Auf 4chan will niemand mehr Alt-Right sein. Gerade hat ein deutscher Nutzer ein Bild gepostet, auf dem Milo Yiannopoulos, Redakteur des rechtsextremen Nachrichtenportals Breitbart, an einer ungeschälten Banane lutscht. „Milo sagt, die Alt-Right auf 4chan und Reddit hätte gar kein echtes Problem mit der Vermischung der Rassen, Homosexualität oder sogar multikulturellen Gesellschaften. Ist das wahr?“ fragt er.
„Nein“, antwortet einer, „und du kannst deiner Liste noch Juden hinzufügen.“
„Natürlich“, sagt ein anderer. „/pol/ hat kein Problem mit race mixing, solange der Bulle weiß ist.“
„Die rassenvermischende Judenschwuchtel soll für sich selbst sprechen“, antwortet der nächste.
Ein weiterer anonymer User stellt, weil Großbuchstaben allein nicht laut genug sind, jedes Wort in einen eigenen Absatz: „ES / GIBT / KEINE / ALT-RIGHT / AUF / 4CHAN.“
4chan ist ein Imageboard, eine einfache Internetseite, auf der Nutzer anonym Bilder austauschen und diskutieren. Es wurde 2003 von dem damals 15-jährigen New Yorker Christopher Poole gegründet und diente zunächst ausschließlich der Diskussion von Anime, japanischen Zeichentrickserien. Es gibt wenige Regeln und die Moderation ist locker. 4chan gilt als einer der kreativsten Orte im Netz, eine Art Ideen-Ursuppe, der Chimären entsteigen, scheußliche und geniale. Heute sind insgesamt 69 Unterforen, so genannte Boards, verschiedenen Themen gewidmet, etwa „Travel“, „Science&Math“ oder „Sexy Beautiful Women“.
„Politically Incorrect“, kurz /pol/, ist das umstrittenste unter ihnen. Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie – mitunter ironisiert, aber im Großen und Ganzen echt – gehören zum Grundrauschen des Boards. Gelegentlich finden sich seine Nutzer, die sich /pol/acks („/pol/acken“) nennen, zu gemeinsamen Aktionen zusammen. 2015 etwa schalteten sie Anzeigen auf Twitter, in denen sie Transsexuelle aufforderten, sich umzubringen – unter dem Namen einer unbeteiligten australischen Feministin. Noch vor einem Jahr war „Alt-Right“ auf diesem Board kein Schimpfwort. Aber seit die Medien es benutzen, fühlen sich die meisten mit diesem Label nicht mehr wohl.
Wo das Internet nach einer langen Nacht kotzen geht
„Alles, was einen Namen hat, kann angegriffen werden“, sagt John Doe. Er war etwa anderthalb Jahre lang in der Alt-Right-Szene aktiv, mit 16 und 17, zuerst auf den „Politically Incorrect“-Boards von 4chan und 8chan, einer ähnlichen, noch weniger regulierten Seite. Er belieferte r/The_Donald, ein Donald Trump gewidmetes Unterforum der Diskussionsplattform Reddit, mit neuen Inhalten und schrieb die Untertitel zum Anti-Flüchtlings-Propagandavideo „With Open Gates“. Er berichtete über Ereignisse in seiner Stadt. Einmal doxxte er jemanden, stellte dessen private Daten ins Internet. Im Sommer 2016 ist er ausgestiegen.
Natürlich heißt er nicht John Doe. Niemand, der noch lebt, heißt so. Aber seine ehemaligen Mitstreiter sind ziemlich gut im Aufspüren privater Daten. Und Ansichten wie die, die er eine Zeit lang vertreten hat, können einem in Deutschland „die Zukunft versauen“, sagt er.
Das populärste Board auf 4chan ist /b/, „Random“, „der Ort, an den das Internet nach einer langen Nacht geht, um zu kotzen“. Dort hielt sich meist auch John Doe auf, „um einen guten Thread zu erwischen, aber die sind selten“, außerdem auf /hr/, also „High Resolution“, für Natur- und Architektur-Fotos, und auf /g/, dort geht es um Technologie. „Irgendwann war ich mal auf /pol/“, erzählt John, „aufgrund der Flüchtlingskrise. Und dann habe ich das alles gesehen. Hauptsächlich Nachrichten zu Vergewaltigungen und so. Das waren die ersten Threads, die ich mir angeschaut habe. Ich hatte Angst, und diese Posts haben mir meine Ängste bestätigt.“
8chan (oder infinitechan) ist 4chans verwahrloster kleiner Bruder mit noch schlechteren Zähnen, der sich alles erlauben kann. Wen 4chan aussperrt, der findet hier ein Zuhause. Auf /suicide/ diskutieren Lebensmüde aus der ganzen Welt die besten Selbstmordmethoden. Ein „Politically Incorrect“-Board gibt es auch. Vom gleichnamigen 4chan-Board unterscheidet es sich kaum. In der Sprache der /pol/s heißt muslim „mudslime“, Nichtweiße werden „shitskins“ genannt, Homosexuelle gelten als „degenerate“. Der Holocaust heißt „hollowhoax“ und war erstens eine großartige Sache und ist zweitens nie passiert.
