Im Sommer 2009 fiel ein bemerkenswerter Satz. „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen“, twitterte damals jemand. Gerichtet waren diese Worte an die Bundesregierung, die mit Netzsperren die Freiheit im Internet zu beschneiden drohte und damit den Widerstand von Zehntausenden provozierte. Die so genannte „Netzszene“ mitsamt ihrem politischen Arm Piratenpartei, sie wurde in diesem Sommer, in dem Meteorologen keine besondere Hitze verzeichnen konnten, geboren.
Ich musste kürzlich wieder an den Spruch denken. Er kam mir in den Sinn, nachdem ich Fabian Guzzo und Sergej Usov getroffen hatte. Fabian ist ein 27-jähriger Rheinländer, der an einer Kölner Volkshochschule unterrichtet. Im März hatte er aus einer spontanen Laune heraus zu einem „Speakers Corner“ auf Facebook eingeladen. Die Idee war, sich offline auszutauschen und nicht nur im Netz vollzuschreien. 5.000 Zusagen später wusste Fabian, dass er da an etwas dran war. Aus der Schnapsidee ist heute eine feste Veranstaltungsreihe in Köln geworden: „Köln spricht“. Sergej stieß später zur Initiative dazu; er studiert Elektrotechnik in Dortmund, ist in China aufgewachsen. Zusammen mit anderen bilden Fabian und Sergej heute ein kleines Team.
Kann ich noch neutral bleiben?
Ich hatte mich mit den beiden getroffen, um sie zu interviewen, ihre Idee vorzustellen und so zu zeigen, was man ganz konkret besser machen kann, wenn einen giftige, wenig konstruktive Online-Debatten nerven. Debattenkultur ist in meinen Augen der deutlichste Anzeiger für politische Kultur; und die geht augenscheinlich gerade den Bach runter. Das Thema beschäftigt mich zwar sehr, aber eigentlich hätte das ein ganz normaler Termin werden sollen. Fragen stellen, Notizen machen, Text schreiben. Fertig. Aber dann haben Fabian und Sergej mich am Ende unseres Treffens gefragt: „Rico, wir wollen solche Veranstaltungen auch in Berlin organisieren. Willst du mitmachen?“
Meine durch drei Kaffee bereits ordentlich lädierte Gelassenheit war mit dieser Frage völlig dahin. Denn ich bin Reporter; ich mache nirgendwo „einfach so mit“. Schon gar nicht, wenn meine Interviewpartner mir das vorschlagen. Es gibt schließlich Regeln: sich nicht gemein machen, auch nicht mit einer guten Sache.
Aber was,wenn die „gute Sache“ wirklich gut ist?
Während ich über die Frage nachdachte, erinnerte ich mich an den Tweet. Er klang damals wie eine spitzfindige Warnung, muss heute aber wie eine verdammt hellsichtiger Akt der Prophetie gelesen werden: Dem Tweet gelingt es prägnant, die Stimmung der vergangenen Monate einzufangen. Das „Wir-gegen-die“-Gefühl, Wut und Drohung, eine Spur Ironie. Aber vor allem die fast spontane Re-Politisierung der Gesellschaft: Demos auf den Straßen, Aktionen der politischen Kunst, Pegida, – und Renate Künast besucht Menschen, die ihr den Tod wünschen. Artikel, in denen die Politikverdrossenheit der Bürger beklagt wird, hat man hingegen schon länger nicht mehr gelesen. Der Begriff erscheint wie aus Zeit gefallen. Die Demokratie muss derzeit einiges aushalten, doch Politikverdrossenheit ist bisweilen ihr kleinstes Problem.
Wo stehe ich?
Die Gänsehaut meines Vaters hat mich politisiert
Ich denke, viele Menschen politisieren sich, weil sie wissen wollen, was um sie herum eigentlich los ist. Warum Geld für Bankenrettung da ist, aber nicht für die Renovierung der Schule nebenan? Wieso Kriege geführt werden, obwohl jeder weiß, dass sie die Dinge meistens nur schlimmer machen? Wieso Menschen hungern müssen und wir die Tomaten lastwagenweise wegwerfen. Sie suchen nach Ursachen.
Bei mir war das anders. Ich habe mich politisiert, mit einem Sonderheft der Zeitschrift Stern und der Gänsehaut meines Vaters. In dem Sonderheft waren die besten Fotos aus vielen Jahrzehnten abgedruckt. Ich weiß nicht, wie oft ich es durchgeblättert habe. Der Gesichtsausdruck des verletzten US-Soldaten im vietnamesischen Schlamm wird mich bis zu meinem Tod begleiten. Wenn ich die Zeitschrift in der Hand hielt, hielt ich Geschichte in der Hand. Und Geschichte, das war immer etwas Bedeutsames. Es beeinflusste das Leben von Millionen Menschen, auch mein Leben, das war mir schon früh klar. Geschichte hatte immer eine gewisse Magie für mich.
Wie sie gemacht wird, verstand ich durch meinen Vater. Er hat ein Gespür dafür, wann aus kleinen Momenten Großes werden könnte. Vielleicht liegt das daran, dass er als Ostdeutscher erlebt hat, wie eine kleine Fehlinformation eines eigentlich unbedeutenden Mannes eine 1.400 Kilometer lange Grenze verschwinden lassen kann. Wenn so ein Moment anstand, rief er mich zu sich, meistens vor den Fernseher: „Schau dir das an!“, sagte er. „Wahnsinn!“, bestätigte er sich selbst und hielt mir dann seinen Arm vors Gesicht: „Bekomme ich direkt Gänsehaut.“
Mein Vater bekommt Gänsehaut. Und Politik macht Geschichte. So einfach war es für mich. So schnell war ich politisiert.
