrenzverhältnis – nicht unbedingt, weil wir so unterschiedlich sind, sondern gerade weil wir so gleich sind. „Narzissmus der kleinen Differenz” nannte Sigmund Freud das: Kollektive, die sich gleichen, betonen, was sie unterscheidet. So werden Missgunst und Aggressionen aufgebaut, die den kollektiven Zusammenhalt stärken.
Dabei muss ich an etwas denken, dass ich vor einigen Jahren bei der Bundeswehr erlebte. Im Herbst 2003 begann ich meinen Grundwehrdienst in Bayern. Mit einem Dutzend anderer junger Männer in Jeans und Parkas stand ich verloren an einem kleinen Bahnhof in der Oberpfalz. Manche hatten Abitur und andere hatten eine Lehre gemacht, manche kamen aus Bayern, manche aus Sachsen, manche aus Brandenburg.
In der Kaserne mussten wir uns zunächst ärztlich untersuchen lassen, dann bekamen wir Uniformen und Ausrüstung und wurden auf die Stuben verteilt. Wir redeten über Pisstests und ausgebleichte Flecktarns und welche Unteroffiziere den größten Knall haben.
Nach einem Monat durften wir zum ersten Mal abends ins Mannschaftsheim, so heißen die Kneipen in Kasernen. Die Jungs gingen sich Bier holen. Ich ging raus telefonieren. Als ich eine halbe Stunde später wieder reinkam, waren die Tische zur Seite geschoben.
Alle, die aus den alten Bundesländern stammten, standen in der linken Ecke des Saals und sangen „Baut die Mauer auf, baut sie wieder auf!“ Alle, die aus den neuen Bundesländern stammten, standen in der rechten Ecke des Saals und brüllten „Wessis, Schweine!“ Ich drehte mich um und ging wieder.
Nach diesem Abend war es nie wieder ein Thema, wer von uns aus dem Osten und wer aus dem Westen stammt. So wie es vorher auch nie ein Thema war.
Das letzte Wort möchte ich einem Krautreporter-Leser geben. Christian Landrock stammt – wie ich – aus Zwickau und schrieb mir:
„Für mich steht der Begriff Ossi für eine gemeinsame Geschichte, eine spezifische Lebenswelt, durch die die Menschen zwischen Ostsee und Erzgebirge ähnliche Erfahrungen geteilt haben und in vielen Bereichen mehr Berührungspunkte miteinander haben als zum Beispiel ein Vogtländer mit einen Oberfranken. Dies beginnt bei Kleinigkeiten. Ostdeutsche halten den ‚Zauberer von Oz‘ zum Beispiel für eine schlechte Kopie des ‚Zauberers der Smaragdenstadt‘. Und das geht bis hin zu ähnlichen Erlebnissen beim Kontakt mit Menschen aus der alten Bundesrepublik. Die 27 Jahre der Wiedervereinigung haben die Unterschiede der deutschen Teilung nicht eingeebnet, stattdessen haben auch Ostdeutsche gemeinsame, stille Erfahrungen in den Nachwendejahren gemacht und erleben diese bis in die Gegenwart. So versteht kaum ein Ostdeutscher die sehr emotionale Diskussion über das ‚Turboabi‘ in den alten Bundesländern. Für uns stellt G8 den Normalfall dar. Wichtig ist aber, dass die wahrgenommene Ossi-Wessi-Identität sich nicht hemmend auf die persönlichen Kontakte zwischen den Menschen auswirkt und dass niemand die beleidigte Leberwust gibt.”
Rico Grimm und Sebastian Esser haben bei der Erarbeitung des Textes geholfen; Vera Fröhlich hat ihn gegengelesen; das Aufmacherbild zeigt Jugendliche aus Zittau in Sachsen. Wie die anderen verwendeten Fotos stammt es aus dem Projekt „Where were you in ’92?” der Künstlerin Henrike Naumann. Sie zeigen jugendliche Menschen im Jahr 1992, die heute alle im wiedervereinigten Berlin leben.