Wer nicht „based “ genug ist, also zum Beispiel politisch korrekte Sprache verwendet, gilt schnell als „cuck“. In seiner eigentlichen Bedeutung suggeriert der Ausdruck, dass der so Beschimpfte es genießt, seiner Frau beim Sex mit anderen Männern zuzusehen. Angewendet wird er auf Liberale und moderate Konservative gleichermaßen, vor allem auf weiße Männer, die sich für die Rechte einer gesellschaftlichen Gruppe einsetzen, zu der sie nicht gehören. Den meisten der /pol/-Nutzer gilt eine jüdische Weltverschwörung mit dem Ziel, die „weiße Rasse“ auszulöschen, als bewiesene Tatsache. Wie viele andere frequentierte John Doe beide Boards.
Im Juni 2015 entstand das Reddit-Unterforum r/TheDonald, ein kleines Forum für Diskussionen über die US-Präsidentschaftswahl aus einer Trump-Fan-Perspektive, das sich im Laufe eines Jahres zu einer autoritär geführten rechtsradikalen Community entwickelte, deren Slang und Standards des Sagbaren mehr und mehr an die /pol/s erinnerten. „TheDonald war /pol/s Außenposten auf Reddit“, erklärt John Doe. „Die Nutzer wurden mit Memes geködert und schluckten willig das ganze Propagandamaterial.“
Memes sind in diesem Zusammenhang Bilder, die politische Aussagen plakativ und humorvoll auf den Punkt bringen und ohne viel Aufwand immer wieder geteilt werden können. Über das Subreddit habe die Alt-Right schließlich Durchschnittsbürger erreicht. „Die nützlichen Idioten in ‘r/TheDonald’ haben ihren sozialen Status aufgegeben und für /pol/ gekämpft, sich auf Facebook blamiert und auf Twitter gehetzt.“ Während man auf den Imageboards und Reddit unerkannt unterwegs sein kann, outet man sich auf Twitter und Facebook gegebenenfalls vor Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern und potenziellen Arbeitgebern als rechtsextrem. Ohne r/TheDonald hätte man nicht so stark die Onlinediskussion dominieren können und die Alt-Right wäre ein Nischenmovement geblieben.“ Zahlen, die das belegen, gibt es nicht.
Er selbst war später auch auf Facebook aktiv, unter einem Pseudonym und mit Le Happy Merchant als Profilbild, einer weit verbreiteten antisemitischen Karikatur. „Ich war hauptsächlich auf englischsprachigen Seiten. Weil ich mir das Deutsch nicht gönnen wollte, das war mir zu dumm. Ich bin unter Nachrichtenposts gegangen und habe nach Leuten geguckt, bei denen man sich nicht sicher sein kann, welche Position die vertreten. Die habe ich dann geadded und ihnen verschiedene Links geschickt. ‘With Open Gates’, zum Beispiel. Ich habe sie mit Infografiken und vorgefertigten Textschnipseln zugemüllt und dann die Reaktionen beobachtet. Relativ häufig hatten die dann so einen WTF-Moment und haben mir versichert, dass sie auf Trumps Seite stehen.“
„Du hast also nach der Schule kostenlos Wahlkampfhilfe für einen amerikanischen Politiker geleistet?“ frage ich. „Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
Er habe es aus Hass getan, erklärt er auf Reddit. „Ich wollte die Welt brennen sehen, ich habe andere für meine psychischen Probleme verantwortlich gemacht und hatte Spaß am Manipulieren von Leuten.“ Bis Sommer 2016 war er wegen einer Depression in Therapie.
