„Die DDR war sehr offen gegenüber Nacktheit, aber sehr zurückhaltend, wenn es um Sex ging“

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Politik und Macht

„Die DDR war sehr offen gegenüber Nacktheit, aber sehr zurückhaltend, wenn es um Sex ging“

Normalerweise reden wir nicht gern über unsere ersten sexuellen Erfahrungen. Die in Berlin lebende US-Amerikanerin Shauna Blackmon will das ändern. Deswegen hat sie Menschen nach ihren frühen Erlebnissen gefragt und die Geschichten in dem Projekt „Stumbling on Sexuality“ gesammelt. Diesmal erzählt Momo aus der ehemaligen DDR von ihren ersten Erfahrungen – und wie sie ein Mädchen und einen Jungen schockierte.

Profilbild von Erinnerungen von Momo

Als Kind war Nacktheit für mich nichts Besonderes. Meine Eltern waren immer nackt, es hatte nichts Sexuelles. Während sich die meisten Kinder fragten, wie wohl Brüste oder ein Penis aussehen, wuchs ich mit nackten Menschen zu Hause auf und hatte sie um mich, wenn ich mit meinem Vater in die Sauna ging. Ich musste mir darüber keine Gedanken machen. Während des Mittagessens sagte mein Vater oft, er wolle jetzt Sex haben und fragte meine Mutter, ob sie auch wolle. Dann verschwanden beide und machten ein „Nickerchen“. Ich drehte das Radio laut.

Nachdem meine Eltern Sex hatten, stand meine Mutter auf und ging nackt ins Bad. Ich wusste immer, dass sie Sex hatten, es gab da nichts zu verbergen. Vielleicht war ich deshalb so neugierig, weil ich merkte, dass da etwas passiert, und dachte, es müsste etwas Interessantes sein. Mein Vater war immer ganz offen damit. Er machte klar, dass er viel Sex brauchte, und wenn meine Mutter das nicht wollte, würde er zu jemand anderen gehen. Er besuchte Prostituierte und sprach offen darüber. Im Handschuhfach seines Autos lagen immer Kondome, und manchmal versuchte ich, ein paar davon mitzunehmen.

Meine Mutter wollte mich aufklären, als ich in der fünften Klasse war, aber an diesem Punkt war ich schon zu alt dafür. Mein Wissen hatte ich aus der „Bravo“, einem deutschen Jugendmagazin. Es gab eine Rubrik „Fragen an Dr. Sommer“, an die Jugendliche schreiben und dort ihre Fragen stellen konnten. Ich lernte viel beim Lesen. Der Aufklärungsversuch meiner Mutter war dennoch niedlich. Sie fing damit an, dass sie sagte: “Du solltest wissen, dass Männer und Frauen Sex haben können und manche Männer sagen “vögeln” oder “ficken” oder “bumsen”, aber das gefällt mir überhaupt nicht. Du solltest immer “miteinander schlafen” sagen.

Das war für sie sehr wichtig. Als sie mehr über Sex sprechen wollte, sagte ich ihr, ich wisse schon alles und habe keine Fragen. Ich glaube, sie war genauso glücklich wie ich, dass wir das Thema wechseln konnten.

Die Doktorspiele mit Wattestäbchen waren sanft und schön

Im Alter von zehn bis zwölf Jahren war ich sehr daran interessiert, spielerisch möglichst viel über Sex zu lernen. Ein paar Mal machte ich Doktorspiele mit einem Mädchen, das neben meiner Oma wohnte. Sie fragte mich, ob sie meine Vagina untersuchen dürfe, nahm dann Wattestäbchen und reinigte und berührte sie sehr sanft, was sehr schön war. Wir haben das zwei oder drei Mal gemacht, waren sonst aber keine Freundinnen, wir haben uns nur dafür getroffen.

Ich dachte, das sei ein lustiges Spiel und wollte es mit meinen anderen Freundinnen zu Hause spielen. Also fragte ich meine beste Freundin, mit der ich aufgewachsen bin, ob sie rüberkommt und mit mir spielt. Wir bauten mit einer Decke eine Art Zelt und ich spielte mit ihr Doktor. Danach schämte sie sich und sagte mir, niemand dürfe wissen, was wir getan hatten. Ich stutzte, als ich ihre Reaktion sah. Vielleicht war das, was ich gemacht hatte, doch nicht gut, vielleicht hatte ich etwas Falsches getan. Jedenfalls habe ich es nie wieder gemacht. Es war viele Jahre lang ein großes Geheimnis zwischen uns. Jedes Mal, wenn ich darüber sprechen wollte, auch noch Jahre später, flippte sie aus und sagte: Neiiiin, rede nicht darüber. Für sie war es wirklich zu viel.

Als wir neun oder zehn waren, hatten meine Freundinnen und auch ich dann irgendwann Freunde. Einmal spielten wir folgendes Spiel: Die Jungs saßen einfach so da und die Mädchen räkelten sich und rieben sich an ihnen, bis sie eine Erektion bekamen. Dann warteten wir, bis die Erektion nachließ, und begannen wieder von vorn. Mit Streichhölzern hielten wir den Spielstand fest und das Mädchen gewann, das die meisten Erektionen auslöste. Damals habe ich zum ersten Mal einen erigierten Penis gesehen. So viel ich mich erinnere, habe ich gefragt, ob ich ihn sehen und auch berühren kann. Der Typ und ich hatten danach keinen Kontakt mehr, ich glaube, das war auch für ihn zu viel.