Putzdienst mit den Wahlkampfreden Barack Obama im Ohr
Aber Politisierung besteht nicht nur aus Interessen, nicht nur daraus, „Dinge aus einem politischen Blickwinkel zu betrachten“, wie es im Wörterbuch heißt. Sie besteht auch daraus, etwas zu tun. Warum es wichtig ist, dass die Bürger in einer Demokratie, wörtlich „Volksherrschaft“, etwas Politisches tun, ist offensichtlich. Sie regieren schließlich.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie viel getan. Ich habe nach dem Abitur ganz kurz darüber nachgedacht, in eine Partei einzutreten, um etwas zu verändern, bin dann aber lange verreist. Als ich zurückkam, erschien mir ein deutscher Parteistammtisch wie der letzte Ort, an dem ich sein wollte.
Später habe ich beim Putzen meiner WG die Wahlkampfreden von Barack Obama gehört. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, war das die politischste Aktion, die ich je gemacht habe. Am Ende meines politikwissenschaftlichen Studiums stellten ein Freund und ich erschrocken, erstaunt, aber auch ein bissen gleichgültig fest, dass wir keine Meinung zum Einsatz der deutschen Armee in Afghanistan hatten. Drei Jahre lang hatte ich Politik studiert, und am Ende wusste ich nicht mehr, was richtig und was falsch war.
Auch meine Altersgenossen engagierten sich immer weniger. Egal, welche Studie oder Umfrage zum Thema politische Aktivität ich mir damals um 2010 anschaute: Der Trend zeigte nach unten. Shell Jugendstudie, Untersuchung der TU Dresden, ein Aufsatz der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nach unten. Mitgliedschaft in den großen politischen Parteien: nach unten.
Ich muss mich nun entscheiden
Und dann plötzlich ging es nach oben: Nicht in den Parteien und den Umfragen, aber auf der Straße. Anti-TTIP-Protest, die Mitarbeit in Flüchtlingsinitiativen, Demonstrationen für oder gegen die derzeitige Flüchtlingspolitik. Es drehte sich was. Meine Freunde halfen in Flüchtlingsheimen und gingen Montag für Montag zu Anti-Legida-Demonstrationen. Ständig höre ich von neuen Parteigründungen. Ich stehe daneben. Und bin doch irgendwie unpolitisch.
„Was wir bei ‚Köln spricht‘ machen, soll nicht nur eine weitere politische Veranstaltung sein“, sagte Fabian mir, bevor er mich gefragt hatte, ob ich mitmachen würde. „Wir wollen nicht nur einen politischen Diskurs führen, sondern politisieren!“ Paradoxerweise will „Köln spricht“ dieses Ziel erreichen, indem es seine Veranstaltungen mit Kultur und vermeintlich unpolitischen Themen durchmischt. Bei jeder Veranstaltung spielen zu Beginn lokale Musiker, Redebeiträge können sich auch um Essen oder Kunst oder Ähnliches drehen.
Es gebe zu viel „verstaubte, traditionelle Strukturen, die junge Menschen ausschließen“, sagt Fabian. Er selbst habe das bei der Linkspartei erlebt. „Diese Strukturen zielen nicht auf Teilhabe ab. In Parteien wird nicht gezeigt, wie man aktiv werden kann. Es gibt wenig Perspektiven. Man steht da irgendwie kontextleer im Raum.“ Insgesamt sieben Mal haben sie sich nun schon in Köln getroffen. Schätzungsweise 500 Menschen sind jedes Mal zu Gast.
Den Rhein hinauf, in Düsseldorf, haben sie das Konzept schon übernommen. Bald soll eine Crowdfunding-Kampagne Gelder zusammen bringen, um ein kleines Büro und eine Rundreise durch die Republik zu finanzieren. Deutschland soll sprechen. „Wir wollen zeigen, dass man in einer Diskussion auch etwas lernen kann“, sagt Fabian. Das ganze Land soll das sehen und sich treffen.
„Köln spricht“ folgt damit, bewusst oder nicht, den Empfehlungen von Wissenschaftlern: Wer Filterblasen wirkungsvoll zerplatzen lassen will, sollte den Offline-Austausch fördern. Dieser Schluss ergibt sich aus der aktuellen Forschung (und aus dem gesunden Menschenverstand). Um vorherzusagen, wen ein Mensch wählt – das haben Politikwissenschaftler gezeigt – ist es am besten, sich das Wahlverhalten derjenigen Menschen anzuschauen, die in der gleichen Gegend arbeiten und in den gleichen Läden einkaufen gehen. Besser als mit den Faktoren Alter, Geschlecht oder sozioökonomischen Status lassen sich so Prognosen über die politischen Ansichten eines Menschen treffen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir in der echten Welt fast nur von Menschen umgeben sind, die politisch genauso ticken wie wir. Begegnungen in der physischen Welt helfen den Menschen zu lernen, helfen, eine Einigung zu finden, sie fräsen sich tiefer ins Gedächtnis – sie sind, mit einem Wort, mächtiger als digitale Begegnungen. Diese Erkenntnis mag banal sein, aber in Zeiten der ständigen digital getriebenen Kommunikation ist sie nicht trivial.
Das Treffen mit Fabian und Sergej ist inzwischen zwei Wochen her. Bisher habe ich mich bei Ihnen noch nicht gemeldet und nichts geantwortet. Soll ich mitmachen und tun?
Ich rufe sie an. Und sage ja.
Barack Obama wird mich bald nicht mehr während des Putzens begleiten; irgendwann muss ich selbst mal etwas tun.
Redaktion: Esther Göbel; Produktion: Vera Fröhlich; Aufmacher-Foto: „Köln spricht”, eine Teilnehmerin hält eine Rede im Sommer 2016 in Köln.