Dem Klischee des einsamen, ungebildeten Rechten aus der unteren Mittelschicht entspricht er nicht. Seiner Familie geht es finanziell gut, er selbst macht im Frühjahr Abitur und wird danach studieren. Seinen Lehrern gegenüber hat er die Ansichten, die er online anonym vertrat, nie geäußert. Überhaupt verhielt er sich offline grundsätzlich anders. „Wenn ich mal mit Flüchtlingen Kontakt hatte, waren die nett zu mir und ich war nett zu denen. Ich kann Leute nicht einfach beschimpfen oder anpöbeln, dafür bin ich nicht der Mensch. Ich habe ihnen geholfen, wenn sie mich etwas gefragt haben, und einmal haben wir zusammen was geraucht. Im echten Leben hatte ich nie Probleme mit Flüchtlingen.“
Mit Trumps Wahlkampfchef Bannon rückte Alt-Right in die Öffentlichkeit
Als im August 2016 Donald Trump den Leiter des Online-Magazins Breitbart, Stephen Bannon, zu seinem Wahlkampfchef ernannte, rückte der Begriff Alt-Right endgültig ins öffentliche Bewusstsein. Auf der Republikanischen Nationalversammlung erklärte Bannon, Breitbart sei „die Plattform der Alt-Right“. Dass die Zusammenarbeit mit Trump das Magazin veränderte, suggeriert eine Wortmeldung von Ben Shapiro, einem freien Mitarbeiter. „Andrew Breitbart [der verstorbene Gründer des Magazins] verachtete Rassismus“, schrieb er auf der konservativen Website Daily Wire. „Jetzt, wo Bannon Trump unterstützt, ist Breitbart zur Go-To-Website der Alt-Right geworden, auf der [Technik-Redakteur Milo] Yiannopoulos weißen Ethno-Nationalismus als legitime Antwort auf political correctness puscht, und die Kommentarspalten werden zur Jauchegrube für rassistische weiße Meme-Macher.“
Unter Bannons Leitung wurde das Magazin mit Headlines wie „Birth Control Makes Women Unattractive And Crazy“ oder „Would You Rather Your Child Had Feminism Or Cancer?“ auch zunehmend frauenfeindlicher. Bannon setzt auf Provokation. Im Juli 2015 erschoss ein rechtsradikaler Jugendlicher neun Mitglieder einer afroamerikanischen Gemeinde in einer historisch bedeutenden Kirche in Charleston, South Carolina. Auf vielen der Fotos, die daraufhin veröffentlicht wurden, posierte der Terrorist mit der Flagge der Konföderierten Staaten von Amerika. Nur zwei Wochen nach den Morden veröffentlichte Breitbart einen Artikel mit der Überschrift „Hoist It High And Proud: The Confederate Flag Proclaims A Glorious Heritage“. Einer Untersuchung des Investigative Fund zufolge folgten 31 Prozent der besonders einflussreichen Twitter-User, die den Hashtag #whitegenocide benutzten, dem Account von Breitbart – dreimal so viele wie vergleichbaren, gemäßigt konservativen Magazinen. Noch deutlicher fiel das Ergebnis für den anti-muslimischen Hashtag #counterjihad aus: 62 Prozent der besonders einflussreichen User, die diesen Hashtag verwendeten, folgten Breitbart.
Trump hatte schon vorher mit der Alt-Right geflirtet. So verwendete sein Wahlkampfteam ein Bild von Hillary Clinton vor einem Hintergrund von Dollarnoten neben einem Davidsstern, auf dem „Most Corrupt Candidate Ever!“ steht. Der Stern sei „nicht antisemitisch gemeint“ gewesen, verteidigte sich das Trump-Wahlkampfteam. Das Bild war eine Woche zuvor auf 8chan/pol aufgetaucht.
Alt-Right hat viele Ideologien, aber keine Anführer
Seitdem versuchen Medien und Parteien, die Alt-Right zu definieren, ihre Anführer und Absichten zu identifizieren. Das ist schwierig. Denn Alt-Right ist keine Gruppe, sie hat keine Mitglieder im klassischen Sinne und keine anerkannten Anführer. Es gibt einflussreiche Akteure, die von einem Teil der Alt-Right verehrt, von einem anderen Teil verachtet und von vielen einfach ignoriert werden. Auch ideologisch bestehen zwischen den vielen Strömungen und Individuen, die als Alt-Right agieren, mehr oder weniger große Unterschiede.
Den Begriff Alt-Right hat Richard Spencer geprägt, jener amerikanische Publizist, der im November auf einer Konferenz weißer Nationalisten in Washington D.C. eine Rede mit „Heil Trump! Heil unserem Volk! Sieg Heil!“ beendete, woraufhin seine Anhänger den Hitlergruß zeigten. 2010 meldete er die URL alternativeright.com an. Er leitet das „National Policy Institute“, eine Organisation, die sich mit „dem Erbe, der Identität und der Zukunft der Menschen europäischer Abstammung in den Vereinigten Staaten und überall auf der Welt“ befasst. Seine Forschung stützt sich auf die Rassenlehre des frühen 20. Jahrhunderts. Im Fokus vermeintlich genetisch bedingte Unterschiede zwischen „Rassen“, insbesondere hinsichtlich der Intelligenz, der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens. Gesellschaftliche Mechanismen, politische und historische Tatsachen werden ignoriert, „Reinrassigkeit“ als Ideal gesetzt.