Zu dieser Zeit fiel die Berliner Mauer. Davor hatte es nie irgendetwas mit Sex im Fernsehen oder irgendwo anders gegeben. Niemand sprach mit uns über Sex in der Schule oder sonst wo. Unsere Gesellschaft war sehr offen gegenüber Nacktheit, aber sehr zurückhaltend, wenn es um Sex ging. Wir hatten in der DDR nur zwei TV-Kanäle und sie waren wirklich sauber, meiner Ansicht nach gab es nichts über Sex. Solche Sachen wurden selbst in den Nachrichten zensiert. Von Männern, die sich an Kindern vergingen, hörten wir nichts. Wir bekamen nur die Information, die wir auch hören sollten.

Als die Mauer fiel, sahen wir zum ersten mal Softpornos

Nachdem die Mauer gefallen war, hatten wir viel mehr Fernsehsender. Darunter war ein Programm, das Freitagabends Softpornos zeigte. Manchmal hatten meine Freundinnen und ich Pyjama-Partys und schauten uns diese Pornos gemeinsam an.

Kaum war die Mauer gefallen, wurde auch Telefonsex sehr beliebt. Nach 22 Uhr gab es eine Menge Werbung für sexuelle Dienstleistungen, einschließlich Telefonsex-Hotlines, die für Frauen kostenlos waren. In Nächten, in denen meine Eltern ausgegangen waren, riefen meine Freundinnen und ich diese Telefonnummern an und hatten Telefonsex mit Männern. Wir waren vier Mädchen in einer Art Burg, gebaut aus Kissen und Decken, und hatten den Lautsprecher des Telefons eingeschaltet.

Vor allem das Mädchen aus meinem Doktorspiel war richtig gut beim Telefonsex. Sie sagte Sachen, die die Jungs richtig scharfmachten, und brachte sie sogar zum Orgasmus. Wir blieben im Hintergrund und versuchten, nicht allzu viel zu kichern. Ein paar Wochen oder Monate lang taten wir dies bei jeder Pyjama-Party. Wir redeten über Dinge wie Saugen oder Lecken oder was auch immer, und sagten: Jetzt werde ich dich ficken. Wenn es uns zu viel wurde, legten wir einfach das Telefon auf.

Es hat Spaß gemacht, aber ich fand auch, dass es grenzwertig war. Wir waren neugierig und hatten Spaß zu dieser Zeit. Aber jetzt, wenn ich als Erwachsene zurückdenke, gab es einige wirklich hässliche Situationen, die ich manchmal ekelerregend fand. Wir waren elf oder zwölf und sie waren erwachsene Männer. Ein Mann, mit dem wir redeten, sagte, er wollte Windeln tragen. Bis dahin war mir nicht klar, dass einige Erwachsene so etwas überhaupt wollen.

Ich kam in die Pubertät und zeigte nicht mehr so viel Haut

Als ich etwa dreizehn war, ging ich mit meiner Sexualität viel vorsichtiger um und wurde konservativer. Ich fing an, in die Disco zu gehen und trug immer dieselben Hotpants und Strumpfhosen. Die Jungs in der Disco fragten nicht erst um Erlaubnis und taten Dinge, die ich unangenehm fand. Ich wurde vorsichtiger, zeigte nicht mehr so viel Haut. Es fühlte sich an, als würde ich etwas verpassen, weil ich wirklich gerne eine Frau bin und mich gerne wie eine Frau anziehe. Ich wollte nett aussehen, aber dann habe ich begonnen, dieses Gefühl ein bisschen zu verstecken.

Dann kam meine Jugendfeier, eine Tradition hier in Ostdeutschland. Du feierst, dass du jetzt eine Erwachsene wirst. Wir hatten eine Party mit Jungs. An diesem Abend machte ich eine wirklich schlechte Erfahrung mit jemandem, der mich küsste und mich anfassen wollte. Er machte die Tür zu und schloss ab, ich hatte wirklich Angst. Die Jungs machten nur Witze darüber. Nach dieser Erfahrung war ich nicht mehr so freizügig wie zuvor. Meine Pubertät veränderte alles und machte mich viel vorsichtiger und viel zurückhaltender.


Für ihr Projekt „Stumbling on Sexuality“ fragte die in Berlin lebende US-Amerikanerin Shauna Blackmon Leute, wie sie mit Sexualität in Berührung gekommen sind und wie sie das geprägt hat. Man kann auch seine eigene Geschichte vorschlagen. Mehr zum Thema hier.

Die Geschichte aus dem Englischen übersetzt hat Vera Fröhlich; den Artikel ausgesucht hat Theresa Bäuerlein; gegengelesen hat Christian Gesellmann; das Aufmacherbild hat Martin Gommel ausgesucht: istockphoto / martin-dm