Ein kleiner Junge trägt auf dem Women’s March in Washington ein Schild um den Hals: „I love naps but I stay woke“ steht darauf. Wer genau hinschaut, dem fällt das Wort woke auf. Das Schild ist ein Wortspiel: „Ich liebe Nickerchen – aber ich bleibe wach“.
Aber eigentlich gibt es das Wort woke nicht. Und trotzdem hat sich das Bild rasend schnell in Amerika verbreitet.
Das Wort hat sich in den vergangenen fünf Jahren in den USA durchgesetzt, parallel zum Aufstieg der neuen schwarzen Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter. Der Begriff wurde vor allem in den sozialen Netzwerken zum Markenzeichen dieser Bewegung. Sie glaubt: Wer in den USA schwarz ist, sieht sich mit großen sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert. Wer diese Ungerechtigkeiten erkennt und benennt, ist woke. Also in etwa übersetzt: wach sein im Kopf, Missstände bemerken.
https://twitter.com/jfuentes/status/822939689661382657
Die Soul-Sängerin Erykah Badu hat das Wort bekannt gemacht. Sie sang 2008 auf ihrem politisch motivierten Album „New Amerykah, Pt. 1: 4th World War“ in dem Lied „Master Teacher“:
Even if yo baby ain’t got no money
To support ya baby, you
(I stay woke)
Even when the preacher tell you some lies
And cheatin on ya mama, you stay woke
(I stay woke)
Even though you go through struggle and strife
To keep a healthy life, I stay woke
(I stay woke)
Everybody knows a black or a white there’s creatures in every shape and size
Everybody
(I stay woke)
https://www.youtube.com/watch?v=lJZq9rMzO2c&list=RDlJZq9rMzO2c#t=0
Für Badu war das damals ein Wort, mit dem sie zeigen wollte und konnte, dass sie den Blick auf die Realität nicht verloren hatte. 2012, als in Russland der Prozess gegen die Punk-Künstlerinnen von Pussy Riot lief, twitterte sie:
https://twitter.com/fatbellybella/status/233215131876724736
Das Wort sickerte daraufhin noch tiefer in die schwarze Community der USA. Und als im August 2014 in Ferguson, Missouri, ein Polizist einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschoss und Aufstände ausbrachen, wurde woke zum Synonym des Widerstandes: Der Hashtag #StayWoke wandelte sich zu einem Symbol des Aufstandes – und einer Warnung, sich nicht von dem großen ungerechten System unterkriegen zu lassen, die Augen aufzuhalten und weiter gegen Rassismus zu kämpfen. Immer mehr Menschen benutzten den Hashtag auf Twitter, gedruckt erschien er bald auf T-Shirts – schwarze Aktivisten benannten sogar eine Homepage nach dem neuen Trendwort. Es erinnert an Alerta, Alerta Antifascista! (Alarm, Alarm Antifaschisten!), den spanischen Leitspruch linker Antifaschisten, der seit fast 100 Jahren auf allen Demonstrationen und in allen politischen Kämpfen wie ein Schild vorangetragen wird.
Der Mainstream hat sich das Wort schon längst einverleibt
Aber anders als Alerta, Alerta Antifascista! wurde woke schon durch die unbarmherzige Mühle der Mainstream-Kultur gedreht. Man kennt das zum Beispiel von dem Wort Feminismus, das mittlerweile als schick gilt und in Kontexten auftaucht, die so wenig mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs zu tun haben wie Simon de Beauvoir mit Horst Seehofer. Die Seite Jezebel hat ein Quiz basierend auf woke gemacht, auf Twitter benutzen es immer mehr Menschen losgelöst von seiner eigentlichen Bedeutung. Einige brechen es auf seinen weltanschaulich neutralen David-gegen-Goliath-Gehalt hinab, andere wiederum benutzen es ironisch, um auf die völlig banalen Unwägbarkeiten des Alltags hinzuweisen und sich gleichzeitig über die Black-Lives-Matter-Bewegung lustig zu machen.
Damit wird der eigentliche Gehalt des Wortes verwässert, gerade auch von Weißen. Immer wieder erfanden die Schwarzen Amerikas coole Sachen, die die Weißen später übernahmen: Jazz, Twerken – selbst der Hipster hat seine Ursprünge in der schwarzen Kultur. Und die Geschichte des Hip-Hop ist eine einzige Geschichte der kulturellen Aneignung. Aber – den Stolz beiseitegeschoben – für die Sache der schwarzen Bürgerrechtler muss das nicht schlecht sein, wenn sich alle erinnern, wofür das Wort eigentlich steht.
Denn unter anderem Buzzfeed schreibt darüber, wie woke der Serien-Star Matt McGorry ist, weil er Bücher über die Sklaverei und das rassistische Gefängnissystem der USA liest. So wird eben nicht nur die schwarze Musik plötzlich cool, sondern auch die schwarzen Anliegen, jedenfalls in den liberalen Kreisen Amerikas. Das neue Wort ist ein Tür- und Gesprächsöffner. Es kann die Ideen der Bewegung in die Gesellschaft tragen.
Die neuen Rechten haben ihr eigenes Pendant zu woke
In den konservativen und in den Milieus der amerikanischen neuen Rechten ist dieses Wort auch zu einem Symbol geworden, allerdings für eine „wahrgenommene intellektuelle Überlegenheit“. So wird es in dem beliebten (und ziemlich lustigen) Urban Dictionary definiert, das ähnlich wie Wikipedia funktioniert. Jeder kann Vorschläge für Begriffsbestimmungen machen. Diejenige Definition, die die meisten Stimmen bekommt, steht an erster Stelle. An zweiter Stelle diejenige mit den zweitmeisten Stimmen usw. Das interessante nun: Erst an zweiter Stelle landet die eigentliche Definition des Wortes, ganz oben steht die kritische konservative Begriffsbeschreibung. Zur woke-Bewegung gibt es also auch schon wieder die Gegenbewegung.
Die neuen Rechten Amerikas haben übrigens in ihren Kreisen ihr eigenes woke, ein Wort, das nur sie so benutzen. Wenn jemand plötzlich „die Wahrheit“ erkennt, sagen sie, dass er oder sie die „rote Pille“ genommen hat. Das sprachliche Bild stammt aus dem 90er-Jahre-Film-Klassiker Matrix, in dem sich der Held Neo entscheiden muss, ob er lieber in einer angenehmen, aber künstlich geschaffenen Welt in Gefangenschaft leben will oder in der gefährlichen, aber echten Welt in Freiheit.
https://www.youtube.com/watch?v=zE7PKRjrid4
Es ist verblüffend, wie ähnlich sich woke und die Rote Pille nehmen sind. Denn letztlich geht es bei beiden Wörtern darum, seinen Horizont zu erweitern und sich der „wahren Realität“ bewusst zu werden. Wer die beiden Ausdrücke benutzt, könnte dabei aber nicht unterschiedlicher sein. Es sind zwei Worte, die für ein völlig polarisiertes Amerika stehen und die letztlich nichts anderes sagen als: „Dieser Mensch gehört zu uns und nicht zu denen.“ Es sind sprachliche Mauern. Sie grenzen ab und stiften so Identität.
Text gegengelesen hat Esther Göbel; Martin Gommel hat das Aufmacher-Bild herausgesucht (istock / vladwel)