„Weiß zu sein bedeutet, ein Eroberer zu sein, ein Kreuzritter, ein Entdecker“, sagte Spencer auf jener Konferenz, und: „Amerika war bis zur letzten Generation ein weißes Land, gestaltet für uns und unsere Nachfahren. Wir haben es erschaffen. Es ist unser Erbe. Es gehört uns.“ Die Intellektuellen um Spencer fühlen sich von der zunehmenden Sichtbarkeit schwarzer, hispanischer und asiatischer Bürger bedroht. So sehr, dass sie von „white genocide“ sprechen, Völkermord an den Weißen. Rassismus heißt in der Sprache der Alt-Right-Intellektuellen „human biodiversity“ oder auch „racial realism“.
Antifeministische Männerbewegung und klassische Neonazis
Ideologische Übereinstimmungen gibt es mit dem Dark Enlightenment, einer neoreaktionären Strömung, die sich gegen die Aufklärung und ihre Ideale wendet. Anhänger des Dark Enlightenment würden traditionelle Staatsformen wie Monarchie und Feudalismus jedem demokratischen System vorziehen und halten traditionelle Geschlechterrollen für eine genetisch bedingte Notwendigkeit. Auch Teile der Manosphere, einer antifeministischen Männerbewegung, zählen zur Alt-Right. Und dann sind da die 1488ers, klassische Neonazis, die das Dritte Reich als idealen Staat betrachten. Die 14 steht für „14 Words“, und zwar „We must secure the existence of our people and a future for White children.“ („Wir müssen die Existenz unseres Volkes und die Zukunft für die weißen Kinder sichern.“) Das Zitat wird dem US-amerikanischen Rechtsextremisten David Eden Lane zugeschrieben. „88“, das ist zweimal der achte Buchstabe des Alphabets, also „HH“ für „Heil Hitler“.
Das National Policy Institute sieht sich als wissenschaftliche Institution, das Dark Enlightenment versteht sich als akademische Gegenkultur. Andere Zentren rechtsradikalen Denkens, etwa The Right Stuff oder The Daily Stormer sind auf Spaß und Provokation ausgelegt und sprechen gezielt junge Leser an. „Meine Seite ist das Gegenteil von allem, was sie Kindern in der Schule erzählen“, sagt Mike Enoch, der Inhaber von The Right Stuff, in seinem Podcast „The Daily Shoah“. „Ein Drittel meiner Leser geht noch zur Schule. Manchmal fragen mich 14-Jährige, was sie wegen eines Mädchens machen sollen. Diese Kinder sind alt genug, um den nächsten Präsidenten zu wählen. Bis dahin müssen wir sie in Position bringen.“ Andrew Anglin, der Inhaber des spendenfinanzierten Daily Stormer, unterhält seine eigene Armee von Trollen, die er gelegentlich auf Personen des öffentlichen Interesses hetzt. Seine Leser vernetzen sich auch offline – in Buchclubs, hauptsächlich in den USA. Der einzige deutsche Club trifft sich in Garmisch. Diskussionssprache ist allerdings Englisch.
Alt-Right will gewinnen, um zu überleben
„Junge Leute fühlen sich nicht primär von der Ideologie der Alt-Right angezogen“, sagt Milo Yiannopoulos in seinem „Establishment Conservative’s Guide To The Alt-Right“. „Sie sind dabei, weil sie frisch, gewagt und witzig ist, während die Lehren ihrer Eltern und Großeltern langweilig, dogmatisch und übertrieben ernst erscheinen.“ Und weiter: „Sind sie tatsächlich Fanatiker? Nicht mehr, als Death-Metal-Fans in den Achtzigern tatsächlich Satanisten waren. Für sie ist es einfach ein Mittel, um ihre Großeltern aus der Fassung zu bringen.“
Andrew Anglin widerspricht ihm: „Die wahre Natur der Bewegung ist ernst und idealistisch. In einem Zeitalter der Nihilismus muss man absoluten Idealismus in Ironie verpacken, um ernst genommen zu werden. Denn jeder, der versucht, sich als ernsthaft darzustellen, erscheint durch die matte Linse der Postmoderne als das genaue Gegenteil.“ Das Ziel der Alt-Right sei es, sagt er, „eine stabile und selbsterhaltende Gegenkultur aufzubauen und sie schließlich zur dominanten Kultur zu machen, genau wie die von Juden geführte revolutionäre Gegenkultur der 1960er zur dominanten Kultur des Westens geworden ist.“ Anglin geht es „ums Überleben. Wir müssen gewinnen, egal wie, oder wir werden aufhören zu existieren.“
2015 twitterte Donald Trump ein Bild von sich selbst als Pepe der Frosch, ausgestattet mit allen Insignien des amerikanischen Präsidenten. „Gelobt sei Kek!“ jubelte die Alt-Right. Für viele war in diesem Moment klar, dass Trump tatsächlich Präsident werden würde – ins Amt beschworen durch Meme Magic. Meme Magic ist ein Amalgam aus Chaosmagie (eine okkulte Praxis, bei der nicht die Form oder das Ritual im Vordergrund steht, sondern der Wille, auf die Welt einzuwirken) und Propaganda. Es ist die Kunst, ein Symbol – in diesem Fall einen Frosch namens Pepe aus einem Comic von Matt Furie, der ursprünglich nichts mit all dem zu tun hatte – mit Bedeutung aufzuladen und in der Welt zu verbreiten, in der Hoffnung, das Leben möge die Kunst nachbilden.
Der Ausdruck kek hat seinen Ursprung im Koreanischen. Die Silbe ㅋ, die wie ein stimmhaftes k klingt, wird von koreanischen Internetnutzern ähnlich wie im westlichen Kulturkreis lol („laughing out loud“) benutzt. ㅋㅋㅋㅋ würde als „kekekeke“ transkribiert und als „hahahaha“ übersetzt. Bekannt wurde der Ausdruck durch das Online-Multiplayer-Rollenspiel World of Warcraft. Als Spieler kann man sich einer von zwei Fraktionen anschließen, der Allianz oder der Horde. Damit die Mitglieder der beiden verfeindeten Lager nicht miteinander chatten können, werden ihre Äußerungen von einem spielinternen „Übersetzer“ verzerrt. Gibt ein Mitglied der Horde „lol“ ein, etwa, um seiner Freude über einen Sieg Ausdruck zu verleihen, wird das einem Mitglied der Allianz als “kek” angezeigt. So fand kek Eingang in die Sprache der Chans.
Zufällig ist Kek auch der Name einer ägyptischen Gottheit des Chaos und der Finsternis. Kek tritt in ihrer weiblichen Form als Schlange, in ihrer männlichen Form als Frosch in Erscheinung. Der Cult of Kek ist eine Persiflage auf Religion: Seine Anhänger betrachten Pepe den Frosch als moderne Manifestation Keks und versuchen, politische Ereignisse und sogar das Wetter durch die Verbreitung von Memes zu beeinflussen.
Die Theologin Tara Isabella Burton nennt den Cult of Kek eine „Religion des Nihilismus“. „Was Religion zu Religion macht“, schreibt sie in ihrer Analyse „Apocalypse Whatever“, „sind die Bilder und die Rhetorik, die mit atavistischen und esoterischen Archetypen aufgeladen sind (Chaos; Ordnung; Kek; Frösche; ein „Gottkaiser“, um eine auf 4chan verbreitete Bezeichnung für Donald Trump zu verwenden), die sich viral verbreiten, weil sie in den Zeitgeist passen oder ein kulturelles Bedürfnis erfüllen.“ Religion funktioniere wie ein Wörterbuch, eine Sprache. „Aus dieser Perspektive ist es egal, ob Kek ‘wirklich’ ein Chaosgott ist. Auch Meme Magic ist als Zeichen kulturellen Einsatzes real.“
Alt-Righter haben oft viele verschiedene Social-Media-Accounts, die einander verstärken und bestätigen. Auf diese Weise sehen sie immer ein wenig zahlreicher, stärker und einiger aus, als sie tatsächlich sind. Je nachdem, was für Stimmen sie zu einem bestimmten Thema gerade brauchen, geben sie vor, Frauen oder Mädchen, „Social Justice Warriors“, Schwarze oder Muslime zu sein. Um einen Fake-Account als falsch zu erkennen, reicht es oft schon, das Profilbild zu googlen. Wenn es sich um ein Stockphoto oder ein anderes öffentlich verfügbares Bild handelt, und wenn eine Person außer diesem einen Facebook- oder Twitter-Account keine Spuren im Netz hinterlassen hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Fake-Account handelt, groß. Wer mit den Sprachmustern der verschiedenen Communities vertraut ist, wird selten Probleme haben, echte von falschen Accounts zu unterscheiden und mehrere miteinander vernetzte Accounts einer Person zuzuordnen.
Ja zu Hitler – Nein zu Merkel
Zu Deutschland hat die Alt-Right eine besondere Beziehung. Das Dritte Reich gilt vielen als der perfekte Staat. „Sie haben ein ganz utopisches Bild von Nazideutschland“, erklärt John Doe. „Zum Beispiel, dass es keinen Hunger gab im Krieg, dass das nur Lügen sind von den Juden.“ Umso mehr verabscheuen sie die liberale Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Das heutige Deutschland gilt als „Epizentrum der modernen Linken und cuckoldry“. „Das liegt auch daran, dass besonders die Amerikaner sehr wenig über Europa wissen“, sagt John Doe. „Ein paar von denen glauben wirklich, hier ist Bürgerkrieg.“
Während einige internationale Nutzer sich vorstellen können, „Mama Merkel in eine politische Katastrophe zu memen“, wirken die Deutschen auf /pol/ in dieser Hinsicht demotiviert. „Ich sehe kein Anzeichen dafür, dass die deutsche Bevölkerung die Welt mit ihrer Wahlentscheidung überraschen wird. Die große Mehrheit der Stimmen wird an die vier großen Parteien gehen. Die wirkliche Rechte wird nie an Fahrt gewinnen.“
Die AfD gilt bestenfalls als Notlösung. „Was denen fehlt“, meint John Doe, „ist ein vernünftiger, wählbarer Kandidat. In Wirklichkeit weiß /pol/, dass auch die AfD keinen Kandidaten hat. Sondern eben Björn Höcke, der versucht, Hitler-Reden nachzustellen und dabei massiv auf die Schnauze fällt.“
Ein 8chan-Board namens /deutschpol/, das so deutsch ist, dass man dort nicht in Threads postet, sondern in „Fäden“ „pfostiert“, versucht sich daran, Björn Höcke und Frauke Petry in Memes zu heroisieren und die AfD als Anime-Figur sympathisch zu machen.
Verbreitung finden die Memes kaum. /deutschpol/ ist klein, an einem durchschnittlichen Tag sind neunzig, vielleicht hundert Nutzer aktiv, und die Zeichen, die sie benutzen – Anime-Referenzen und Witze, die nur versteht, wer einige Zeit auf den Boards verbracht hat –, begreifen die meisten deutschen Wähler nicht. Parteiprogramme werden kaum diskutiert.
„Fehlerhafte Punkte im Parteiprogramm werden gerne ignoriert. Zur Sicherheit. Denn müsste man die AfD aufgeben, wären da nur noch die NPD und Die Rechte, und die sind ja ganz schlimm, selbst aus der Sicht von /deutschpol/.“ Die deutsche Rechte bewegt sich nicht auf Imageboards, sondern auf Facebook und Twitter.
Weiße Schwule sind pro Alt-Right, weil sie Angst vor Muslimen haben
John Doe investierte mehr und mehr Zeit in die Produktion von Memes und Infografiken, blieb immer länger auf den Imageboards. Allmählich fielen ihm dabei immer mehr Risse und Lücken im Gedankengebäude der Alt-Right auf. Die Bereitwilligkeit, mit der die Community schlecht gemachtes und offensichtlich unglaubwürdiges Propagandamaterial akzeptierte, solange es ihrem Weltbild entsprach, brachte ihn zum Lachen. Außerdem stellte er fest, dass für ihn selbst kein Platz in diesem Weltbild war. John Doe hat italienische Vorfahren. „Ich bin kein Arier. Südländer wie Griechen und Italiener wurden als etwas Niedrigeres gesehen. Hätte man so eine /pol/-Welt jetzt in echt, könnte man davon ausgehen, dass sie Bürger zweiter Klasse wären.“
Er zieht Parallelen zur Position der Homosexuellen in der Alt-Right: „Viele Schwule, überwiegend weiße Schwule, sprechen sich pro Alt-Right aus, weil sie Angst vor den Muslimen haben. Was sie nicht verstehen, ist, dass sie, wenn die Alt-Right ihr Programm jemals durchkriegen sollten, einfach nur die nächsten auf der Schlachtbank sind und eigentlich nur benutzt werden, um sich in der Öffentlichkeit gut darzustellen.“
Offline verliebte er sich im Frühjahr 2016 in ein Mädchen. Die Beziehung der beiden wäre für seine ehemaligen Mitstreiter Rassenschande. Den letzten Ausschlag gab ein Gespräch auf Facebook. „Ich habe mich mit einer amerikanischen Jüdin unterhalten. Hauptsächlich über Muslime, den Islam, über Leute, die nicht weiß sind. Sie hat mir zugehört. Als ich dann zugegeben habe, dass ich Antisemit bin, hat sie mich nach den Gründen gefragt, und als ich ihr die genannt habe, ist sie darauf eingegangen. Diese Person war sehr sympathisch. Ich habe ihr gesagt, was ich wirklich denke und sie hat mich nie verurteilt. Ich habe mir die ganzen Quellen noch einmal angeschaut und bin zu dem Schluss gekommen, dass das halt einfach nicht stimmt. So ein Gespräch ändert schon sehr viel. Ich konnte dann auch nicht weiter lügen.“ Im Juli ging John Doe auf kalten Entzug.
Diese Geschichte liefert erste Anhaltspunkte dafür, wie man Online-Propaganda entgegenwirken kann. Aber sagen wir zuerst, wie man es nicht macht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein Video, in dem eine Studentin der University of Massachusetts in einer Veranstaltung der umstrittenen Equity-Feministin Christina Hoff Sommers ihren Auftritt hat. Sie unterbricht den Vortrag mehrmals, skandiert „Keep your hate speech from the campus!“, aber auch „Free speech!“ und „Fuck you!“ und fuchtelt dabei mit den Armen. Sie hat eine ungewöhnliche Frisur und ist stark übergewichtig.
Das Video wurde ohne das Einverständnis der Demonstrantin auf YouTube gestellt und verbreitete sich viral, die junge Frau erhielt den Spitznamen Trigglypuff (ein Portmanteau aus „triggered“ und dem Namen des runden rosa Pokémon Jigglypuff) und hält seitdem im konservativen Netz als typisches Beispiel eines „Social Justice Warriors“ her. „Diese kognitive Dissonanz und dieses Ausrasten und dieses Fettsein“, sagt John Doe, „das alles zusammen erschafft einen Stereotypen der Linken, über den man sich lustig machen kann. Damit hat sie der Alt-Right super geholfen.“ Das Video ist unzählige Male kopiert, geteilt, neu geschnitten, mit Musik unterlegt und in Zeichentrick umgesetzt worden. „Selbst Leute, die links eingestellt sind oder im Zentrum sehen die und lachen sich über die kaputt.“
Empörung bietet Angriffsfläche. Sie bestätigt und belohnt Diskursteilnehmer, die ohnehin in erster Linie provozieren möchten. Die Veranstaltungsreihe, in der das Video aufgenommen wurde, hieß „The Triggering“. Das No Hate Speech Movement, eine Kampagne des Europarats, stellt Memes zur Verfügung, die verwendet werden sollen, um Hasskommentare im Netz zu kontern. Viele wirken auf dieselbe Weise unbeholfen wie Eltern, die versuchen, Jugendsprache zu verwenden. „Das ist lächerlich“, findet John Doe. „‘Hass ist keine Meinung’? So fängt man doch kein Gespräch an.“
Was funktionieren könnte? „Fragen stellen. Aber neutral formulierte Fragen. Nicht ‘Warum bist du so ein Nazi?’, sondern ‘Warum glaubst du, dass das so ist?’ Die Leute ernst nehmen. Jemand, der wirklich glaubt, dass er vom white genocide bedroht wird, fühlt sich nur bestätigt, wenn du ihm sagst, dass er sich das einbildet. Und dann halt versuchen, zu argumentieren.“ Mittlerweile kennt er die Diskussion von beiden Seiten. „Ich hatte vor einiger Zeit, als ich schon nicht mehr rechts war, auf Reddit ein Streitgespräch mit einem Typen von /pol/“, erzählt er, „und das war wie ein Chat mit meinem früheren Selbst.“
„Worum ging es?“ frage ich.
„Um die Kriminalitätsrate von Afroamerikanern in den US. Er hat mir Statistiken vom FBI gezeigt und es auf die Rasse geschoben. Ich habe ihm erklärt, wie die Grafik den Bericht falsch interpretiert. Dann bin ich auf die verschiedenen Probleme von Afroamerikanern eingegangen und habe ihm klar gemacht, dass ich die überproportionale Kriminalität von Afroamerikanern nicht verneine, aber keine Rassenlehre zur Erklärung nutze. Die Kriminalität habe ich dann mit Hoffnungslosigkeit, der ‘thug culture’ und Chancenlosigkeit in ärmeren Gebieten erklärt.“
„Wie hat er reagiert?“
„Das war ihm relativ egal. Er hat mich dann beschimpft, als kike oder shill. Aber ganz am Ende hat er zumindest zugegeben, dass die Infografik schlecht gemacht war.“
Glossar
(((echo brackets)))
Die Namen jüdischer oder vermeintlich von Juden beeinflusster Personen, Gruppen oder Institutionen kennzeichnen antisemitische Alt-Righter mit drei Klammern. Ins Leben gerufen wurde diese Praxis von der Redaktion des rechtsradikalen Blogs The Right Stuff.
based, adj.
Als based wird in der Alt-Right jemand beschrieben, der seine rechtsradikale Einstellung offen nach außen trägt, ohne auf eventuelle Konsequenzen zu achten.
blue pill, red pill
In „Die Matrix“, der Science-Fiction-Trilogie der Wachowskis, muss der Protagonist Neo zwischen zwei Pillen wählen: Nimmt er die blaue Pille, verbleibt er in der Matrix, der computergenerierten Illusion unserer Welt. Die rote Pille ermöglicht es ihm, aus der Matrix auszubrechen und konfrontiert ihn mit der harten Realität einer von Maschinen beherrschten Menschheit. Alt-Righter sehen sich als jene, die mit der roten Pille Erkenntnis vor Bequemlichkeit gewählt haben, während der Rest der Welt in einer linksliberal gefärbten Illusion lebt.
cuck
Von cuckold, va. engl. für „gehörnter Ehemann“; in der Fetischszene ein submissiver Mann, der es genießt, seiner Frau beim Sex mit anderen (oft: schwarzen) Männern zuzusehen. Alt-Righter benutzen den Begriff als Beleidigung für jeden, der ihren Maßstäben nach Schwäche zeigt.
Meme
Richard Dawkins prägte den Begriff Mem als kulturelles Gegenstück zum biologischen Begriff des Gens und definierte ein Mem als “eine Einheit kultureller Überlieferung”. Ein Mem ist also eine Sinneinheit (z. B. ein Gedanke, ein Verhalten, ein Stil), die sich selbst vervielfältigt und einer natürlichen Auslese unterliegt. Seit der Jahrtausendwende wird der Begriff auch – oftmals in seiner englischen Schreibweise Meme – für Internet-Phänomene verwendet, die sich in sozialen Medien verbreiten.
normie
Pejorativer Begriff für jemanden, der gesellschaftlichen Konventionen mühelos entspricht.
Pepe der Frosch
Pepe der Frosch ist eine Figur aus dem Comic „Boys Club“ des Zeichners Matt Furie. Furies Pepe ist ein unpolitischer Hedonist, der mit drei Freunden in einer Kiffer-WG lebt. Ein Panel, in dem Pepe, urinierend, sagt: „Feels good man“ („Fühlt sich gut an, Mann“) wurde auf den Imageboards 4chan und 8chan populär. Im Zuge des US-Wahlkampfs verwendeten rechtsradikale Internetnutzer die Figur immer häufiger in antisemitischen und rassistischen Kontexten. Im Herbst 2016 nahm die Anti-Defamation League den Frosch in ihre Datenbank der Hass-Symbole auf. Matt Furie drückte sein Entsetzen über die Entwicklung in diesem Comic aus.
shill
Ein Betrüger, der vorgibt, Teil des Publikums oder des Volkes zu sein, heimlich aber mit den Herrschenden zusammenarbeitet.
shitlord
Ursprünglich pejorative Bezeichnung für Nutzer, die als rassistisch, sexistisch, homophob oder auf andere Weise diskriminierend wahrgenommen werden, mittlerweile als Selbstbezeichnung übernommen.
shitposting
Das Veröffentlichen aggressiv schlechter, störender und beleidigender Inhalte mit dem Ziel der Provokation. Der ursprünglich pejorative Begriff wird unter Alt-Rightern neutral verwendet: Shitposting ist in diesem Zusammenhang eine Kulturtechnik.
Social Justice Warrior (SJW)
Bis Mitte des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts war dieser Begriff positiv besetzt und bezeichnete jemanden, der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Die Verwendung von “Social Justice Warrior” als Beleidigung wurde durch die Gamergate-Kontroverse populär. Die eigentliche Bedeutung des Begriffs hat sich kaum verändert.
trigger
Trigger sind Sinneswahrnehmungen, die traumatische Erinnerungen reaktivieren und so z. B. die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung verschärfen können. Blogs und Magazine, die sich mit Themen wie sexueller Gewalt, Krieg und psychischer Gesundheit auseinandersetzen, verwenden häufig Triggerwarnungen, damit Gefährdete selbst entscheiden können, ob sie sich dem Trigger zu diesem Zeitpunkt aussetzen möchten. Ob das sinnvoll ist, ist umstritten. Internet-Trolle “triggern” ihre Gesprächspartner absichtlich, um sich anschließend über ihre emotionale Reaktion lustig zu machen.
Aufmacher-Illustration: Sibylle Jazra für Krautreporter.